Aktenzeichen 1 ZB 18.555
Leitsatz
Für den Beginn der Jahresfrist nach Art. 48 Abs. 4 BayVwVfG bedarf es neben der bloßen (Er-)Kenntnis der Rechtswidrigkeit des früheren Bescheids auch die Kenntnis aller für einen möglichen Vertrauensschutz und für die zu treffende Ermessensentscheidung wesentlichen Umstände. (Rn. 9) (red. LS Alexander Tauchert)
Verfahrensgang
M 1 K 17.1015 2017-10-24 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
Der Kläger wendet sich gegen die mit Bescheid des Landratsamts vom 21. Februar 2017 erfolgte Rücknahme der zuletzt mit Bescheid vom 7. Januar 2016 erteilten Verlängerung des Vorbescheids vom 1. Oktober 2002 zur Errichtung eines Einfamilienhauses auf dem Grundstück FlNr. …, Gemarkung N… … …, bis zum 29. September 2017 sowie gegen die Ablehnung seines Verlängerungsantrags. Die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 24. Oktober 2017 abgewiesen. Das Gericht hat im Wesentlichen ausgeführt‚ dass die Rücknahme des Bescheids vom 7. Januar 2016 gemäß Art. 48 BayVwVfG rechtmäßig sei. Die Verlängerung des Vorbescheids sei rechtswidrig gewesen, da es sich um ein sonstiges Vorhaben im Außenbereich handle, das öffentliche Belange beeinträchtige. Die Rücknahme sei rechtzeitig im Sinn des Art. 48 Abs. 4 BayVwVfG erfolgt. Dabei sei auf die Kenntnis des Baujuristen des Landratsamts abzustellen, der anlässlich eines anderen Bauvorhabens am 21. März 2016 von der Verlängerung des Vorbescheids erfahren habe. Auf die aus Sicht des Klägers dagegen angeführten früheren Zeitpunkte vor Erlass des Bescheids vom 7. Januar 2016 komme es nicht an. Die Rücknahme der Verlängerung des Vorbescheids sei auch ermessensgerecht. Mit Antrag vom 7. September 2017 begehrt der Kläger die Erteilung einer Baugenehmigung zur Errichtung eines Einfamilienhauses. Das Verfahren wurde ruhend gestellt.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor bzw. sind nicht dargelegt (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).
1. An der Richtigkeit des angegriffenen Urteils bestehen keine ernstlichen Zweifel im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Ernstliche Zweifel, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen‚ sind zu bejahen‚ wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG‚ B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33; B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011‚ 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG‚ B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004‚ 838). Das ist hier nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass das im Außenbereich geplante (sonstige) Wohnbauvorhaben öffentliche Belange beeinträchtigt (§ 35 Abs. 2, 3 BauGB) und die Rücknahme des Verlängerungsbescheids vom 7. Januar 2016 nicht an der Jahresfrist des Art. 48 Abs. 4 BayVwVfG scheitert.
1.1 Das Verwaltungsgericht hat die Zulässigkeit des nicht gemäß § 35 Abs. 1 BauGB privilegierten Vorhabens auf der Grundlage eines Ortstermins zu Recht verneint, weil es als sonstiges Vorhaben gemäß § 35 Abs. 2 BauBG die natürliche Eigenart der Landschaft beeinträchtigt (§ 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 Alt. 4 BauGB). Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass das klägerische Grundstück im Außenbereich liege, wird mit dem Zulassungsantrag nicht mehr infrage gestellt.
