Strafrecht

Ausweisung bei besonders schwerwiegendem Ausweisungsinteresse – assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht

Aktenzeichen  M 24 S 20.3270

Datum:
23.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 26149
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs.2, Abs.3
ARB 1/80 Art. 7 S. 1
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Das aufgrund mehrfacher schwerwiegender Straffälligkeit bestehende besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse der Gesellschaft überwiegt das schwerwiegende Bleibeinteresse des türkisstämmigen Antragsstellers, sodass die Ausweisung für die Wahrung des Grundinteresses der Gesellschaft an der öffentlichen Sicherheit und Ordnung unerlässlich ist. (Rn. 34 – 57) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf EUR 2.500,– festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.
Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger und wurde am… 1972 in … geboren. Ab dem Alter von ca. einem Jahr hielt der Antragsteller sich bei seinen Großeltern in der Türkei auf, bevor er im Jahr 1978 zur Einschulung zu seinen Eltern nach Deutschland zurückkehrte. Seither lebt er ununterbrochen im Bundesgebiet und verfügt seit dem … Februar 1988 über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die als Niederlassungserlaubnis fort gilt. Der Vater des Antragstellers ist im Jahre 1995 verstorben. Die Mutter lebte ab ihrem Renteneintritt abwechselnd in der Türkei und in Deutschland und verstarb im Jahr 2017. Die drei Geschwister des Antragstellers leben in … Der Antragsteller ist nicht verheiratet und kinderlos, hat allerdings eine langjährige Lebensgefährtin, die türkischer Abstammung, aber nach Aktenlage deutsche Staatsangehörige ist. Nachdem er im Jahr 1987 die Hauptschule mit der neunten Klasse abgeschlossen hatte, begann er zwei Berufsausbildungen, die er jeweils abbrach. In der Folgezeit war er mit Unterbrechungen als Hilfsarbeiter, Lagerdisponent und Staplerfahrer beschäftigt. Zuletzt bezog er ab 29. Juni 2017 bis zu seiner Festnahme am 6. Juni 2018 Arbeitslosengeld II.
Mit Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 24. April 1990 in Gestalt des Urteils des Landgerichts Augsburg vom 10. Oktober 1990 wurde der Antragsteller wegen Diebstahls, gemeinschaftlichen schweren Raubes in Tateinheit mit rechtlich zusammentreffenden Vergehen der gemeinschaftlichen, gefährlichen Körperverletzung, der gemeinschaftlichen Freiheitsberaubung und der vorsätzlichen Störung von Fernmeldeanlagen zu einer Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt. Wegen dieser Straftaten befand sich der Antragsteller von … November 1989 bis … Juni 1992 in Haft; der Rest der Jugendstrafe wurde wegen einer günstigen Sozialprognose zur Bewährung ausgesetzt.
Mit Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 21. März 1996 wurde der Antragsteller wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt.
Mit weiterem Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 22. März 2000 wurde er wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Mit Berufungsurteil vom 25. Juli 2001 verhängte das Landgericht Augsburg unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil vom 22. März 2000 eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten und ordnete aufgrund einer durch den Sachverständigen im Strafverfahren diagnostizierten Polytoxikomanie die Unterbringung des Antragstellers in einer Entziehungsanstalt an. Der Verurteilung lagen Straftaten der vorsätzlichen Körperverletzung und gefährlichen Körperverletzung zugrunde, die der Antragsteller unter Alkoholeinfluss begangen hatte. Von 27. Juli 2000 bis 22. April 2002 befand er sich in Haft und anschließend aufgrund der gerichtlichen Anordnung nach § 64 StGB im Bezirkskrankenhaus … Am 26. Januar 2004 wurde er auf Bewährung aus dem Maßregelvollzug entlassen, die Bewährung wurde allerdings widerrufen.
Am 13. Februar 2006 verurteilte das Landgericht Augsburg den Antragsteller wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen, davon in zwei Fällen gemeinschaftlich handelnd, davon in einem Fall bezogen auf eine nicht geringe Menge, zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und elf Monaten und ordnete die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an. Ab dem 4. Februar 2006 befand sich der Antragsteller daher im… und wurde am 1. Februar 2008 nach erfolgreicher Therapie entlassen. Der Strafrest wurde zur Bewährung ausgesetzt, die Strafaussetzung wurde allerdings widerrufen.
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 27. Juli 2011 in Gestalt des Berufungsurteils des Landgerichts München I vom 22. Februar 2012 wurde der Antragsteller wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei sachlich zusammentreffenden Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren neun Monaten verurteilt und befand sich deswegen ab dem 13. Januar 2011 in Haft. Am 12. November 2012 wurde er in das… verlegt, von wo er im April 2014 entlassen werden konnte.
