Aktenzeichen 1 BvR 1991/09
Art 2 Abs 1 GG
§ 93c Abs 1 S 1 BVerfGG
§ 15 Abs 3 UrhG
§ 16 UrhG
§ 19a UrhG
§ 97 Abs 2 UrhG
§ 511 Abs 4 S 1 Nr 1 Alt 3 ZPO
Verfahrensgang
vorgehend AG Hamburg, 17. Juli 2009, Az: 36A C 60/09, Beschlussvorgehend AG Hamburg, 2. Juni 2009, Az: 36A C 60/09, Urteilnachgehend BVerfG, 26. Juli 2010, Az: 1 BvR 1991/09, Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren
Tenor
1. Das Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 2. Juni 2009 – 36A C 60/09 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht       aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird       an das Amtsgericht Hamburg zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 17. Juli 2009 – 36A C 60/09       – gegenstandslos.
2. …
Gründe
I.
1
                            Die Verfassungsbeschwerde betrifft einen Urheberrechtsstreit.
   
2
                            1. Die Beschwerdeführerin betreibt einen Onlinedienst, der eigenes Kartenmaterial öffentlich zugänglich macht und zur Lizenzierung
      anbietet. Bei Aufruf der Stadtpläne im Internet erfolgt ein Hinweis auf das Copyright der Beschwerdeführerin sowie unter anderem
      darauf, dass unrechtmäßige Nutzungen zivilrechtlich verfolgt werden. Die Beschwerdeführerin lässt ihre Rechte durch eine Drittfirma
      überwachen. Diese entdeckte auf einem Server für private Homepages mittels einer Google-Recherche durch Eingabe der Suchwortkombination
      … einen nicht lizenzierten Kartenausschnitt der Beschwerdeführerin.
   
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                            Im folgenden Abmahnverfahren gab der Beklagte des Ausgangsverfahrens eine strafbewehrte Unterlassungserklärung ab, verweigerte
      jedoch die Zahlung von Schadensersatz. Der Beklagte betreibt für seine Familie ein kennwortgeschütztes Intranet, welches durch
      Verlinkung eine Terminkalenderfunktion auf dem nicht kennwortgeschützten Homepage-Server einbindet. Auf diesen Server hatte
      die Tochter des Beklagten den Kartenausschnitt der Beschwerdeführerin hochgeladen. Das Material der Beschwerdeführerin konnte
      somit von nicht für das Intranet Berechtigten entweder mittels einer Suchmaschine oder direkt durch Eingabe der dorthin führenden
      URL aufgefunden werden.
   
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                            2. Die Beschwerdeführerin erhob daraufhin Klage zum Amtsgericht Hamburg mit dem Antrag, den Beklagten auf der Grundlage von
      § 97 Abs. 2 Urheberrechtsgesetz (UrhG) zur Zahlung von 570 € zu verurteilen. Das Amtsgericht entschied im Verfahren nach §
      495a ZPO mit dem angegriffenen Urteil auf Klageabweisung und ließ die Berufung nicht zu.
   
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                            Zur Begründung stützt sich das Amtsgericht darauf, das Hochladen der den Kartenausschnitt beinhaltenden pdf-Datei auf den
      Homepage-Server stelle im Streitfall kein öffentliches Zugänglichmachen im Sinne des § 19a UrhG dar. Hierfür sei erforderlich,
      so das Amtsgericht unter Hinweis auf Entscheidungen des Landgerichts Berlin und des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg,
      dass das urheberrechtlich geschützte Werk für die Internetnutzer und damit für die Öffentlichkeit mit Hilfe der üblichen Zugangswege
      auffindbar sei. Dies sei nicht der Fall, wenn das Werk nur rein zufällig von solchen Nutzern aufgespürt werden könne, die
      nicht dem Kreis der durch persönliche Beziehungen verbundenen Personen im Sinne des § 15 Abs. 3 UrhG angehören. Das Auffinden
      mittels Eingabe der genannten Suchworte in eine Suchmaschine oder mittels Eingabe der direkt zum Kartenausschnitt führenden
      URL sei kein üblicher Zugangsweg. Der übliche Zugangsweg zu diesem Kartenausschnitt sei durch Kennwortschutz für die Öffentlichkeit
      gesperrt gewesen.
   
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                            Auch hafte der Beklagte nicht für das Verhalten seiner Tochter, die den Kartenausschnitt durch das Hochladen gemäß § 16 UrhG
      vervielfältigt haben könnte. Denn der Beklagte sei mangels Kenntnis weder Teilnehmer der Tat der Tochter, noch komme nach
      den Grundsätzen der Störerhaftung ein Schadensersatzanspruch in Betracht. Dem Beklagten obliege nicht die präventive Kontrolle
      aller einzuspeichernden Inhalte.
   
