Aktenzeichen 1 BvR 3425/08
Art 3 Abs 1 GG
§ 93c Abs 1 S 1 BVerfGG
§ 9 KAG BW 2005
Verfahrensgang
vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 27. November 2008, Az: 2 S 3079/08, Beschlussvorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 30. Oktober 2008, Az: 2 S 2445/08, Beschlussvorgehend VG Freiburg (Breisgau), 2. Juli 2008, Az: 5 K 1092/08, Urteil
Tenor
1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 2. Juli 2008 – 5 K 1092/08 – verstößt gegen Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
2. Damit werden die Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 30. Oktober 2008 – 2 S 2445/08 – und vom 27. November 2008 – 2 S 3079/08 – gegenstandslos.
3. …
Gründe
1
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Besteuerung von Geldspielautomaten durch eine nach der Zahl der aufgestellten
Automaten (Stückzahlmaßstab) bemessene Vergnügungsteuer.
I.
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1. Der Beschwerdeführer ist Inhaber einer Firma, die Spielautomaten in Spielhallen aufstellt und dort betreibt. In der Stadt
L. betrieb der Beschwerdeführer in den streitigen Veranlagungszeiträumen 2005 und 2006 in zwei Spielhallen Geldgewinnspielgeräte.
Seit 1982 galt für das Gebiet der Stadt L. eine Satzung über die Erhebung einer Vergnügungsteuer. Steuerpflichtige Vergnügungen
waren unter anderem das Bereitstellen von Spielautomaten (§ 2 Nr. 4 Vergnügungsteuersatzung in der für das Ausgangsverfahren
maßgeblichen Fassung). Die Steuer für den Betrieb von Geldgewinnspielgeräten wurde als Pauschsteuer nach einem festen Satz
je Spielgerät und Monat vom Unternehmer der Veranstaltung erhoben (§§ 3, 5 Vergnügungsteuersatzung).
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Die Stadt setzte mit den angegriffenen Bescheiden gegen den Beschwerdeführer zuletzt Vergnügungsteuer für das Jahr 2005 in
Höhe von 33.990 € und für das Jahr 2006 in Höhe von 25.935 € fest. Sein Widerspruch blieb erfolglos.
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Am 26. November 2007 beschloss der Rat der Stadt L. ab dem Veranlagungszeitraum 2008 eine neue Vergnügungsteuersatzung, die
die Erhebung der Steuer nach einem Prozentsatz der Einspielergebnisse vorsah.
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2. Mit seiner zum Verwaltungsgericht erhobenen Klage versuchte der Beschwerdeführer durch Vorlage entsprechender Zählwerksausdrucke
nachzuweisen, dass für die Veranlagungszeiträume 2005 und 2006 die Einspielergebnisse der in der Stadt L. aufgestellten Spielgeräte
die nach der damaligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung für einen Wahrscheinlichkeitsmaßstab noch zulässige Schwankungsbreite
überschritten hätten.
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Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab, weil die behauptete Rechtswidrigkeit des Stückzahlmaßstabs mangels hinreichend verlässlicher
Datengrundlage über die Einspielergebnisse der Jahre 2005 und 2006 nicht festgestellt werden könne. Das gehe zu Lasten des
Beschwerdeführers.
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Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg lehnte die Zulassung der Berufung ab. Die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers
blieb ebenfalls erfolglos.
II.
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1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 19 Abs. 4, Art. 12 Abs.
1, Art. 3 Abs. 1 GG.
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Der Verwaltungsgerichtshof habe unzumutbar hohe Anforderungen an die Darlegungspflicht in dem auf Zulassung der Berufung gerichteten
Verfahren gestellt. Die vorhandenen Daten seien ausreichend gewesen, um die Steuersatzung zu überprüfen und festzustellen,
dass die zulässige Schwankungsbreite überschritten worden und das Urteil des Verwaltungsgerichts damit falsch sei. Unzutreffend
sei es auch gewesen, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts auf Beweislastgrundsätze zu stützen. Die Steuererhebung nach
dem Stückzahlmaßstab verletzte die Berufsfreiheit und den Gleichheitssatz. Durch technische Neuerungen bei den Geldspielgeräten
sei seit 1997 der Ansatz eines Wirklichkeitsmaßstabs möglich. Die Stadt L. habe diesen Maßstab jedoch erst verspätet zum Jahr
2008 eingeführt.
