Aktenzeichen 2 BvC 11/10
Art 38 Abs 1 S 1 GG
§ 48 Abs 1 Alt 2 BVerfGG
§ 90 BVerfGG
§ 93 Abs 2 BVerfGG
§ 93 Abs 3 BVerfGG
§ 5 Abs 2 S 1 WStatG
Gründe
I.
1
                            Die Wahlprüfungsbeschwerde ist bereits deshalb unzulässig, weil sie ohne den gemäß § 48 Abs. 1 BVerfGG erforderlichen Beitritt
      von mindestens 100 Wahlberechtigten innerhalb der Beschwerdefrist erhoben wurde (1.). Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
      zur Nachreichung von Beitrittserklärungen kann nicht gewährt werden (2.).
   
2
                            1. Nach § 48 Abs. 1 BVerfGG kann ein Wahlberechtigter, dessen Einspruch vom Deutschen Bundestag verworfen worden ist, Beschwerde
      gegen die Gültigkeit der Wahl nur dann erheben, wenn ihm mindestens 100 Wahlberechtigte beitreten; die Beschwerde ist binnen
      einer Frist von zwei Monaten nach Beschlussfassung des Deutschen Bundestages beim Bundesverfassungsgericht zu erheben und
      innerhalb dieser Frist zu begründen.
   
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                            Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der vom Gesetz geforderte Beitritt weiterer
      100 Wahlberechtigter innerhalb der Beschwerdefrist erklärt sein muss (BVerfGE 1, 430 ; 21, 359 ; 46, 201 ;
      58, 170 ; 66, 232 ; 311 ; 79, 47 ; zu der entsprechenden Regelung des § 26 Abs. 3 Satz 2 Europawahlgesetz
      vgl. BVerfG, Beschlüsse des Zweiten Senats vom 31. Mai 2005 – 2 BvC 1/05 – und vom 18. Oktober 2010 – 2 BvC 3/10 -, juris).
      Eine Verlängerung der Frist ist nicht möglich (BVerfGE 58, 172). Die strenge Fristgebundenheit folgt aus dem Zweck der Vorschrift.
      Sie soll Beschwerden beschränken auf solche Fälle, die nach Ansicht wenigstens einer gewissen Zahl Wahlberechtigter Grund
      zur Beschwerde geben. Der Beitritt darf deshalb kein formaler sein; er könnte es aber werden, wenn Zustimmungserklärungen
      noch nachträglich gesammelt und nachgereicht werden dürften (BVerfGE 58, 170 ). Die Notwendigkeit des Beitritts von 100
      Wahlberechtigten ist im Hinblick darauf unbedenklich, dass das Wahlprüfungsverfahren primär dem Schutz des objektiven Wahlrechts
      dient (vgl. BVerfGE 34, 81 ; 79, 47 ).
   
4
                            Die Beschwerde gibt keinen Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, dass bei
      einer subjektiven Rechtsverletzung mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG von dem Beitrittserfordernis abgesehen werden müsse, ist
      nicht geeignet, die Anwendbarkeit von § 48 Abs. 1 BVerfGG auf ihre Wahlprüfungsbeschwerde in Zweifel zu ziehen. Die Beschwerdeführerin
      legt schon nicht dar, dass sie durch die Verwendung der gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 des Wahlstatistikgesetzes gekennzeichneten
      Stimmzettel oder die zeitgleiche Durchführung der Bundestagswahl mit anderen Wahlen in subjektiven Wahlrechten verletzt sein
      könnte. Insbesondere zeigt sie nicht ansatzweise auf, dass und weshalb die durch Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Grundsätze
      der freien (vgl. BVerfGE 124, 1 ; m.w.N.) und geheimen (vgl. BVerfGE 123, 39 ; 124, 1 ) Wahl durch die Durchführung
      der repräsentativen Wahlstatistik beeinträchtigt sein könnten. Dessen hätte es bedurft, da Art. 19 Abs. 4 GG dem gesetzlichen
      Verlangen nach Beitritt zu einem Rechtsbehelf von vornherein nicht entgegenstehen kann, wenn eine Betroffenheit in subjektiven
      Rechten nicht vorliegt (vgl. BVerfGE 1, 430 ).
   