Im Abschlussbericht des… vom 2. April 2014 über die Behandlung im Rahmen des Maßregelvollzugs wurden ein Abhängigkeitssyndrom (ICD-10: F19.2), Alkoholabhängigkeit sowie ein zirrhotischer Leberumbau bei chronischer Hepatitis B diagnostiziert. Nach seiner Entlassung aus dem Jugendstrafvollzug im Jahr 1992 habe der Antragsteller begonnen täglich zu trinken, zunächst ein bis zwei Bier, anschließend habe er die Trinkmenge kontinuierlich gesteigert. Vor der aktuellen Inhaftierung habe er ca. sieben bis acht Bier pro Tag und am Wochenende ein bis zwei Flaschen Schnaps getrunken. An Arbeitstagen habe er mittags mit dem Trinken begonnen. Er habe auch während der Arbeitszeit getrunken. Der erste Cannabiskonsum habe im Alter von 17 Jahren stattgefunden. Bis 1995 habe er täglich gekifft, nach 1995 unregelmäßig. Seit 1992 konsumiere er regelmäßig zusätzlich verschiedene andere Substanzen, Ecstasy fast täglich, LSD am Wochenende, Kokain bis 1995 regelmäßig, vor der aktuellen Inhaftierung gelegentlich. Heroin habe er drei- oder viermal nasal probiert. Diazepam nehme er seit 1995 regelmäßig ein. Aufgrund statischer Faktoren, also Faktoren, die durch eine Therapie nicht veränderbar sind, gebe es deutliche Hinweise auf eine erhöhte Rückfallgefährdung bezogen auf Betäubungsmitteldelikte. Diese Rückfallgefährdung sei aber durch einen günstigen Behandlungsverlauf und eine günstige postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung relativiert worden, wodurch sich die Gefährdungsprognose verbessert habe. Es sei gelungen, einen ausreichend strukturierten und supportiven sozialen Empfangsraum zu schaffen. Ferner erscheine der Antragsteller bestrebt, ein suchtmittelfreies und straffreies Leben zu führen und zur Aufrechterhaltung der Abstinenz aktiv mit den vorhandenen Kontrollstellen zusammenzuarbeiten. Die Gefährdungsprognose im Hinblick auf Straftaten sei beim Antragsteller bei Drogenabstinenz als günstig einzuschätzen. Es könne daher nun erwartet werden, dass er außerhalb des Maßregelvollzuges keine rechtswidrigen Taten mehr begehe.
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 15. Juli 2019, rechtskräftig seit 4. Dezember 2019, wurde gegen den Antragsteller wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei sachlich zusammentreffenden Fällen in Tateinheit mit einem Fall von Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in einem Fall mit Besitz von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit gewerbsmäßigem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verhängt (Anlassverurteilung). Wegen dieser Straftaten war er am 6. Juni 2018 festgenommen worden und befindet sich seitdem in Haft. Das Haftende ist für den 3. Februar 2021 vorgemerkt. Der Verurteilung lagen Verkaufsgeschäfte mit Kokain und Cannabis am 31. Mai, 2. Juni und 6. Juni 2018 zugrunde.
Ausweislich des im Rahmen des Strafverfahrens erstellten Haargutachtens vom 2. Juli 2018 erbrachte die Untersuchung einer Haarprobe des Antragstellers von 2 cm Länge unter anderem den Nachweis von Kokain und Kokain-Abbauprodukten, wobei die festgestellten Werte unter Berücksichtigung der Erfahrungen mit Kokainkonsumenten insgesamt typisch für eine regelmäßige, intensive Aufnahme seien.
Dem Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt vom 13. März 2020 ist zu entnehmen, dass der Antragsteller bei einer Beschäftigung in einem Unternehmerbetrieb seit dem 20. Januar 2020 eine gute Einsatzbereitschaft zeige und ruhig und umgänglich sei. Gegenüber den Bediensteten der Vollzugsanstalt sei er freundlich, höflich und ordentlich. Disziplinarisch habe er einmal im November 2019 geahndet werden müssen, da ein Handy bei ihm gefunden worden sei. Er habe Kontakt zu einem externen Mitarbeiter der Suchtberatung aufgenommen und strebe eine Zurückstellung nach § 35 BtMG an. Besuch erhalte er in der Justizvollzugsanstalt regelmäßig von seiner Lebensgefährtin und seinen Geschwistern.
Der Antragsteller erhielt am 10. Juli 2019 eine Zusage für einen Therapieplatz zur Entwöhnungsbehandlung in einer Einrichtung, die über die Anerkennung nach §§ 35, 36 BtMG verfügt. Eine Zurückstellung nach § 35 BtMG wurde jedoch abgelehnt.
