Aktenzeichen VIII B 149/19
Art 19 Abs 4 GG
Art 103 Abs 1 GG
§ 96 Abs 2 FGO
§ 102 FGO
Leitsatz
1. NV: Die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten sind keine Diensträume i.S. des § 78 Abs. 3 Satz 1 FGO (vgl. BFH-Beschluss vom 04.07.2019 – VIII B 51/19, BFH/NV 2019, 1235).
2. NV: In Ausnahmefällen kann der Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs und Waffengleichheit einen Anspruch auf Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten begründen. Die Entscheidung, Akteneinsicht ausnahmsweise auch außerhalb von Diensträumen zu gewähren, ist eine am Einzelfall zu beurteilende Ermessensentscheidung des FG. Im Rahmen des erforderlichen Abwägungsprozesses ist der vom Gesetzgeber in § 78 Abs. 3 FGO gesteckte Ermessensrahmen und hierbei insbesondere das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen einer Akteneinsicht in und außerhalb von Diensträumen zu beachten (vgl. BFH-Beschluss vom 04.07.2019 – VIII B 51/19, BFH/NV 2019, 1235).
Verfahrensgang
vorgehend Finanzgericht des Saarlandes, 19. August 2019, Az: 2 K 1182/16, Beschluss
Tenor
Die Beschwerde der Kläger gegen den Beschluss des Finanzgerichts des Saarlandes vom 19.08.2019 – 2 K 1182/16 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Kläger zu tragen.
Tatbestand
I.
1
Die Kläger, Antragsteller und Beschwerdeführer (Kläger) wurden in ihrer beim Finanzgericht (FG) erhobenen Klage wegen Einkommensteuer 2012 zunächst von einer Steuerberatungsgesellschaft als Prozessbevollmächtigte vertreten, bei der der jetzige Prozessbevollmächtigte als Rechtsanwalt und freier Mitarbeiter tätig war. Nachdem die Klage durch Gerichtsbescheid vom 26.03.2019 abgewiesen worden war und die Kläger die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt hatten, begehrte die Prozessbevollmächtigte am 06.05.2019 Akteneinsicht in der Weise, ihr die Akten für drei Werktage auszuhändigen.
2
Das FG verwies in einem Schreiben der zuständigen Berichterstatterin darauf, dass die Übersendung der Akten in die Kanzleiräume der Prozessbevollmächtigten gemäß § 78 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht in Betracht komme und schlug vor, in der Geschäftsstelle des FG Einsicht in die Akten zu nehmen. Als der jetzige Prozessbevollmächtigte hiervon Gebrauch machen wollte, wurde ihm die Möglichkeit zur Akteneinsicht in der Geschäftsstelle unter Aufsicht eingeräumt. Dies lehnte der jetzige Prozessbevollmächtigte als unzumutbar ab. Am 23.05.2019 wurde ihm im Rahmen der ersten mündlichen Verhandlung, die hierfür zeitweilig unterbrochen wurde, die Akteneinsicht in der Gerichtsbibliothek ohne Aufsicht ermöglicht. Er erklärte nach Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung, er habe angesichts des Aktenumfangs und der Kürze der für die Einsichtnahme zur Verfügung stehenden Zeit nicht in der Weise Einsicht nehmen können, dass eine Stellungnahme noch im Termin möglich sei, und beantragte, gemäß § 78 FGO eine vollständige Kopie der Akten zu fertigen. Das FG hob den Termin daraufhin auf. Es übersandte an die damalige Prozessbevollmächtigte 327 kopierte Seiten.
3
Der jetzige Prozessbevollmächtigte bestellte sich in einem Schriftsatz vom 29.05.2019 zunächst zum weiteren Prozessbevollmächtigten und teilte in einem weiteren Schriftsatz vom 23.07.2019 mit, ihm seien die Handakten einschließlich der vom FG übersandten Kopien überlassen worden. Die frühere Prozessbevollmächtigte legte das Mandat am 02.09.2019 nieder.
4
Der jetzige Prozessbevollmächtigte übersandte die übernommenen Kopien mit dem Hinweis, diese seien nicht ordnungsgemäß und zum Teil nicht lesbar, an das FG zurück. Das FG übermittelte ihm über das besondere elektronische Anwaltspostfach daraufhin eine eingescannte Fassung der FG-Akte, der Rechtsbehelfsakte und der Einkommensteuerakte (Band 3). Zudem wies das FG auf die weiterhin bestehende Möglichkeit hin, die Originalakten beim FG einzusehen.
5
Mit Schriftsatz vom 09.08.2019 beantragte der Prozessbevollmächtigte die Akteneinsicht im Wege der Übersendung der vollständigen Originalakten in die Diensträume seiner Kanzlei. Zur Begründung führte er an, es bestünden Zweifel an der Vollständigkeit und Folgerichtigkeit der eingescannten und elektronisch übermittelten Aktenkopie, da er 178 Seiten erhalten habe, obwohl die FG-Akte nur 169 Seiten umfasse. Zudem machte der Prozessbevollmächtigte deutlich, dass er den bisherigen Verfahrensablauf als unzumutbar empfinde, da das FG ihm die Einsicht in die Originalakte entweder nur unter Aufsicht bei der Gerichtsgeschäftsstelle oder ohne Aufsicht in einem engen zeitlichen Rahmen während der ersten mündlichen Verhandlung ermöglicht habe und ihm weder ordnungsgemäße Kopien übersandt noch ordnungsgemäß eingescannte Unterlagen elektronisch übermittelt habe.
6
Das FG lehnte die Gewährung der Akteneinsicht durch Übersendung der vollständigen Originalakte des Gerichts in die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten durch Beschluss vom 19.08.2019 ab.
7
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Kläger, der das FG nicht abgeholfen und die es dem Bundesfinanzhof (BFH) zur Entscheidung vorgelegt hat.
8
Die Kläger machen geltend, die Originalakten seien ausnahmsweise in die Kanzlei des Prozessbevollmächtigten zur Einsicht zu übersenden. Eine Gefahr, dass das Steuergeheimnis durch die Übersendung der Akten in die Kanzleiräume verletzt werde, bestehe aufgrund der Verpflichtung des Prozessbevollmächtigten zur Berufsverschwiegenheit nicht. Ein Ausnahmetatbestand, der die Übersendung der Akten in die Kanzleiräume rechtfertige, sei aufgrund des Verfahrensablaufs gegeben. Neben den Restriktionen, die das FG für die Akteneinsicht des Prozessbevollmächtigten in die Originalakte aufgestellt habe, sei auch die übrige Verfahrensführung für die Kläger nicht zumutbar und habe zu einem Ablehnungsgesuch gegenüber der beim FG zuständigen Berichterstatterin geführt. Aufgrund des während des Verfahrens entstandenen Misstrauens sei dem Prozessbevollmächtigten die Möglichkeit der Akteneinsicht in den Kanzleiräumen zu gewähren, damit er die Originalakten mit der gebotenen Ruhe und Sorgfalt auswerten könne.