5
                            Da vorliegend bis zum Ablauf der Beschwerdefrist am 8. September 2010 keine Beitrittserklärungen eingegangen sind, ist dem
      in § 48 Abs. 1 BVerfGG enthaltenen Zulässigkeitserfordernis (vgl. BVerfGE 66, 311 ) nicht genügt.
   
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                            2. Der Beschwerdeführerin kann auch hinsichtlich der fehlenden Beitrittserklärungen keine Wiedereinsetzung in die versäumte
      Beschwerdefrist gewährt werden.
   
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                            Eine Regelung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand besteht für das Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde nicht. Eine
      analoge Anwendung des § 93 Abs. 2 BVerfGG scheidet wegen des Zwecks der in § 48 Abs. 1 BVerfGG normierten zweimonatigen Beschwerdefrist
      aus. Denn sie ist eine Ausschlussfrist, bei deren Versäumnis im Hinblick auf den primär objektivrechtlichen Charakter der
      Wahlprüfungsbeschwerde sowie das öffentliche Interesse an einer alsbaldigen Klärung der Gültigkeit oder Ungültigkeit der Wahl
      eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht kommt (vgl. BVerfGE 21, 359 ; vgl. Schreiber, BWahlG, 8.
      Aufl. 2009, § 49 Rn. 36; vgl. Schmidt/Bleibtreu, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Bd. 1, § 48 Rn. 35 
      2006>; Aderhold, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 48 Rn. 34).
   
II.
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                            Die hilfsweise erhobene Verfassungsbeschwerde ist ebenfalls unzulässig.
   
9
                            Die Beschwerdeführerin hat in ihrem Schriftsatz vom 8. September 2010 zunächst erklärt, dass sich die Verfassungsbeschwerde
      „gegen das Wahlstatistikgesetz und den darauf gründenden Hoheitsakt (Beschluss des Deutschen Bundestages)“ richte. In ihrem
      Schreiben vom 27. Oktober 2010 hat sie schließlich ausgeführt, dass „nicht das Gesetz, sondern der konkrete Hoheitsakt angegriffen“
      werde, nämlich „die Wahl, die in ihrem Wahlkreis nicht als echte geheime und gleiche Wahl“ durchgeführt worden sei.
   
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                            Sollte der Vortrag der Beschwerdeführerin dahingehend zu verstehen sein, dass sie sich gegen den „Beschluss des Deutschen
      Bundestages“ vom 8. Juli 2010, mit welchem der Einspruch der Beschwerdeführerin gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl vom
      27. September 2009 zurückgewiesen worden war, beziehungsweise die Gültigkeit der „Wahl“ zum Deutschen Bundestag wendet, so
      wäre die Verfassungsbeschwerde nicht statthaft. Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen,
      können nur mit den in den Wahlvorschriften vorgesehenen Rechtsbehelfen und im Wahlprüfungsverfahren angefochten werden (vgl.
      BVerfGE 11, 329 f.; 14, 154 f.; 16, 128 ; 22, 277 ; 28, 214 ; 29, 18 f.; 34, 81 ; 74, 96 ; 83, 156
      f.). Vor diesem Hintergrund geht die Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin fehl, dass nach Abschluss des Wahlprüfungsverfahrens
      die Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der Bundestagswahl vom 27. September 2009 wieder zulässig werde. Vielmehr sind hinsichtlich
      dieser Wahl – entsprechend der Exklusivität der Wahlprüfung – keine weiteren Rechtsbehelfe mehr gegeben.
   
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                            Sollte das Vorbringen der Beschwerdeführerin als unmittelbar gegen das Wahlstatistikgesetz gerichtete Verfassungsbeschwerde
      aufzufassen sein, wäre sie verspätet erhoben, da die in § 93 Abs. 3 BVerfGG bestimmte Jahresfrist bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde
      bereits abgelaufen war. Das Wahlstatistikgesetz vom 21. Mai 1999 ist zum 1. Juni 1999 in Kraft getreten (vgl. BGBl I S. 1023).
      Soweit mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Wahlstatistikgesetzes vom 17. Januar 2002 inhaltliche Änderungen verbunden waren
      (vgl. BGBl I S. 412), wurden diese zum 25. Januar 2002 wirksam. Die am 8. September 2010 erhobene Verfassungsbeschwerde war
      daher verspätet (vgl. auch BVerfGE 23, 153 ; 30, 112 ).
   




