Aktenzeichen XI R 7/15
Leitsatz
NV: Der in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebende Elternteil kann gegenüber dem im Inland lebenden Elternteil nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorrangig kindergeldberechtigt sein, wenn er sein Kind dort in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).
Verfahrensgang
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 24. Februar 2015, Az: 6 K 4193/10, Urteil
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 24. Februar 2015 6 K 4193/10 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
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I. Der im Inland wohnhafte und abhängig beschäftigte Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist polnischer Staatsangehöriger und begehrt für Oktober 2010 (Streitzeitraum) die Festsetzung von Kindergeld für seine im Juli 1998 geborenen Kinder A und B.
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Beide Kinder leben im Haushalt der vom Kläger geschiedenen und im Streitzeitraum ebenfalls berufstätigen Kindsmutter in der Republik Polen (Polen). Die Kindsmutter hatte im Streitzeitraum keinen Anspruch auf Familienleistungen nach polnischem Recht, da ihr Einkommen die dort maßgebliche Einkommensgrenze überstieg (Bescheid des Regionalzentrums für Sozialpolitik in X/Polen vom 20. April 2010).
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Mit Bescheid vom 16. September 2010 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes, das der Kläger für die beiden Kinder bisher bezogen hatte, mit Wirkung ab Oktober 2010 auf.
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Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse mit der Begründung zurück, die Kindsmutter sei gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorrangig anspruchsberechtigt, da sie beide Kinder in ihren Haushalt aufgenommen habe (Einspruchsentscheidung vom 14. Oktober 2010).
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Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen gerichteten Klage statt und verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für beide Kinder für Oktober 2010 festzusetzen.
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Es führte aus, eine Anspruchskonkurrenz nach Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union –ABlEU– 2004 Nr. L 166, S. 1; im Folgenden: VO Nr. 883/2004) bestehe nicht, denn dem Anspruch des Klägers auf deutsches Kindergeld stehe wegen des Überschreitens der Einkommensgrenzen kein Anspruch der Kindsmutter auf polnische Familienleistungen gegenüber. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG sei tatbestandlich nicht anwendbar, da lediglich der Kläger, nicht aber die Kindsmutter die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 EStG erfülle und es somit nicht mehrere Berechtigte gebe. Aus Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1; im Folgenden: VO Nr. 987/2009) ergebe sich keine andere Beurteilung.
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Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die unzutreffende Auslegung von § 64 EStG.
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Es sei gemäß Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 zu unterstellen, dass die Kindsmutter mit den Kindern A und B in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) lebe. In diesem Fall wäre sie gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG gegenüber dem Kläger vorrangig kindergeldberechtigt, da sie beide Kinder in ihren Haushalt aufgenommen habe.
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Die Familienkasse beantragt,das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.
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Er hält die Begründung des FG für zutreffend.