Aktenzeichen 1 BvR 3048/11
§ 32 Abs 1 BVerfGG
§ 169 S 1 GVG
§ 176 GVG
Gründe
1
Der mit einer Verfassungsbeschwerde verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung richtet sich gegen zwei inhaltsgleiche
sitzungspolizeiliche Anordnungen des Vorsitzenden der 2. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main gegenüber der Tageszeitung
“Bild”, Angeklagte, Zeugen und Nebenkläger in einem Strafverfahren nur “verpixelt” abzubilden.
I.
2
1. In dem zugrundeliegenden Strafverfahren sind sechs Personen wegen Umsatzsteuerhinterziehung in hohem Umfange im Handel
mit CO²-Emissionszertifikaten angeklagt. Der Prozess war ursprünglich bis März 2012 terminiert. Urteilsverkündung ist nach
Auskunft des Gerichts nunmehr voraussichtlich jedoch bereits am 21. Dezember 2011. Der Prozess wurde und wird in nationalen
wie internationalen Medien mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, da es sich mit einem vermuteten Gesamtsteuerschaden von über
200 Millionen Euro wohl um einen der größten Wirtschaftsprozesse der Nachkriegszeit handelt und die Taten starke internationale
Bezüge aufweisen.
3
2. Die Beschwerdeführerin, Verlegerin der “Bild”, rügt, durch die sitzungspolizeilichen Anordnungen in ihrem Grundrecht auf
Pressefreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt zu sein. Den Erlass einer einstweiligen Anordnung hält sie für erforderlich,
da sie ansonsten unwiederbringlich daran gehindert sei, in einer den Informationsinteressen der Öffentlichkeit gerecht werdenden
Weise eine authentische Berichterstattung einschließlich einer die Angeklagten identifizierenden bild- lichen Dokumentation
vorzunehmen. Dies stelle für sie einen schweren Nachteil dar. Aufgrund dessen, dass Geschädigter der Fiskus sei, bestünde
auch ein besonders großes Interesse der Öffentlichkeit, über die Identität der mutmaßlichen Schädiger informiert zu werden.
Auf Seiten der Angeklagten sei zwar eine gewisse stigmatisierende Wirkung zu erwarten. Diese wiege aufgrund der nicht als
besonders verwerflich empfundenen Begehungsweise der Angeklagten jedoch nicht besonders schwer. Vielmehr handele es sich um
einen Fall nüchterner Wirtschaftskriminalität. Zwei der Angeklagten hätten auch bereits ein Geständnis abgelegt.
4
3. Als Gründe für die sitzungspolizeilichen Anordnungen teilte der anordnende Vorsitzende der 2. Strafkammer ausweislich eines
Schreibens an das Bundesverfassungsgericht in der mündlichen Verhandlung vom 23. November 2011 mit, dass die Eingriffe in
die Pressefreiheit aufgrund überwiegender Belange des Persönlichkeitsschutzes der Angeklagten und der Rechtspflege gerechtfertigt
seien. Bei den Angeklagten handle es sich lediglich um (mutmaßliche) Zwischenhändler. In ihrer Mehrzahl hätten die Angeklagten
bereits Aufklärungshilfe über die Hintermänner geleistet. Vor dem Hintergrund bereits vorgefallener konkreter Gewalthandlungen
und Bedrohungen im persönlichen Umfeld der Angeklagten wäre ernstlich zu befürchten, dass eine nichtanonymisierte Bildberichterstattung
weitere Repressalien gegen die Angeklagten erleichtern würde und sie davon abhalten könnte, weiterhin frei zur Sache auszusagen.
Ferner entspreche die Bereicherung der Angeklagten an den Taten durch kleinere Handelsmargen bei weitem nicht dem Steuerschaden.
Ein besonders herausgehobenes Interesse der Öffentlichkeit bestünde deshalb auch nicht an den Angeklagten selbst, sondern
an System und Funktionsweise des Umsatzsteuerkarussells – beziehungsweise Kettenbetrugs, insbesondere im CO²-Emissionszertifikatehandel.
5
Angesichts der Eilbedürftigkeit musste über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entschieden werden, bevor
die Beschwerdeführerin Gelegenheit hatte, zu dem oben genannten Schreiben an das Bundesverfassungsgericht Stellung zu nehmen.
II.
6
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, aber unbegründet.
7
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig
regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund
zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes
vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf Eilrechtsschutz hat jedoch keinen Erfolg, wenn
eine Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist (vgl. BVerfGE 71, 158 ; 111,
147 ; stRspr). Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige
Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn
die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE
71, 158 ; 96, 120 ; stRspr).