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2. Das Land Baden-Württemberg und die Beteiligten des Ausgangsverfahrens haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
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Hinsichtlich der Rüge der Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG durch den Stückzahlmaßstab räumt die Stadt L. in ihrer Stellungnahme
ein, dass das Bundesverfassungsgericht durch Beschluss vom 4. Februar 2009 (BVerfGE 123, 1) eine Besteuerung nach diesem Maßstab
generell als untauglich und damit unzulässig erachte. Wenn dies auf den Streitfall übertragen werde, bedeute es jedoch nicht
zwingend die Annahme der Nichtigkeit der Steuersatzung. Für eine Übergangszeit könnte auch hier – bis zum Inkrafttreten der
auf den Wirklichkeitsmaßstab beruhenden Steuersatzung zum 1. Januar 2008 – die Weitergeltung des Stückzahlmaßstabs als zulässig
erachtet werden. Wenn unter den gegebenen Verhältnissen nach der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts schon
ein Gesetz im formellen Sinn trotz Verfassungswidrigkeit für einen begrenzten Zeitraum seine Wirksamkeit nicht einbüße, so
könne dies auch für untergesetzliche Rechtsnormen, denen kein so großes Wirkungsspektrum wie einem Gesetz im formellen Sinne
zukomme, gelten.
III.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihr statt.
Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche Frage zur Verfassungsmäßigkeit des Stückzahlmaßstabs bei Erhebung
einer Vergnügungsteuer auf den Betrieb von Gewinnspielautomaten ist entschieden (vgl. BVerfGE 123, 1); die Verfassungsbeschwerde
ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
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1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf gleichheitsgerechte Besteuerung,
denn es bestätigt die angegriffenen Steuerbescheide, die auf einer gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßenden Vergnügungsteuersatzung
der Stadt L. beruhen.
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Der in dieser Satzung für die Bemessung der Vergnügungsteuer herangezogene Stückzahlmaßstab führt zu einer ungleichen Belastung
der Automatenaufsteller, weil er, unabhängig davon, wie stark im konkreten Fall die Einspielergebnisse der einzelnen Geräte
voneinander abweichen, strukturell ungeeignet ist, den notwendigen Bezug zum Vergnügungsaufwand der Spieler zu gewährleisten
(vgl. BVerfGE 123, 1 ). Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 4. Februar 2009 vor dem Hintergrund
der derzeitigen Gegebenheiten des Spielgerätemarktes allgemein zur Vergnügungsteuer entschieden, unabhängig von den Besonderheiten
der Rechts- oder Tatsachenlage in Hamburg, dessen Spielgerätesteuergesetz in jenem Verfahren zur Überprüfung stand (vgl. BVerfGE
123, 1 ).
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Auf die im Zentrum der angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen stehenden Fragen, unter welchen Voraussetzungen
eine nach Maßgabe der damaligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung übergroße Schwankungsbreite der Einspielergebnisse
der Gewinnspielautomaten festgestellt ist und wer die Darlegungs- und Beweislast hierfür trägt, kommt es auf der Grundlage
des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Februar 2009 nicht mehr an.
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2. Der festgestellte Verfassungsverstoß führt zur Aufhebung des auf der verfassungswidrigen Vergnügungsteuersatzung beruhenden
verwaltungsgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Das Verwaltungsgericht
wird nach dem insoweit zunächst maßgeblichen einfachen Recht darüber zu befinden haben, ob der Verstoß der Vergnügungsteuersatzung
gegen höherrangiges Recht zur Regelfolge ihrer Unwirksamkeit und damit zur Aufhebung der angegriffenen Bescheide führt, oder
ob – wie die Stadt L. geltend macht – die Satzung wegen besonderer Umstände ausnahmsweise für eine gewisse Übergangszeit anwendbar
bleibt (vgl. dazu für den Fall der Normenkontrolle BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2010 – BVerwG 9 CN 1.09 – juris Rn. 29 unter
Hinweis auf die “Heilungsmöglichkeiten” des Satzungsgebers, bestätigt durch Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 3. September 2009 – 1 BvR 2384/08 -, NVwZ 2010, 313).
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Damit werden die Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg gegenstandslos.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
20
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.