Nach vorheriger Anhörung wies die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Bescheid vom 19. Juni 2020 aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1) und ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an, dessen Dauer unter der Bedingung, dass Straf-, Drogen- und Alkoholfreiheit nachgewiesen werden, auf sieben Jahre ab Ausreise, ansonsten neun Jahre ab Ausreise befristet wurde (Nr. 2). Die Abschiebung in die Türkei nach Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht aus der Haft wurde angedroht; sollte der Antragsteller vor Durchführung der Abschiebung aus der Haft entlassen werden, wurde er verpflichtet, das Bundesgebiet bis spätestens vier Wochen nach Haftentlassung und Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht zu verlassen (Nr. 3). Die sofortige Vollziehung der Nummern 1 und 2 wurde angeordnet (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
Hiergegen ließ der Antragsteller am 20. Juli 2020 Klage erheben (anhängig unter dem Az. M 24 K 20.3269), mit der er die Aufhebung des Bescheids und die Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung eines Aufenthaltstitels begehrt. Zugleich beantragt er im gegenständlichen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes,
die aufschiebende Wirkung der erhobenen Klage gegen Ziffern 1 und 2 des Bescheides vom 19. Juni 2020 anzuordnen bzw. wiederherzustellen.
Zur Begründung wird ausgeführt, der Antragsteller lebe seit 2007 zusammen mit seiner Lebensgefährtin in … Die Heirat sei beabsichtigt und habe lediglich aufgrund der aktuellen Inhaftierung bislang nicht stattfinden können. Die Lebensgefährtin des Antragstellers sei seit Januar 2019 schwer erkrankt, habe mehrere Operationen hinter sich bringen müssen und sei letztendlich nach der Entlassung des Antragstellers aus der Strafhaft auf dessen Pflege angewiesen. Zudem beabsichtige der Antragsteller, sich einer therapeutischen Behandlung seiner Suchtproblematik zu unterziehen. Anstrengungen insoweit habe er bereits unternommen. Ein Antrag nach § 35 BtMG sei jedoch abgelehnt worden, über die gegen den Ablehnungsbescheid eingelegte Beschwerde sei noch nicht entschieden.
Der Antragsteller verfüge zudem über keine festen und gesicherten sozialen Bindungen in der Türkei. Der türkischen Sprache sei er nur rudimentär mächtig.
Die Antragsgegnerin beantragt unter Vorlage der Ausländerakten,
den Antrag abzulehnen.
Auf einen telefonischen Hinweis des Gerichts hin, dass die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots als ermessensfehlerhaft erachtet werde, änderte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 15. September 2020 die Verfügung in Nummer 2 des streitgegenständlichen Bescheids dahingehend ab, dass die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter der Bedingung des Nachweises von Straf-, Drogen- und Alkoholfreiheit fünf Jahre ab Ausreise, ansonsten sieben Jahre ab Ausreise betrage.
Mit Schriftsatz vom 17. September 2020 teilte der Bevollmächtigte des Antragstellers mit, dass der Änderungsbescheid in das Klageverfahren einbezogen werden solle.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten – auch des Klageverfahrens – und die beigezogenen Akten der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO bleibt in der Sache ohne Erfolg.
A.
Ausweislich des gestellten Antrags begehrt der Antragsteller die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die für sofort vollziehbar erklärte Ausweisungsverfügung in Nummer 1 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 19. Juni 2020. Ebenso statthaft ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen das in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids nach § 11 AufenthG verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot. Nach der seit dem 21. August 2019 geltenden Neufassung des § 11 AufenthG wird das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG durch einen selbstständigen Verwaltungsakt erlassen. Nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG in der seit dem 21.August 2019 geltenden Fassung ist das Verbot der Erteilung eines Aufenthaltstitels (Titelerteilungssperre) keine unmittelbare Rechtsfolge der Ausweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung mehr, sondern eine solche des Erlasses des Einreise- und Aufenthaltsverbots. Da es sich beim Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots um einen selbstständigen Verwaltungsakt handelt, ist in der Hauptsache die Anfechtungsklage und im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft. Denn die aufschiebende Wirkung einer gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot erhobenen Klage entfällt gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 84 Abs. 1 Satz Nr. 7 AufenthG (VGH Mannheim, B.v. 21.1.2020 – 11 S 3477/19 – juris Rn 17 ff., 73). Die Kammer geht im Rahmen des gegenständlichen Eilverfahrens davon aus, dass dies auch hinsichtlich der in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids verfügten, mit Änderungsbescheid vom 15. September 2020 modifizierten Sperrfrist gilt. Denn angesichts der gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG von Amts wegen zwingend vorzunehmenden Befristung dürfte es sich bei der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots um einen einheitlichen belastenden Verwaltungsakt handeln, der nicht in die Anordnung des Verbots und dessen Befristung aufgespalten werden kann (VGH Mannheim, a.a.O.). Im wohlverstandenen Interesse des Antragstellers geht das Gericht nach Auslegung des gestellten Antrags, der die Verfügung in Nummer 2 des Bescheids vom 19. Juni 2020 insgesamt einschließt, und nach Einbeziehung des Änderungsbescheids vom 15. September 2020 in das Klageverfahren daher davon aus, dass auch der Änderungsbescheid Gegenstand des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO sein soll.
B.
Die Anordnung des Sofortvollzugs in Nr. 4 des Bescheids vom 19. Juni 2020 ist formell rechtmäßig.
Sie genügt den formellen Begründungsanforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Danach ist in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen.