Der öffentliche Belang der natürlichen Eigenart der Landschaft dient dem Schutz der naturgegebenen Bodennutzung des Außenbereichs vor dem Eindringen einer der freien Landschaft wesensfremden Bebauung. Die Landschaft soll in ihrer natürlichen Funktion und Eigenart bewahrt bleiben. Deshalb sollen bauliche Anlagen abgewehrt werden, die der Landschaft wesensfremd sind oder die der Allgemeinheit Möglichkeiten der Erholung entziehen. Die natürliche Eigenart der Landschaft kann auch dann beeinträchtigt sein, wenn ein Vorhaben im Anschluss an eine bebaute Ortsrandlage an einem Standort im Außenbereich errichtet werden soll. Es kommt dabei nicht maßgeblich darauf an, ob das Vorhaben mehr oder weniger auffällig in Erscheinung tritt oder ob es etwa durch Bäume oder Hecken der Sicht entzogen ist. Der Belang der natürlichen Eigenart der Landschaft beinhaltet nämlich nicht nur eine optisch-ästhetische Komponente, sondern dient insbesondere auch der Bewahrung der funktionellen Bestimmung der Landwirtschaft. Eine Beeinträchtigung der natürlichen Eigenart der Landschaft kommt nur dann nicht in Betracht, wenn sich das Baugrundstück wegen seiner natürlichen Beschaffenheit weder für die Bodennutzung noch für Erholungszwecke eignet oder es seine Schutzwürdigkeit durch bereits erfolgte anderweitige Eingriffe eingebüßt hat. (vgl. BVerwG, U.v. 11.4.2002 – 4 C 4.01 – BVerwGE 116, 169; U.v. 15.5.1997 – 4 C 23.95 – BauR 1997, 988; U.v. 25.1.1985 – 4 C 29.81 – BauR 1985, 427; BayVGH, B.v. 27.11.2018 – 1 ZB 17.179 – juris Rn. 11; U.v. 17.1.2011 – 15 B 10.1446 – juris Rn. 21).
Aus der Zulassungsbegründung ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht demgegenüber unzutreffende rechtliche Maßstäbe angelegt hätte. Auch in tatsächlicher Hinsicht vermag die Zulassungsbegründung keine Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils zu begründen. Dass das Baugrundstück selbst für die Bodennutzung – wie hier als Grünfläche (UA S. 8) – nicht geeignet wäre oder es seine Schutzwürdigkeit durch bereits erfolgte anderweitige Eingriffe eingebüßt hätte, etwa weil sich auf dem Baugrundstück bereits eine Bebauung befindet (vgl. OVG RhPf, U.v. 20.4.2016 – 8 A 11046.15 – NVwZ-RR 2016, 652), macht auch der Kläger nicht geltend. Soweit der Kläger vorträgt, das Gebäude sei so situiert worden, dass Einsichtsmöglichkeiten auf das Grundstück und die darauf zu verwirklichende Bebauung stark begrenzt worden seien und das geplante Gebäude von seinem Umfang her gegenüber der übrigen Bebauung einen (nur) untergeordneten Charakter habe, übersieht er, dass es bei dem Belang „natürliche Eigenart der Landschaft“ unerheblich ist, ob das Bauvorhaben sich unauffällig in die Umgebung einfügt (vgl. BVerwG, U.v. 11.4.2002 – 4 C 4.01 – BVerwGE 116, 169; U.v. 25.1.1985 – 4 C 29.81 – BauR 1985; OVG RhPf, U.v. 20.4.2016 a.a.O.).
Da bei der Frage, ob ein Vorhaben nach § 35 Abs. 2 und 3 BauGB planungsrechtlich unzulässig ist, schon der Verstoß gegen einen der in § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB beispielhaft genannten öffentlichen Belange ausreicht (vgl. BVerwG, B.v. 8.11.1999 – 4 B 85.99 – BauR 2000, 1171), kommt es nicht darauf an, ob das Vorhaben auch zu einer städtebaulich zu missbilligenden Entstehung bzw. Erweiterung einer Splittersiedlung im Sinn von § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 BauGB führt.
1.2 Das Verwaltungsgericht hat auch zu Recht festgestellt, dass die Rücknahme des Bescheids vom 7. Januar 2016 nicht an der Jahresfrist des Art. 48 Abs. 4 BayVwVfG scheitert. Seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Landratsamts von den Tatsachen, welche die Rücknahme des rechtswidrigen Verlängerungsbescheids rechtfertigten, war noch kein Jahr vergangen, ehe der Rücknahmebescheid vom 21. Februar 2017 erlassen wurde.
