Strafrecht

Nichtannahmebeschluss: Keine Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art 3 Abs 1, 20 Abs 1, 20 Abs 3 GG) bei Versagung von Beratungshilfe unter Verweisung auf zumutbare Selbsthilfe – hier: Zumutbarkeit der Verweisung an die Behörde zwecks Sachverhaltsaufklärung

Aktenzeichen  1 BvR 2681/09

Datum:
15.7.2010
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Nichtannahmebeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2010:rk20100715.1bvr268109
Normen:
Art 20 Abs 1 GG
Art 20 Abs 3 GG
Art 3 Abs 1 GG
§ 1 Abs 1 Nr 3 BeratHiG
Spruchkörper:
1. Senat 3. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend AG Lichtenberg, 7. August 2009, Az: 170a II 1614/09, Beschluss

Gründe

1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Beratungshilfe nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für
Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz – BerHG).

I.
2
Die Beschwerdeführerin erhielt im Mai 2009 eine Vollstreckungsankündigung des Hauptzollamts unter Bezugnahme auf einen Bescheid
der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2005 und auf Leistungen, die im Jahr 2009 fällig geworden seien. Da sie nach Prüfung
ihrer Unterlagen keinerlei Anhaltspunkte dafür habe finden können, welche Forderungen aus welchen Gründen bei ihr vollstreckt
werden sollten, wandte sich die Beschwerdeführerin an das Amtsgericht und beantragte Beratungshilfe.

3
Der Rechtspfleger wies den Antrag als mutwillig zurück. Die Antragstellerin habe die Herkunft der Forderung nicht erklären
können und auf die Klärung durch den Anwalt verwiesen. Sie habe weder beim Hauptzollamt noch beim JobCenter nachgefragt.

4
Mit der Erinnerung wies die Beschwerdeführerin darauf hin, dass die personelle Einrichtung des JobCenters eine angemessene
Beratung ausschließe. Eine telefonische Erklärung durch das Hauptzollamt sei nicht zu erwarten gewesen. Es sei auch die Dringlichkeit
der Lage zu bedenken gewesen.

5
Nachdem der Rechtspfleger der Erinnerung nicht abgeholfen hatte, wurde sie mit richterlichem Beschluss zurückgewiesen, weil
die Wahrnehmung der Rechte im vorliegenden Fall mutwillig im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG sei. Der Rechtspfleger habe
insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass der Antragstellerin vor der Einholung anwaltlicher Hilfe zunächst die zumutbare
Eigeninitiative abzuverlangen sei, die auch ein durchschnittlicher Rechtssuchender aufbringen würde, der die Kosten der anwaltlichen
Tätigkeit selbst tragen müsse. Angesichts des Hinweises der Antragstellerin, dass der der Vollstreckung zugrundeliegende Verwaltungsakt
aus dem Jahr 2005 offensichtlich fehlerhaft sei, weil er Forderungen des Jahres 2009 beinhalte, dürfe von ihr verlangt werden,
dass sie zunächst beim JobCenter vorspreche, um die Aufhebung dieses – wenn auch bestandkräftigen – Titels zu erreichen und
somit die Grundlage der Vollstreckung zu beseitigen. In Entscheidungen über eine Gegenvorstellung und eine Anhörungsrüge der
Beschwerdeführerin wurde diese Auffassung bestätigt.

6
Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit
(Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG). Allein der Druck der bevorstehenden Zwangsvollstreckung sei so stark,
dass sich ein bemittelter Rechtsuchender an einen Rechtsanwalt gewandt hätte. Die Beschwerdeführerin, die nur über eine einfache
Schulbildung verfüge, sei existentiell betroffen.

II.
7
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor.

8
Die Rechtswahrnehmungsgleichheit fordert eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich
des gerichtlichen wie außergerichtlichen Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 122, 39 ; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des
Ersten Senats vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08 -, NJW 2009, S. 3417). Dabei ist der Unbemittelte einem solchen Bemittelten
gleichzustellen, der bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten
berücksichtigt und vernünftig abwägt (vgl. BVerfGE 81, 347 ; 122, 39 ; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten
Senats vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08 -, NJW 2009, S. 3417). Ein kostenbewusster Rechtsuchender wird dabei insbesondere
prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Verfahrensrechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist.

9
Bei der Auslegung des Beratungshilfegesetzes und insbesondere des Merkmals der Mutwilligkeit (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG) hat
das Amtsgericht eine Abwägung im Einzelfall zu treffen. Das Bundesverfassungsgericht kann die Wertung des Amtsgerichts nur
daraufhin überprüfen, ob es die Bedeutung oder Reichweite der Rechtswahrnehmungsgleichheit verkannt hat. Dabei ist von dem
Vortrag auszugehen, der der Entscheidung des Amtsgerichts zugrunde lag.

10
Anders als der pauschale Verweis auf die Beratungspflicht der Behörde im Widerspruchsverfahren (vgl. BVerfG, NJW 2009, S.
3417) überschreitet die Wertung des hier vorliegenden richterlichen Beschlusses, wonach zunächst Eigeninitiative der Beschwerdeführerin
erwartet werden könne, die Grenzen der Rechtswahrnehmungsgleichheit nicht. Soweit die Beschwerdeführerin den Bescheid, auf
den sich die Vollstreckungsankündigung bezog, noch nicht einmal kannte, lässt dies entweder auf Nachlässigkeit in eigenen
Angelegenheiten oder auf ein offensichtliches Versehen der Behörde schließen. Es darf in einer solchen Situation von einer
Rechtsuchenden erwartet werden, durch eine Nachfrage bei der Behörde den Sachverhalt zumindest in groben Zügen zunächst selbst
aufzuklären.

11
Zu einer zumutbaren Eigeninitiative gehört hier der Versuch, sich die wesentlichen Unterlagen zu beschaffen und bei der Behörde
nach der Existenz des Bescheids zu fragen. Es ist nicht ersichtlich, dass diese Schritte von der Beschwerdeführerin unternommen
wurden. Ein bemittelter kostenbewusster Rechtsuchender würde einen Rechtsanwalt nicht bereits zu einer derartigen Geschäftsbesorgung,
sondern erst zur Klärung von Rechtsfragen beauftragen.

12
Soweit sich die Beschwerdeführerin auf den Druck der bevorstehenden Zwangsvollstreckung beruft, so ist damit noch nicht hinreichend
erklärt, warum eine Nachfrage bei der Behörde zum Sachverhalt nicht in Frage käme.

13
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

14
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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