Für die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsakts nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ist ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (vgl. BVerfG, B.v. 25.1.1996 – 2 BvR 2718/95 – juris Rn. 19). Dieses muss bei der schriftlichen Begründung des besonderen Interesses der Behörde an der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO zum Ausdruck kommen. Der verfassungsrechtlichen Bedeutung der Begründungspflicht ist auch hinsichtlich der inhaltlichen Anforderungen an die Begründung Rechnung zu tragen. Dem Erfordernis einer schriftlichen Begründung ist nicht bereits genügt, wenn überhaupt eine Begründung gegeben wird. Es bedarf vielmehr einer schlüssigen, konkreten und substantiierten Darlegung der wesentlichen Erwägungen, warum aus Sicht der Behörde gerade im gegebenen Einzelfall ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung gegeben ist und das Interesse des Betroffenen am Bestehen der aufschiebenden Wirkung ausnahmsweise zurückzutreten hat (vgl. BVerwG, B.v. 18.9.2001 – 1 DB 26/01 – juris Rn. 6). Pauschale, formelhafte Formulierungen genügen diesen Anforderungen nicht (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B.v. 6.11.2014 – 10 CS 14.1796 – juris Rn. 4; B.v. 16.7.2013 – 22 AS 13.40043 – juris Rn. 11).
Unter Berücksichtigung obiger Grundsätze ist vorliegend die Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs im Lichte von § 80 Abs. 3 VwGO nicht zu beanstanden. Unter erkennbarer Berücksichtigung des Ausnahmecharakters einer derartigen Anordnung wurde der sofortige Vollzug im Falle des Antragstellers auf spezialpräventive Erwägungen gestützt, das Interesse am Sofortvollzug der Ausweisungsverfügung wurde im Einzelnen und auf nachvollziehbare Weise dargelegt. Die Antragsgegnerin hat zutreffend ausgeführt, dass die mit der Ausweisungsverfügung verfolgte spezialpräventive Zielsetzung ausnahmsweise die Anordnung des Sofortvollzuges erfordert, da die Besorgnis besteht, dass die mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr, sich bis zur Entscheidung in der Hauptsache weiter fortsetzen würde, insbesondere im Hinblick auf die gezeigte Missachtung der deutschen Rechtsordnung und der Drogensucht des Antragstellers. Sie hat weiterhin dargelegt, es sei konkret damit zu rechnen, dass der Antragsteller im Falle eines Zuwartens bis zu einer Entscheidung in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren gegen die Ausweisung erneut Straftaten – insbesondere im Bereich der Betäubungskriminalität -begehen werde, da er sich in der Vergangenheit auch von Bewährungs- und Freiheitsstrafen nicht von der Begehung weiterer Straftaten habe abhalten lassen. Vom Antragsteller gehe eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus; dies gelte umso mehr, als er keine Therapie absolviere und derzeit untherapiert sei.
Die Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 VwGO sind damit erfüllt.
C.
Weiterhin ist die Anordnung des Sofortvollzugs auch materiell rechtmäßig.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall eines gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) ganz oder teilweise anordnen und im Falle der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, wobei es zwischen dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen hat. Im Rahmen dieser Abwägung sind maßgeblich die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Erweist sich der angefochtene Bescheid bei überschlägiger Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Nur wenn bei der im Eilverfahren nur angezeigten summarischen Prüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts eine Aussage über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit nicht möglich ist, ist eine reine Interessenabwägung erforderlich (vgl. Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 77; BayVGH, B.v. 6.8.2010 – 15 CS 09.3006 – juris Rn. 20).
Dies zu Grunde gelegt bleibt der Antrag vorliegend ohne Erfolg.
1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (stRspr., vgl. z.B. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 -juris Rn. 11; BayVGH, U.v. 27.10.2017 – 10 B 16.1252-juris Rn. 25). Nach der gegenwärtigen Sach- und Rechtslage erweist sich die Ausweisung gemessen an ihren rechtlichen Grundlagen (§ 53 Abs. 1, 2 und 3 AufenthG) als voraussichtlich rechtmäßig und verletzt den Antragsteller daher nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das persönliche Verhalten des Antragstellers stellt auch gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (1.1.). Die Ausweisung ist auch unter Berücksichtigung der Interessen des Antragstellers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet (1.2.) für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich und verhältnismäßig (1.3.).
1.1. Die Ausweisung ist an den gegenüber dem Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG erhöhten Ausweisungsvoraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG zu messen, weil der Antragsteller als Familienangehöriger seines dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehörenden (türkischen) Vaters ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht gemäß Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben hat.
1.1.1. Die Annahme der Antragsgegnerin, das persönliche Verhalten des Antragstellers, das seiner Verurteilung durch das Amtsgericht München vom 15. Juli 2019 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten wegen vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei sachlich zusammentreffenden Fällen in Tateinheit mit einem Fall von Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in einem Fall mit Besitz von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit gewerbsmäßigem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln zugrunde lag, stelle unter Berücksichtigung der zahlreichen strafrechtlichen Vorverurteilungen des Antragstellers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Antragsgegnerin ist in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung, u.a. des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. BayVGH, B.v. 7.3.2019 – 10 ZB 18.2272 – juris Rn. 7; B.v. 10.4.2019 – 19 ZB 17.1535 – juris Rn. 11 jew. m.w.N.) zu Recht davon ausgegangen, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel des Klägers mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren.
