Aktenzeichen III R 39/18
Leitsatz
1. NV: Die Wohnsitzfiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann bei Personen, die nach Deutschland entsandt wurden und deshalb nach Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 weiterhin den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes unterliegen, dazu führen, dass der Anspruch auf deutsches (Differenz-)Kindergeld nicht dem nach Deutschland entsandten Elternteil zusteht, sondern dem im anderen Mitgliedstaat zusammen mit den Kindern in einem Haushalt lebenden anderen Elternteil.
2. NV: Erfüllt ein nach Deutschland entsandter Arbeitnehmer die in §§ 62 ff. EStG geforderten Voraussetzungen eines Kindergeldanspruchs, so wird sein Anspruch i.S. des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 durch den Wohnort ausgelöst, wenn er die Beschäftigung nur im Rahmen der Entsendung ausübt und auch sonst im Inland weder eine den deutschen Rechtsvorschriften unterliegende Erwerbstätigkeit ausübt noch eine Rente bezieht.
3. NV: Besteht neben dem durch den Wohnort ausgelösten Anspruch eines Entsandten auf deutsches Kindergeld für dasselbe Kind und denselben Zeitraum Anspruch auf Familienleistungen in einem anderen Mitgliedstaat, der zugleich der Wohnsitzstaat der Kinder ist, so wird gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 der Anspruch auf deutsches Differenzkindergeld ausgeschlossen.
4. NV: Werden bei einem kindergeldberechtigten Elternteil die Wohnsitzvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 fingiert, kann für diesen Elternteil die nach § 62 Abs. 1 Satz 2 EStG erforderliche Identifikation analog § 63 Abs. 1 Satz 4 EStG statt durch Identifikationsnummer auch in anderer geeigneter Weise erfolgen.
Verfahrensgang
vorgehend Sächsisches Finanzgericht, 29. Mai 2018, Az: 3 K 74/17 (Kg), Urteil
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 29.05.2018 – 3 K 74/17 (Kg) aufgehoben.
Die Sache wird an das Sächsische Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
1
Streitig ist der Kindergeldanspruch für die Zeiträume April 2015 bis April 2016 und November 2016 bis Dezember 2016.
2
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Mutter einer im Jahr 2005 geborenen Tochter (K) und einer im Jahr 2013 geborenen Tochter (M). Die Kinder leben im Haushalt der Klägerin in Polen. Vom Kindsvater (V) ist die Klägerin seit März 2015 geschieden.
3
Laut Entsendebescheinigungen vom 08.08.2016 und vom 08.01.2018 wurde V von seinem polnischen Arbeitgeber in den Zeiträumen 01.02.2015 bis 30.04.2016 und 01.11.2016 bis 01.09.2017 in einen ausländischen Betrieb in die Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) entsandt. Weiter bestand nach diesen Bescheinigungen keine Sozialversicherungspflicht in Deutschland, weil V bei der ZUS in Polen sozialversichert ist.
4
Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Kindergeldantrag der Klägerin mit Bescheid vom 19.09.2016 ab dem Monat April 2015 für beide Kinder ab. Der Einspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 22.11.2016).
5
Das Finanzgericht (FG) wies die dagegen gerichtete Klage als unbegründet ab.
6
Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
7
Die Klägerin beantragt sinngemäß,das angefochtene Urteil sowie den Bescheid vom 19.09.2016 und die Einspruchsentscheidung vom 22.11.2016 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, zugunsten der Klägerin Kindergeld für die Monate April 2015 bis April 2016 und November 2016 bis Dezember 2016 festzusetzen.
8
Die Familienkasse beantragt,die Revision zurückzuweisen.