8
2. Die vorliegend bereits erhobene Verfassungsbeschwerde ist, soweit die Beschwerdeführerin sie die Anonymisierung der Angeklagten
betreffend hinreichend substantiiert hat, weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Insbesondere kann
im derzeitigen Stand des Verfassungsbeschwerdeverfahrens nicht ausgeschlossen werden, dass die Verfassungsbeschwerde gegen
die angegriffenen sitzungspolizeilichen Anordnungen Erfolg hat. Anordnungen des Vorsitzenden nach § 176 GVG, mit denen die
Anfertigung von Bildaufnahmen vom Geschehen im Sitzungssaal am Rande der Hauptverhandlung Beschränkungen unterworfen wird,
stellen Eingriffe in den Schutzbereich der Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 91, 125 ;
119, 309 ). Beim Erlass solcher Anordnungen hat der Vorsitzende der Bedeutung der Pressefreiheit Rechnung zu tragen
und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (vgl. BVerfGE 91, 125 ; 119, 309 ). Bei Anlegung dieses
Maßstabes ist die Verfassungsbeschwerde derzeit nicht offensichtlich unbegründet; dies insbesondere da zwei der Angeklagten
die Taten bereits gestanden haben und bei ihnen folglich nur noch in eingeschränktem Umfange die Unschuldsvermutung einer
Veröffentlichung nichtanonymisierter Bilder entgegengehalten werden kann.
9
3. Die danach gebotene Folgenabwägung fällt jedoch zu Gunsten der schutzwürdigen Belange der Angeklagten aus.
10
Nach den vom anordnenden Vorsitzenden der 2. Strafkammer angegebenen Gründen wäre bei Veröffentlichung und Verbreitung nichtanonymisierter
Bilder der Angeklagten zu befürchten, dass die Gewährleistung der Sicherheit der Angeklagten erschwert würde und (infolgedessen)
die ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung nicht mehr gewährleistet sei. Diese Aspekte sind verfassungsrechtlich grundsätzlich
geeignet, Eingriffe in die Pressefreiheit zu rechtfertigen (vgl. BVerfGE 119, 309 ) und wögen, wenn sie zuträfen,
auf Seiten der Angeklagten besonders schwer, unabhängig davon, ob diese bereits ein Geständnis abgelegt haben oder nicht.
Die Einschätzung des Vorsitzenden ist insofern nicht von der Hand zu weisen. Die vorhandene Gefährdungslage ergibt sich, gestützt
auf die Gefahreneinschätzung der Ermittlungsbehörden, aus der unterstellten Art der Tatbeteiligung der Angeklagten und aus
Gewalthandlungen und Bedrohungen im Umfeld der Angeklagten. Die Annahme, dass die nichtanonymisierte Bildberichterstattung
diese Gefährdungslage verstärken könnte, verliert, falls im Hintergrund der Taten eine größere, international agierende verbrecherische
Organisation steht, auch nicht von vornherein dadurch ihre Berechtigung, dass die Angeklagten derzeit inhaftiert sind. Zum
einen ist nach derzeitigem Stand nicht einzuschätzen, wie lange die Angeklagten inhaftiert sein werden, zum anderen ist schwer
einzuschätzen, inwiefern es einer entsprechenden Organisation möglich wäre, auch inhaftierte Personen zu gefährden, und wieweit
die Verbreitung und Veröffentlichung nichtanonymisierter Bilder diese Gefährdung erleichtern würde. Jedenfalls dass die Angeklagten
in Folge dieser befürchteten Gefährdung ihrer Sicherheit davon abgehalten werden könnten, weiterhin frei zur Sache auszusagen,
ist nachvollziehbar. Gemessen an diesen im derzeitigen Verfahrensstand nicht von vornherein auszuschließenden Gefährdungen
überwiegen die zu befürchtenden Nachteile für die Angeklagten die Folgen für die Presseberichterstattung, die sich aus dem
Anonymisierungsgebot ergeben. Die angegriffenen sitzungspolizeilichen Anordnungen untersagen die bebilderte Berichterstattung
aus dem Sitzungssaal nicht generell, sondern beschränken sie lediglich im Hinblick darauf, dass insbesondere die Angeklagten
zu anonymisieren sind. Damit wird dem öffentlichen Informationsinteresse und den Belangen der Pressefreiheit weitgehend Rechnung
getragen. Die in dem Anonymisierungsgebot liegende Beschränkung der Berichterstattung wiegt nicht so schwer, als dass sie
es rechtfertigte, dass das Gericht eventuell mögliche Verletzungen der aufgezeigten schutzwürdigen Belange der Angeklagten
und der Rechtspflege zuzulassen hätte.