Mit dieser Verurteilung hat der Antragsteller ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse geschaffen. Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG u. a. dann besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist. Dies ist beim Kläger der Fall.
1.1.2. Die Kammer ist aufgrund des Verhaltens des Antragstellers in der Vergangenheit und seiner derzeitigen Lebenssituation, wie sie sich aus den Akten und dem Vortrag der Beteiligten ergeben, davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass diese Gefahr vom Antragsteller auch gegenwärtig noch ausgeht.
Die Beurteilung hat anhand einer eigenständigen tatrichterlichen Prognose unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zu erfolgen (BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20.11 -, juris Rn. 23). Zu den relevanten Umständen, die bei der Prognose zu berücksichtigen sind, können die Höhe der verhängten Strafe gehören, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt, eine Sozialprognose, die einer etwaigen Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung zugrunde liegt, die in der Tat zum Ausdruck kommende kriminelle Energie, ob der Kläger in dasselbe soziale Umfeld, aus dem heraus er die Tat begangen hat, zurückgekehrt ist oder zurückkehren wird und welche Auswirkungen dies gegebenenfalls auf die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholungsgefahr hat (vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00 -, juris Rn. 19). Für die im Rahmen der Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr gilt ein mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts; an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U. v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 -, juris Rn. 18).
Hierbei ist zugunsten des Antragstellers zu berücksichtigen, dass er sich ausweislich des Führungsberichts der JVA in der Haft überwiegend gut führt, dort arbeitet und sich um einen Therapieplatz bemüht hat. Zudem lebt der Antragsteller in einer offensichtlich stabilen Beziehung mit seiner langjährigen Lebensgefährtin, die er nach eigenem Bekunden zu heiraten beabsichtigt. Schließlich war der Antragsteller im Zeitraum nach seiner Entlassung aus dem Maßregelvollzug im April 2014 bis Mai 2018 straffrei geblieben.
Zu Lasten des Antragstellers und für eine konkrete, erhebliche Wiederholungsgefahr sprechend ist aber zu sehen, dass der Antragsteller seit mehr als zwei Jahrzehnten straffällig ist und bei ihm eine langjährige Suchtproblematik besteht, wovon er auch selbst ausgeht. Der Antragsteller konsumiert seit seinem Jugendalter Alkohol und Betäubungsmittel in erheblichen Mengen und verspürt auch nach längeren Abstinenzzeiten offensichtlich immer wieder einen übermächtigen Konsumwunsch. Die begangenen Straftaten stehen ganz überwiegend im Zusammenhang mit dem Konsum von Alkohol und Betäubungsmitteln. Der Antragsteller hat trotz dreier im Rahmen des Maßregelvollzugs bereits erfolgreich beendeter Therapien die der Anlassverurteilung zugrundeliegenden Straftaten begangen. Derzeit befindet er sich nicht in Therapie. Selbst wenn ihm aber eine Zurückstellung nach § 35 BtMG gewährt wird, ändert dies nichts am Bestehen der Wiederholungsgefahr. Zum einen liegt im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht einmal ansatzweise eine abgeschlossene Therapie vor, die jedoch Voraussetzung für das Entfallen einer Wiederholungsgefahr wäre (vgl. BayVGH, B. v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – juris Rn. 17; B. v. 26.11.2015 – 10 ZB 14.1800 – juris Rn. 7 m. w. N.; VG München, U.v. 21.4.2016 – M 12 K 16.649 – juris Rn. 41). Zum anderen besteht angesichts der drei bereits erfolgreich absolvierten Therapien, die anders als eine Therapie nach § 35 BtMG unter den strengen Regeln des Maßregelvollzugs absolviert wurden, die konkrete und erhebliche Befürchtung, dass auch eine weitere Therapie keinen nachhaltigen Erfolg zeitigen, der Antragsteller nicht dauerhaft vom Betäubungsmittelkonsum Abstand nehmen und im Zusammenhang hiermit sodann erneut Straftaten begehen wird.
Auch die nach Angaben des Antragstellers bereits seit dem Jahr 2007 bestehende Beziehung zu seiner Lebensgefährtin und der Rückhalt, den er dort erfährt, konnten ihn nicht nachhaltig von der Begehung weiterer Betäubungsmitteldelikte abhalten. Auch das Landgericht München I -Strafvollstreckungskammerhat dementsprechend mit Beschluss vom 12. Februar 2020 eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach Verbüßung von 2/3 der verhängten Freiheitsstrafe abgelehnt. Von einem dauerhaften Einstellungswandel und einer längerfristigen Bewährung in Freiheit auch ohne den Druck und die Unterstützung der Führungsaufsicht kann demgemäß aktuell nicht ausgegangen werden (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, U.v. 23.7.2019 – 10 B 18.2464 – juris Rn. 27). Eine nicht nachhaltig gelungene berufliche Integration (nach den Feststellungen des Strafgerichts in der Anlassverurteilung und der in der Behördenakte befindlichen Rentenversicherungsübersicht hatte der Antragsteller zuletzt ALG II bezogen) sowie erhebliche Schulden des Antragstellers erschweren eine erfolgreiche Bewährung zusätzlich.