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                            3. In ihrer Gehörsrüge warf die Beschwerdeführerin dem Amtsgericht das Übersehen oder Nichterfassen maßgeblicher Aspekte des
      Sachverhalts vor; insofern stellte sie auch Tatbestandsberichtigungsantrag. Darüber hinaus habe das Amtsgericht zu Unrecht
      einen Hinweis darauf unterlassen, dass es beabsichtigte, im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal des öffentlichen Zugänglichmachens
      von der Rechtsprechung des eigenen Landgerichts abzuweichen und einer ausschließlich von einer Kammer des Landgerichts Berlin
      vertretenen Mindermeinung zu folgen. Auch auf die beabsichtigte Nichtanwendung des § 16 UrhG hätte das Amtsgericht hinweisen
      müssen. Dann hätte die Beschwerdeführerin zu der von diversen Gerichten vertretenen herrschenden Meinung zu diesen Rechtsfragen
      ergänzend vortragen können. Entsprechende Rechtsprechungszitate habe die Beschwerdeführerin bereits vor Erlass des Urteils
      genannt. Der auch vom Amtsgericht zitierte Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg sei zudem sowohl vom Amtsgericht
      als auch vom Landgericht Berlin falsch verstanden worden.
   
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                            Schließlich liege eine Gehörsverletzung in der – vom Amtsgericht nicht begründeten – Nichtzulassung der Berufung. Insofern
      stellte die Beschwerdeführerin den Hilfsantrag, die Berufung nachträglich zuzulassen.
   
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                            Das Amtsgericht wies mit ebenfalls angegriffenem Beschluss – neben dem Tatbestandsberichtigungsantrag – die Gehörsrüge zurück.
      Ein fehlerhaftes Urteil stelle keine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör dar. Das Gericht müsse auch nicht das voraussichtliche
      Ergebnis in allen Einzelheiten vorab darstellen. Dies würde zu einem „Aufblähen“ der Akten führen, weil sich dann die voraussichtlich
      unterliegende Partei noch einmal umfangreich schriftsätzlich wehren würde.
   
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                            Zugleich wies das Amtsgericht den Antrag auf Berufungszulassung zurück, weil eine nachträgliche Zulassung nicht in Betracht
      komme.
   
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                            4. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20
      Abs. 3 GG sowie von Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.
   
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                            Das Amtsgericht weiche mit seiner Rechtsauffassung zum Begriff der öffentlichen Zugänglichmachung im Sinne von § 19a UrhG
      von der Rechtsprechung der übergeordneten Hamburger Gerichte sowie von der herrschenden Meinung ab, hinsichtlich der Störerhaftung
      von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Mit seiner Auffassung relativiere das Amtsgericht den Eigentumsschutz des Urhebers.
      Der allgemeine Justizgewähranspruch und das Verbot objektiver Willkür seien verletzt, weil das Amtsgericht, ohne dies zu begründen,
      die Berufung nicht zugelassen habe, obwohl es dies zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 511 Abs. 4 Satz 1 Nr.
      1 Alt. 3 ZPO) hätte tun müssen. Schließlich habe sich das Amtsgericht mit dem Kerngehalt des Parteivortrags nicht auseinandergesetzt
      und dies auch im Verfahren der Tatbestandsberichtigung und der Gehörsrüge nicht korrigiert. Außerdem habe es keine Hinweise
      auf die eigene abweichende Rechtsauffassung gegeben.
   
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                            5. Zu der Verfassungsbeschwerde hat der Präses der Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg Stellung genommen. Auch
      der Beklagte des Ausgangsverfahrens hatte Gelegenheit zur Äußerung.
   
II.
14
                            Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts
      der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
      Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen
      Fragen bereits entschieden (vgl. nur BVerfGE 74, 228 ; 96, 189 ; BVerfGK 11, 235 ; 12, 298 ).
      Die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.
   
15
                            1. Das angegriffene Urteil verstößt gegen die Rechtsschutzgarantie aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
   
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                            a) Das Gebot effektiven Rechtsschutzes, das für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleiten
      ist (vgl. BVerfGE 54, 277 ; 80, 103 ; 85, 337 ; stRspr), beeinflusst die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen,
      die für die Eröffnung eines Rechtswegs und die Beschreitung eines Instanzenzugs von Bedeutung sind. Hat der Gesetzgeber sich
      für die Eröffnung einer weiteren Instanz entschieden und sieht die betreffende Prozessordnung dementsprechend ein Rechtsmittel
      vor, so darf der Zugang dazu nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden
      (vgl. BVerfGE 69, 381 ; 74, 228 ; 77, 275 ). Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbar sind die den
      Zugang zum Rechtsmittel erschwerende Auslegung und Anwendung der einschlägigen zivilprozessualen Vorschriften dann, wenn sie
      sachlich nicht zu rechtfertigen sind, sich damit als objektiv willkürlich erweisen und dadurch den Zugang zur nächsten Instanz
      unzumutbar einschränken (vgl. zu § 522 Abs. 2 ZPO: BVerfGK 11, 235 ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats
      vom 4. November 2008 – 1 BvR 2587/06 -, NJW 2009, S. 572 ).
   
