Familienrecht

Erlass einer einstweiligen Anordnung: Untersagung der Trennung eines Kindes von seinem nicht sorgeberechtigten Vater nach gerichtlicher Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts von der Kindesmutter auf einen Verfahrenspfleger

Aktenzeichen  1 BvR 2414/10

Datum:
30.9.2010
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Einstweilige Anordnung
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2010:rk20100930.1bvr241410
Normen:
Art 6 Abs 1 GG
Art 6 Abs 2 S 1 GG
§ 1626 Abs 2 S 1 BGB
§ 1631 Abs 1 BGB
§ 1666a Abs 1 S 1 BGB
§ 1666 Abs 3 Nr 6 BGB
§ 32 Abs 1 BVerfGG
Spruchkörper:
1. Senat 2. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend OLG Hamm, 13. August 2010, Az: II-7 WF 211/10, Beschlussvorgehend AG Soest, 19. Juli 2010, Az: 16 F 151/08, Beschlussnachgehend BVerfG, 2. Dezember 2010, Az: 1 BvR 2414/10, Stattgebender Kammerbeschluss

Tenor

Bis zur Entscheidung der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache, längstens bis zum 30. März 2011, wird das Verbleiben der Tochter L. bei dem Beschwerdeführer angeordnet.

Gründe

I.
1
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die vorläufige Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für seine Tochter von der
bislang allein sorgeberechtigten Mutter auf einen Pfleger, wodurch die Herausnahme des Kindes aus seinem Haushalt ermöglicht
werden soll.

2
1. a) Der Beschwerdeführer ist Vater der im Januar 1998 nichtehelich geborenen Tochter L. Das Sorgerecht stand der Kindesmutter
allein zu. Im Frühjahr 2008 verließ die Kindesmutter die bis dahin mit dem Beschwerdeführer und dem Kind gemeinsam bewohnte
Wohnung. Das Kind verblieb im Haushalt des Beschwerdeführers. Die Kindesmutter beantragte in der Folge bei dem Familiengericht
die Herausgabe des Kindes. Der Beschwerdeführer begehrte im Gegenzug eine Verbleibensanordnung und im späteren Verfahrensverlauf
die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf ihn.

3
Mitte Januar 2010 hörte der Familienrichter das Kind persönlich an. Es erklärte, bei dem Beschwerdeführer bleiben zu wollen.
Am 29. Juni 2010 fand ein weiterer Termin mit der gerichtlich bestellten Sachverständigen statt. Diese hatte zuvor Gespräche
mit der Kindesmutter und dem Kind geführt, während der Beschwerdeführer eine Mitwirkung verweigerte. Die Sachverständige erklärte,
dass eine Fremdunterbringung des Kindes wünschenswert sei. Das hiermit konfrontierte Kind erklärte, es wolle bei dem Beschwerdeführer
bleiben. Anschließend erörterte das Gericht mit den Beteiligten, dass eine sofortige Fremdunterbringung nicht veranlasst sei.
Es solle zunächst eine Absprache mit der Einrichtung und dem Jugendamt erfolgen. Mit dem Beschwerdeführer vereinbarte das
Gericht, dass er die Tochter, “wie gewohnt, zuverlässig zu Hause weiterhin versorgen werde”.

4
b) Mit angegriffenem Beschluss vom 19. Juli 2010 entzog das Amtsgericht der Kindesmutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht für
L. und übertrug es auf einen Pfleger. Zur Verhinderung weiterer Kindeswohlgefährdung sei es notwendig, das Kind zumindest
vorübergehend aus dem elterlichen Umfeld herauszunehmen.

5
Der Beschwerdeführer habe zwar Recht, wenn er darauf hinweise, dass es dem Kind an nichts mangle, es ausreichend zu Essen
und zu Trinken bei ihm bekomme und auch Obdach. Im Übrigen würde er alles tun, was das Kind von ihm verlange. Die Sachverständige
habe ihrerseits Recht, wenn sie darauf hinweise, dass es für das Kind eine Gefährdung seiner Entwicklung bedeute, wenn es
sich in diesem nunmehr kritischen Alter praktisch selbst erziehen müsse. Irgendeine Form einer Erziehung durch den Beschwerdeführer
sei derzeit nicht erkennbar und nicht absehbar. Die Sachverständige habe insoweit den Verdacht geäußert, bei dem Beschwerdeführer
könne eine Persönlichkeitsstörung vorliegen, die seine Erziehungsfähigkeit einschränken, wenn nicht sogar aufheben könne.
Bei der Kindesmutter liege zwar das Sorgerecht. Sie habe es aber in den zwei Jahren des Verfahrens nicht vermocht, dieses
für sich positiv umzusetzen und sich auch nicht zu einer vorübergehenden Fremdunterbringung des Kindes entschließen können.

6
Die Sachverständige habe in ihrem vorläufigen mündlichen Gutachten darauf hingewiesen, dass sie keine andere Möglichkeit mehr
sehe, als das Kind einem neutralen Umfeld zuzuführen. Dies solle jedenfalls für die Zeit der Ferien gelten. Sie sehe die dringende
Notwendigkeit, das Kind für eine vorübergehende Zeit aus dem Umfeld mit dem Beschwerdeführer herauszunehmen, um die notwendige
Diagnostik durchführen zu können. Dieser Einschätzung schließe sich das Gericht angesichts des Ablaufs des Verfahrens, des
von den Eltern und dem Kind gewonnenen Eindrucks sowie der Sachkunde der Sachverständigen an. Mildere Maßnahmen seien derzeit
angesichts der Verfahrenssituation nicht mehr möglich.

7
c) Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Beschwerdeführers wies das Oberlandesgericht mit angegriffenem Beschluss vom 13.
August 2010 zurück.