Nach alledem bestehen gewichtige, eine erfolgreiche weitere Bewährung infrage stellende Indizien bzw. Risikofaktoren, die angesichts der schwerwiegenden Betäubungsmittelstraftaten in der Gesamtschau die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr rechtfertigen.
1.2. Der konkreten, schwerwiegenden Gefahr für die Sicherheit und Ordnung, die zugleich ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse begründet, steht ein besonders schwerwiegendes Interesse des Antragstellers am weiteren Verbleib im Bundesgebiet nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber, um hier sein Berufs-, Privat- und Familienleben (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) fortsetzen zu können. Der Antragsteller ist in der Bundesrepublik Deutschland geboren, hat fast sein ganzes Leben hier verbracht und hat dementsprechend hier seine wesentliche Prägung und Entwicklung erfahren. Seine Geschwister und deren Familien, zu denen er nach Aktenlage intensiven Kontakt pflegt, sowie seine langjährige Lebensgefährtin leben ebenfalls hier. Der Antragsteller ist zudem während erheblicher Zeiträume im Bundesgebiet einer Erwerbstätigkeit nachgegangen und arbeitet auch in der Haft.
1.3. Auch unter Berücksichtigung des besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses überwiegt das öffentliche Interesse an der Ausreise des Antragstellers und ist die Ausweisung für die Wahrung des bereits dargestellten Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich.
Dabei ist im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation des Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 13.1982 – juris Rn. 44 m.w.N.). Auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG ist unter Berücksichtigung des besonderen Gefährdungsmaßstabs für die darin bezeichneten Gruppen von Ausländern eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2) AufenthG durchzuführen (vgl. dazu die Gesetzesbegründung zu § 53 Abs. 3, BT-Drs. 18/4097 S. 50; BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 13.1982 – juris Rn. 44; U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 37). In die erforderliche Abwägung nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG sind sämtliche Umstände des Einzelfalls einzustellen, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Antragstellers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat. Auch die Gefahrenprognose kann im Rahmen der Gesamtabwägung unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit von Bedeutung sein. Ferner sind stets die grund- und konventionsrechtliche Stellung des Ausländers und seiner Familie sowie die sich daraus ergebenden Gewichtungen in den Blick zu nehmen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 -, juris Rn. 18 f). Danach besteht zwar auch für sogenannte faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot. Bei der Ausweisung hier geborener beziehungsweise als Kleinkinder nach Deutschland gekommener Ausländer ist aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung tragen. Dies schließt es aus, selbst bei Begehung schwerwiegender Straftaten schematisch auf ein Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses zu schließen. Vielmehr sind der der Verurteilung zugrundeliegende konkrete Sachverhalt, die Zeitdauer seit Begehung der Tat, das Nachtatverhalten des Ausländers sowie der Verlauf der Strafhaft einschließlich etwaiger Therapien zu berücksichtigen (BVerfG, B. v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 -, juris Rn. 19; EGMR, Urteil vom 25.04.2017, Nr. 41697/12 , Rn. 46).
Die unter Berücksichtigung sämtlicher berührter Belange und Einzelfallumstände, insbesondere der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien, vorzunehmende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Antragstellers überwiegt. Dabei waren die von Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der freien Entfaltung der Persönlichkeit entsprechend ihrem Gewicht und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Die Ausreise des Antragstellers ist unerlässlich, um ein Grundinteresse der Gesellschaft zu wahren. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Antragstellers daher verhältnismäßig und rechtmäßig und zur Wahrung des mit ihr verfolgten Interesses unerlässlich.
Hinsichtlich des Ausweisungsinteresses ist zunächst auf die Tatausführungen der Anlassverurteilung hinzuweisen. Der Antragsteller hat Ende Mai / Anfang Juni 2018 in dichter zeitlicher Folge mit einer erheblichen Menge auch harter Drogen gehandelt. Ins Gewicht fällt des Weiteren die enorme Anzahl der strafrechtlichen Verurteilungen, deren Summe der tatsächlich verbüßten Haft- und Unterbringungszeiten sich auf circa elf Jahre Gesamtdauer beläuft. Zu sehen ist, dass die Strafdelinquenz zwar keine Schwerkriminalität umfasst. Vorliegend sind jedoch das sich über das gesamte Jugendlichen- und Erwachsenenleben durchgängig durchziehende straffällige Leben des Klägers und dessen parallele Drogensucht als wesentliches Motiv seiner Beschaffungskriminalität ausschlaggebend. Über mehr als 25 Jahre hinweg haben den Antragsteller weder Geldstrafen, Jugendstrafen, Erstverbüßungen, Bewährungswiderrufe, seine mehrmaligen Inhaftierungen und die mehrmaligen Drogentherapien, noch das in der Bundesrepublik geordnet geführte Leben seiner Geschwister mit ihren Familien als Halt und Vorbild gebende Verbindung davon abgehalten, weiter straffällig zu sein. Auch die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin vermochte den Antragsteller nie nachhaltig zu stabilisieren.
