Aktenzeichen 2 AZR 298/16
§ 1 Abs 3 KSchG
§ 17 Abs 1 S 1 Nr 2 KSchG
§ 17 Abs 2 S 1 Nr 1 KSchG
§ 17 Abs 2 S 2 KSchG
§ 17 Abs 3 KSchG
§ 18 KSchG
§ 20 KSchG
EGRL 59/98
Art 267 Abs 3 AEUV
§ 102 Abs 1 BetrVG
§ 21b BetrVG
§ 134 BGB
§ 613a Abs 4 S 1 BGB
Verfahrensgang
vorgehend ArbG Berlin, 6. August 2015, Az: 44 Ca 2312/15, Urteilvorgehend LArbG Berlin-Brandenburg, 26. Februar 2016, Az: 6 Sa 1581/15, Urteil
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 26. Februar 2016 – 6 Sa 1581/15 – aufgehoben, soweit darin festgestellt worden ist, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 27. Juni 2015 aufgelöst worden ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 6. August 2015 – 44 Ca 2312/15 – zurückgewiesen.
3. Im Übrigen ist die Beklagte des eingelegten Rechtsmittels der Revision verlustig.
4. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz haben die Klägerin 47 % und die Beklagte 53 % zu tragen. Die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens haben die Parteien je zur Hälfte zu tragen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten noch über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.
2
Die Klägerin (klagende Partei) war bei der Beklagten auf dem Flughafen T beschäftigt.
3
In der Vergangenheit hatte die G GmbH & Co. KG (GGB) sämtliche Vorfeld- und Passagedienstleistungen an den Flughäfen T und S erbracht. Im Zuge gesellschaftsrechtlicher Umorganisationen gliederte sie den Geschäftsbereich Passage aus. Die betreffenden Arbeitsverhältnisse gingen im Mai 2012 im Wege des Betriebsübergangs auf die Beklagte über. Diese spaltete ihren Betrieb im Jahr 2014 in die Betriebsteile T und S auf und übertrug den Bereich der Passagierabfertigung des Betriebsteils S auf eine neu gegründete Gesellschaft. Die Arbeitsverhältnisse der am Flughafen T beschäftigten Arbeitnehmer verblieben überwiegend bei der Beklagten, die zuletzt etwa 190 Arbeitnehmer beschäftigte.
4
Einzige Auftraggeberin sowie einzige Kommanditistin und in der Gesellschafterversammlung allein stimmberechtigte Gesellschafterin der Beklagten ist die GGB. Deren Kommanditanteile wurden von einem Unternehmen der sog. W-Gruppe gehalten.
5
Auf die Arbeitsverhältnisse mit der GGB fanden zunächst deren Vergütungstarifverträge Anwendung. Im September 2013 traten allgemeinverbindliche Tarifverträge für Bodenverkehrsdienstleistungen an Flughäfen in Berlin und Brandenburg in Kraft, die deutlich niedrigere Entgelte vorsahen. Für die von der GGB übernommenen Altbeschäftigten vereinbarte die Beklagte einen Überleitungstarifvertrag, der einen Ausgleich der Differenzvergütung über eine Besitzstandszulage vorsieht.
6
Im September 2014 kündigte die GGB sämtliche der Beklagten erteilten Aufträge spätestens zum 31. März 2015. Die Gesellschafterversammlung der Beklagten wies daraufhin den Geschäftsführer der Komplementärin an, alle zur Vorbereitung einer Betriebsstilllegung erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Die GGB vergab die gekündigten Aufträge, so sie weiter ausgeführt wurden, an andere, überwiegend der sog. W-Gruppe zugehörige Gesellschaften.
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Die Gesellschafterversammlung der Beklagten entschied am 20. Januar 2015, den Betrieb zum 31. März 2015 stillzulegen. Die Beklagte erklärte anschließend – nach Anhörung des Betriebsrats und Erstattung einer Massenentlassungsanzeige – im Januar und Februar 2015 die ordentliche Kündigung aller Arbeitsverhältnisse.