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                            b) Dies ist hier bei der (unterlassenen) Anwendung des § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Alt. 3 ZPO der Fall. Nach dieser Vorschrift
      lässt das Gericht des ersten Rechtszugs die Berufung zu, wenn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung
      des Berufungsgerichts erfordert. Damit soll ausweislich der Gesetzesmaterialien vermieden werden, dass im Zuständigkeitsbereich
      eines Berufungsgerichts schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung entstehen oder fortbestehen (vgl. BTDrucks 14/4722,
      S. 93, 104). Von solchen Unterschieden ist bei Abweichung von der Entscheidung eines höherrangigen Gerichts in einer entscheidungserheblichen
      Rechtsfrage insbesondere dann auszugehen, wenn die Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung ist, weil sie in einer Mehrzahl von
      Fällen auftreten kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Mai 2004 – 1 BvR 172/04 -, NJW 2004,
      S. 2584  m.w.N.). Die willkürliche Nichtzulassung der Berufung in solchen Fällen verletzt Grundrechte des im Ausgangsverfahren
      Unterliegenden (vgl. BVerfGK 12, 298 ; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Mai 2004, a.a.O.
      [jeweils: Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG]; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 21. Januar 2009 – 1 BvR
      2524/06 -, NVwZ 2009, S. 515 ; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 21. Dezember 2009 – 1 BvR 812/09 -, juris
      [jeweils: Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG im Verwaltungsrechtsstreit]; BVerfGK 2, 202  [Verletzung von Art. 101 Abs.
      1 Satz 2 GG durch willkürliche Nichtzulassung der Revision]; vgl. auch BerlVerfGH, Beschluss vom 1. April 2008 – VerfGH 203/06
      -, NJW 2008, S. 3420 [Verletzung der mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG übereinstimmenden Vorschrift der Landesverfassung]).
   
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                            Diese Rechtslage hat das Amtsgericht verkannt. Trotz Ausführungen der Beschwerdeführerin im Replikschriftsatz zur Rechtsprechung
      mehrerer Landgerichte zu § 19a UrhG hat sich das Amtsgericht einer hiervon abweichenden Auffassung einer Kammer des Landgerichts
      Berlin (Urteil vom 2. Oktober 2007 – 15 S 1/07 -, GRUR-RR 2008, S. 387) angeschlossen. Dabei hat es offensichtlich auch übersehen,
      dass das unmittelbar übergeordnete Landgericht Hamburg sich mit Urteil vom 17. April 2009 – 308 O 612/08 – (n.v.) ebenfalls
      ausdrücklich gegen die Meinung der Kammer des Landgerichts Berlin und für die herrschende Meinung entschieden hatte. Auch
      das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg hatte in seinem im einstweiligen Rechtsschutz ergangenen Beschluss vom 23. November
      2006 (- 5 W 168/06 -, ZUM 2007, S. 917 ), den das Amtsgericht selbst zitiert, festgehalten, urheberrechtlich geschützte
      Kartografien seien weiterhin öffentlich zugänglich, auch wenn die Gefahr einer rechtsverletzenden Nutzung oder Kenntnisnahme
      durch Dritte deswegen äußerst gering sei, weil die Kartografie im Zeitpunkt der Abmahnung nicht (mehr) in eine Homepage eingebunden
      gewesen sei. Letzteres schließt nach dieser Rechtsprechung die Dringlichkeit aus, also den Anordnungsgrund im Sinne von §
      935 ZPO, nicht jedoch den Tatbestand des § 19a UrhG (so jüngst noch einmal klarstellend Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg,
      Beschluss vom 8. Februar 2010 – 5 W 5/10 -, juris). Hinsichtlich der Hamburger Gerichte ist insoweit von einer ständigen Rechtsprechung
      auszugehen (vgl. noch Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Urteile vom 9. April 2008 – 5 U 151/07 -, BeckRS 2008, 21349,
      und – 5 U 124/07 -, GRUR-RR 2008, S. 383 ; ebenso jetzt auch LG Berlin, Urteil vom 30. März 2010 – 15 O 341/09 -, n.v.).
   
19
                            Es stand dem Amtsgericht frei, wie geschehen zu entscheiden; es hätte dann allerdings von Amts wegen die Berufung zulassen
      müssen. Die entscheidungserhebliche Rechtsfrage betrifft eine Vielzahl von Urheberrechtsstreitigkeiten der hier fraglichen
      Art, wie schon die von der Beschwerdeführerin teilweise bereits im Ausgangsverfahren zitierten Urteile in Parallelfällen zeigen.
   
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                            c) Es kann offen bleiben, ob die Berufung auch deswegen hätte zugelassen werden müssen, weil das Amtsgericht in der Frage
      der Störerhaftung des Beklagten eine nach Darstellung der Beschwerdeführerin von der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
      (vgl. BGHZ 180, 134) abweichende Position eingenommen hat.
   
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                            2. Nachdem das angegriffene Urteil jedenfalls die Rechtsschutzgarantie verletzt, bedürfen die weiteren von der Beschwerdeführerin
      erhobenen Rügen keiner Entscheidung.
   
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                            3. Das Urteil des Amtsgerichts ist hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Die Sache
      ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Der ebenfalls angegriffene Beschluss wird damit gegenstandslos.
   
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                            Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
   