Hinsichtlich der Bewertung des Bleibeinteresses des Klägers war zu bedenken, dass er sich 41 Jahre und damit fast Zeit seines Lebens in Deutschland aufhält und in der Bundesrepublik den Status eines „faktischen Inländers“ genießt. Wenngleich der Kläger sein gesamtes Leben in der Bundesrepublik verbrachte, ist zu sehen, dass er während des Lebensanteils als Jugendlicher und Erwachsener, also ab Beginn der Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Lebensführung, nicht rechtstreu in der Bundesrepublik lebte. Von einer sozialen und beruflichen / wirtschaftlichen Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse kann nicht gesprochen werden. Der Antragsteller hat die Hauptschule bis zur 9. Klasse besucht. Einen Qualifizierenden Berufsschulabschluss oder Lehrabschlüsse von Ausbildungs- oder sonstigen Berufen kann der Antragsteller nicht vorweisen. Zwar ist der Antragsteller auch in Freiheit immer wieder auch für längere Zeit einer Erwerbstätigkeit nachgegangen; es ist ihm aber letztendlich nicht gelungen, sich durch eine nachhaltige, unbefristete Beschäftigung eine stabile berufliche Perspektive zu schaffen, so dass er zuletzt auf den Bezug staatlicher Transferleistungen angewiesen war. Hierdurch relativieren sich auch die fehlenden wirtschaftlichen Beziehungen in der Türkei.
Der erwachsene Antragsteller ist kinderlos und hat keine Kernfamilie gegründet. Die Beziehung zu seinen Geschwistern und deren Familien genießt den Schutz des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK; ihr kann aber vor dem Hintergrund der seit langem bestehenden Volljährigkeit sowie des Umstands, dass die Beteiligten ihre Verbindung mittels Telefon, moderner Kommunikationsmittel sowie Besuchen in der Türkei aufrechterhalten können, im Konkreten Fall kein besonderes Gewicht beigemessen werden. Die Beziehung zu der Lebensgefährtin, die nach Aktenlage die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, ist ebenfalls vor dem Hintergrund des Schutzes gemäß Art. 8 EMRK, jedoch nicht vor dem Hintergrund des Art. 6 GG in die Abwägung einzustellen. Sie unterfällt nicht dem besonderen Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG, da eine unmittelbar bevorstehende Eheschließung nicht substantiiert dargetan ist (eine Anmeldung beim Standesamt wurde bislang nicht vorgelegt; vgl. auch BayVGH, B.v. 28.11.2016 – 10 CE 16.2266 – juris Rn. 10 f). Zudem wäre das Gewicht dieser Ehe nach der ständigen Rechtsprechung des BayVGH, der die Kammer folgt, relativiert, weil die Ehe erst im Wissen um die Straftaten und die bereits erfolgte Ausweisung, somit im Wissen um eine unsichere Aufenthaltsperspektive, geschlossen würde (BayVGH, B.v. 5.11.2018 – 10 ZB 18.1710 – juris Rn. 18 m.w.N.). Auch die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin kann der Antragsteller von der Türkei aus aufrechterhalten, auch wenn dies mit erhöhten Schwierigkeiten verbunden ist. Aus besonderen Gründen oder in Härtefällen kann auch eine Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 8 AufenthG beantragt werden. Dass die Lebensgefährtin nach schweren Operationen im Januar 2019 auf die Pflege des Antragstellers angewiesen ist, wurde bereits nicht substantiiert dargelegt oder gar mittels ärztlicher Atteste glaubhaft gemacht und ist im Übrigen auch nicht ersichtlich, da der Antragsteller angesichts seiner bereits seit Juni 2018 andauernden Haftstrafe auch derzeit nicht in der Lage ist, seiner Lebensgefährtin entsprechende Hilfe zu leisten.