8
Nachdem mehrere Kammern des Arbeitsgerichts die Kündigungen dieser ersten „Welle“ unter Hinweis auf Mängel im Verfahren nach § 17 KSchG für nichtig erklärt hatten, beschloss die Beklagte, vorsorglich erneut Kündigungen auszusprechen. Sie unterrichtete den Betriebsrat mit einem durch Telefax übermittelten Schreiben vom 10. Juni 2015 gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG. Am 12. Juni 2015 leitete sie gegenüber dem Betriebsrat die Verfahren nach § 102 Abs. 1 BetrVG ein. Dabei teilte sie jeweils mit, dass es bei der Betriebsstilllegung verbleiben solle. Der Betriebsrat dankte mit Telefax vom 12. Juni 2015 für die Information nach § 17 Abs. 2 KSchG und unterbreitete am 17. Juni 2015 Vorschläge zur Vermeidung von Entlassungen. Hierzu erstellte die Beklagte eine Präsentation, auf deren Grundlage am 24. Juni 2015 Beratungen mit einer vom Betriebsrat entsandten „Verhandlungskommission“ stattfanden. Eine Einigung über die „Wiedereröffnung“ des Betriebs wurde nicht erzielt. Die Beklagte übermittelte der Betriebsratsvorsitzenden auf deren Wunsch noch am gleichen Tag die Präsentation und gab Gelegenheit, sich bis um 18:00 Uhr des Folgetags zu erklären. Die Betriebsratsvorsitzende erwiderte mit Schreiben vom 25. Juni 2015, das Gremium werde auf der Grundlage der Erörterungen in seiner nächster Sitzung am 30. Juni 2015 unverzüglich und abschließend Stellung nehmen. Die Mitglieder der Verhandlungskommission hätten nichts zu ergänzen und hofften, auf der Basis ihrer am Vortag geäußerten Informationswünsche, in einem neuen Termin „inhaltlich weiterzukommen“. Die Beklagte antwortete mit Schreiben vom 26. Juni 2015, sie sehe keine Grundlage für ernsthafte Gespräche über die Wiedereröffnung des Betriebs und habe sich deshalb entschlossen, die Kündigungen zu wiederholen. Am gleichen Tag reichte sie übereinstimmende Massenentlassungsanzeigen bei den Agenturen für Arbeit in C und B ein. Darin teilte sie mit, dass sich der „offizielle Betriebssitz“ in S befunden habe, während der überwiegende Teil der Arbeitnehmer vor der Betriebsstilllegung am Flughafen T beschäftigt gewesen sei. Nach einer internen Abstimmung der Agenturen für Arbeit traf diejenige in C die Entscheidung gemäß §§ 18, 20 KSchG.
9
Die Beklagte kündigte mit Schreiben vom 27. Juni 2015 das Arbeitsverhältnis der klagenden Partei zum 31. Januar 2016.
10
Die klagende Partei hat sich mit der vorliegenden Klage rechtzeitig gegen die streitbefangene Kündigung gewandt. Die Entscheidung, den Betrieb stillzulegen, sei rechtsmissbräuchlich gewesen. Die Stilllegung habe den von langer Hand geplanten Versuch dargestellt, sich der „teuren“ Altbeschäftigten zu entledigen. Die Aufträge der Fluggesellschaften seien lediglich innerhalb der „W-Gruppe“ verschoben worden. Der Kündigung sei weder eine korrekte Anhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG noch ein gesetzmäßiges Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG vorausgegangen.
11
Die klagende Partei hat – soweit noch von Interesse – sinngemäß beantragt
1.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 29. Januar 2015 aufgelöst worden ist;
2.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 27. Juni 2015 aufgelöst worden ist.
12
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
13
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der klagenden Partei hat das Landesarbeitsgericht den Kündigungsschutzanträgen stattgegeben. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte – nach Rücknahme des Rechtsmittels hinsichtlich des Kündigungsschutzantrags zu 1. – die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung bezüglich des Kündigungsschutzantrags zu 2.