8
Es gebe durchaus aus dem Verfahrensgang folgende Hinweise, dass die Erziehungseignung des Beschwerdeführers deutlich eingeschränkt
sei mit der Folge einer Gefährdung des Kindeswohls. Dem stehe nicht entgegen, dass die äußere Versorgung nicht zu beanstanden
sei. Ebenso möge es sein, dass ein liebevolles Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter bestehe. Dies stehe
einer hier ernsthaft zu besorgenden Kindeswohlgefährdung durch fehlende Erziehung, die sich nicht in dem Aufstellen von Strukturen
erschöpfe, nicht entgegen. Angesichts dieser Kindeswohlgefährdung seien mildere Mittel als die Fremdunterbringung und damit
die Herausnahme aus dem väterlichen Haushalt nicht ersichtlich.

9
2. Der Beschwerdeführer, der mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG
durch die angegriffenen Beschlüsse rügt, begehrt, das einstweilige Verbleiben des Kindes in seinem Haushalt anzuordnen.

II.
10
1. Der Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

11
a) Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig
regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund
zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes
vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren, hier
also die Verfassungsbeschwerde, erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88,
185 ; 103, 41 ; stRspr). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn
die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen,
die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen
wäre (vgl. BVerfGE 88, 185 ; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem
verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab
anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 ; stRspr). Im Zuge der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung legt das Bundesverfassungsgericht
seiner Entscheidung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen
zugrunde (vgl. BVerfGE 34, 211 ; 36, 37 ). In Kindschaftssachen ist auch zu berücksichtigen, dass die Abwägung nicht
an einer Sanktion des Fehlverhaltens eines Elternteils, sondern vorrangig am Kindeswohl zu orientieren ist (vgl. BVerfG, Beschluss
der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Februar 2009 – 1 BvR 142/09 -, NJW-RR 2009, S. 721).

12
b) Die eingelegte Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

13
Insbesondere ist die Beschwerdebefugnis des Beschwerdeführers zu bejahen. Zwar haben die Fachgerichte mit den angegriffenen
Entscheidungen nicht dem Beschwerdeführer, sondern der allein sorgeberechtigten Kindesmutter vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht
entzogen. Der (Teil-)Sorgerechtsentzug erfolgte jedoch mit dem Ziel, eine Fremdunterbringung des Kindes und damit seine Trennung
von dem Beschwerdeführer zu ermöglichen. Insofern sind die angegriffenen Entscheidungen geeignet, den Beschwerdeführer selbst
in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zu verletzen.

14
Der Verfassungsbeschwerde steht auch nicht der Subsidiaritätsgrundsatz entgegen, weil die angegriffenen Entscheidungen im
einstweiligen Anordnungs-verfahren ergangen sind und eine Entscheidung in der Hauptsache noch aussteht. Der Grundsatz der
Subsidiarität fordert über das Gebot der Rechtswegerschöp-fung hinaus, dass der Beschwerdeführer die ihm zur Verfügung stehenden
weiteren Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erreichen oder diese gar
zu verhindern. Daher ist die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache geboten, wenn dort nach der Art des gerügten Grundrechtsverstoßes
die Gelegenheit besteht, der verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen (BVerfGE 104, 65 ; stRspr). Das ist dem Beschwerdeführer
vorliegend nicht möglich. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Fremdunterbringung seines Kindes, die gerade durch die
angegriffenen Eilentscheidungen ermöglicht werden soll. Er rügt damit eine Verfassungsverletzung durch die Entscheidungen
im vorläufigen Rechtsschutz selbst. Wäre sein Vorwurf einer Grundrechtsverletzung zutreffend, so könnte diese wegen der noch
vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens beabsichtigten Herausnahme des Kindes aus seinem Haushalt durch die Hauptsacheentscheidung
nicht mehr vollständig ausgeräumt werden.

15
c) Die demnach erforderliche Folgenabwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung.

16
Erginge die einstweilige Anordnung, so verbliebe das Kind – gemäß seinem eigenen Wunsch – bis zum Abschluss des Verfahrens
bei dem Beschwerdeführer in seiner vertrauten Umgebung, wo es nach den Feststellungen der Fachgerichte eine ausreichende Versorgung
erfährt. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als unbegründet, verzögerte sich die Aufnahme des Kindes in der
Jugendhilfeeinrichtung und damit der Ausgleich des von den Fachgerichten bei dem Beschwerdeführer angenommenen Erziehungsdefizits
um einen – allerdings überschaubaren – Zeitraum.

17
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, so würde das Kind gegen seinen Willen von dem Beschwerdeführer als Hauptbezugsperson
getrennt, aus seinem familiären Umfeld gerissen und in eine ihm fremde Heimeinrichtung verbracht. Dies wäre, wenngleich es
sich um eine heimatnahe Einrichtung handelt, so dass kein Schulwechsel erforderlich wäre, mit nicht unerheblichen Belastungen
für das zwölfjährige Kind verbunden. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als begründet, wäre ein nochmaliger
Aufenthaltswechsel des Kindes zurück zum Beschwerdeführer zu erwarten. Ein solcher mehrfacher Wechsel der unmittelbaren Bezugsperson
und des Wohnumfeldes beeinträchtigten das Kindeswohl aber in wesentlichem Maße.

18
Wägt man daher die Folgen gegeneinander ab, so wiegen die Nachteile, die dem Kind im Falle des Erlasses der einstweiligen
Anordnung drohen, weniger schwer als die Nachteile, die dem Kind und dem Beschwerdeführer im Falle der Versagung des Erlasses
der einstweiligen Anordnung entstehen könnten.

19
2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.

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