Dem Antragsteller ist sowohl in wirtschaftlicher als auch sozialer Hinsicht eine Integration im Land seiner Staatsangehörigkeit zumutbar. Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger der zweiten Generation, der im Haushalt seiner erstzugewanderten Eltern aufwuchs. Mithin ist er in einem türkischstämmigen Haushalt in der Bundesrepublik Deutschland in seiner Kinder- und Jugendzeit geprägt und sozialisiert worden. Angesichts dessen sowie aufgrund des Akteninhalts ist die Kammer auch zu der Überzeugung gelangt, dass der Antragsteller über hinreichende Kenntnisse der türkischen Sprache verfügt, wobei ihm im Übrigen ohne Weiteres zuzumuten ist, diese zu vertiefen. So wurde im Rahmen der im Zusammenhang mit der Anlassverurteilung durchgeführten strafrechtlichen Ermittlungen, i.e. der Überwachung der Telekommunikation eines Mittäters, festgestellt, dass der Antragsteller auf Türkisch Telefongespräche führt und Chatnachrichten in türkischer Sprache verfasst (Bl. 762 ff, 776 der Behördenakte). Welche verwandtschaftlichen Kontakte in der Türkei bestehen, ist nicht bekannt. Vor diesem Hintergrund ist es dem Antragsteller deshalb zuzumuten, sich eine eigene Existenz in der Türkei aufzubauen, selbst wenn er die deutsche Sprache besser beherrscht als die türkische Sprache. Aber auch in der Türkei kommen ihm seine deutschen Sprachkenntnisse zugute, denn diese kann er im zu suchenden Arbeitsfeld nutzen und viele Türken, vornehmlich in den Metropol- und Tourismusregionen, sprechen auch deutsch. Zweifelsohne mögen dem Antragsteller die Lebensumstände in der Bundesrepublik vertrauter sein; gleichwohl führte dieser Aspekt nicht dazu, dass er die hiesigen Lebensumstände so wertschätzte, dass er hier sein Leben rechtskonform führte. Zu sehen ist, dass der Antragsteller als 16-jähriger am 26. Februar 1988 den für Ausländer höchsten Aufenthaltsverfestigungsgrad der Niederlassungserlaubnis (seinerzeit noch unbefristete Aufenthaltserlaubnis) erhielt. Die erste Inhaftierung erfolgte im November 1989 und die nachfolgende strafrechtliche Verurteilung zu einer Jugendstrafe im Jahr 1990. Der Antragsteller hat die ihm ehedem offenstehende Möglichkeit des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit durch die allein von ihm selbst zu verantwortende anhaltende Straffälligkeit selbst vernichtet.
Dass der Antragsteller wegen der chronischen Hepatitis-B-Erkrankung derzeit der medikamentösen Behandlung bedarf, wurde nicht dargelegt. Unabhängig hiervon ist ihm eine solche aber auch in der Türkei zugänglich. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG ist es nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist.
Die Ausweisung ist nach alldem auch verhältnismäßig. Dem Antragsteller ist es zumutbar, sich in der Türkei aufzuhalten. Die Ausweisung ist somit auch unter Berücksichtigung des Art. 6 GG, Art. 2 GG und Art. 8 EMRK rechtmäßig.
2. Auch die in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene, durch Änderungsbescheid vom 15. September 2020 modifizierte und im Ermessen der Behörde stehende Befristungsentscheidung erweist sich als voraussichtlich rechtmäßig. Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf fünf Jahre bei nachgewiesener Straf-, Alkohol- und Drogenfreiheit und bei Nichterfüllung dieser Bedingung auf sieben Jahre weist keine Rechtsfehler auf.
Das im Falle einer Ausweisung gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG zwingend zu erlassende Einreise- und Aufenthaltsverbot ist von Amts wegen zu befristen, § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG. Diese unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Befristung kann gemäß § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt die längere Befristung, § 11 Abs. 2 Satz 6 AufenthG.
Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 5 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
Da es sich um eine behördliche Ermessensentscheidung handelt, kann gerichtlich nach § 114 Satz 1 VwGO nur überprüft werden, ob überhaupt Ermessen ausgeübt wurde, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesem Maßstab hat die Antragsgegnerin ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.
Die Antragsgegnerin hat bei der Bestimmung der Länge der Frist das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigt. Im Rahmen einer prognostischen Einschätzung des Einzelfalls und unter Berücksichtigung höherrangigen Rechts, also verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK kam sie in nicht zu beanstandender Weise zu der in dem angegriffenen Bescheid in Gestalt des Änderungsbescheids verfügten Fristsetzung. Dabei durfte sie nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eine Frist von über fünf Jahren festsetzen, da der Antragsteller auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist und von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die Antragsgegnerin berücksichtigte im Einzelnen, dass der Antragsteller schwere Straftaten begangen hat und von ihm eine massive Gefahr ausgeht. Unter Berücksichtigung dessen ist es auch in Abwägung mit dem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse des Antragstellers, insbesondere dessen Status eines faktischen Inländers, nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin im Rahmen ihres Ermessens bei nachgewiesener Straffreiheit einen Zeitraum von fünf Jahren für erforderlich hielt, um dem hohen Gefahrenpotential des Antragstellers hinreichend Rechnung tragen zu können. Ebenso wenig ist es zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin im Rahmen ihres Ermessens bei Nichterfüllung der Bedingung i.S.d. § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG eine Sperrfrist von sieben Jahren ab Ausreise festsetzte. Diese Fristen sind auch gemessen an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben des Art. 8 EMRK angesichts der Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter und der erheblichen Wiederholungsgefahr nicht zu beanstanden. Gegebenenfalls bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
D.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nummern 1.5 und 8.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.

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