Die genannte Jahresfrist beginnt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erst zu laufen, wenn dem nach der behördeninternen Geschäftsverteilung zuständigen Amtswalter alle für die Rücknahme erheblichen Tatsachen vollständig und zweifelsfrei bekannt sind (vgl. GrSen BVerwG, B.v. 19.12.1984 – GrSen 1.84 u.a. – BVerwGE 70, 356; BayVGH, U.v. 10.12.2015 – 4 BV 15.1830 – juris Rn. 47). Hierzu gehört neben der bloßen (Er-)Kenntnis der Rechtswidrigkeit des früheren Bescheids auch die Kenntnis aller für einen möglichen Vertrauensschutz und für die zu treffende Ermessensentscheidung wesentlichen Umstände. Art. 48 Abs. 4 Satz 1 BayVwVfG ist auch auf Fälle anwendbar, in denen die Behörde von den maßgeblichen Tatsachen auch schon im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts, dessen Rücknahme in Frage steht, Kenntnis hatte, also bei voller Kenntnis des entscheidungserheblichen Sachverhalts unrichtig entschieden hat (BVerwG, B.v. 19.12.1984 a.a.O.). Nach dieser vom Gesetzgeber ausdrücklich gebilligten Auslegung (vgl. BT-Drs. 10/6283 S. 5) beginnt der Fristlauf erst dann, wenn die Behörde ohne weitere Sachaufklärung objektiv in der Lage ist, unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme des Verwaltungsakts zu entscheiden (BVerwG B.v. 19.12.1984 a.a.O.); dies setzt, sofern dadurch weitere entscheidungserhebliche Tatsachen ermittelt werden können, auch eine Anhörung des Betroffenen voraus (BVerwG, B.v. 4.12.2008 – 2 B 60.08 – juris Rn. 7; U.v. 24.1.2001 – 8 C 8/00 – BVerwGE 112, 360 m.w.N.). Maßgeblich ist die Kenntnis des zuständigen Amtswalters; dass die erheblichen Tatsachen aktenkundig sind, genügt nicht (vgl. BVerwG, U.v. 24.1.2001 a.a.O.).
Gemessen an diesen Maßstäben ist die Rücknahme des Verlängerungsbescheids vom 1. Januar 2016 rechtzeitig erfolgt. Soweit der Kläger u.a. unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 11. Februar 1998 (I R 82-97) vorträgt, aufgrund der Formulierung in der Entscheidung des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Dezember 1984 (GrSen 1.84) sei für den Beginn des Fristlaufs richtigerweise auf die Kenntnis der maßgeblichen Organisationseinheit abzustellen mit der Folge, dass unabhängig von der Kenntnis des jeweiligen Bearbeiters der Inhalt der präsenten Akten der berufenen innerbehördlichen Stelle als der Behörde bekannt anzusehen sei, übersieht er, dass die Frist erst zu laufen beginnt, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt hat und ihr die für die Rücknahmeentscheidung außerdem erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind. Dient eine Anhörung des Betroffenen der Ermittlung weiterer entscheidungserheblicher Tatsachen, beginnt die Jahresfrist erst danach zu laufen (vgl. BVerwG, U.v. 24.1.2001 a.a.O.; B.v. 20.5.1988 – 7 B 79.88 – NVwZ 1988, 822; U.v. 19.7.1985 – 4 C 23.82 u.a. – NVwZ 1986, 119; GrSenat B.v. 19.12.1984 a.a.O; BFH, B.v. 21.10.1999 – VII B 133/99 – juris Rn. 18). Das Landratsamt musste jedoch, nachdem es sich grundsätzlich zur Rücknahme des Verlängerungsbescheids vom 7. Januar 2016 entschlossen hatte, auch die in der Sphäre des Klägers liegenden Ermessensgesichtspunkte berücksichtigen, so dass es einer förmlichen Anhörung nach Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG bedurfte. Die Anhörung des Klägers zur Möglichkeit der Rücknahme erfolgte mit Schreiben vom 22. März 2016, die Äußerung des Klägers erfolgte mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 31. Mai 2016. Die Rücknahme des Verlängerungsbescheids mit Bescheid vom 21. Februar 2017 erfolgte damit innerhalb der Jahresfrist des Art. 48 Abs. 4 BayVwVfG .
2. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich zugleich, dass die Streitsache keine besonderen tatsächlichen Schwierigkeiten im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO aufweist, die eine Zulassung der Berufung erforderlich machen würden. Die tatsächlichen Fragen hat das Verwaltungsgericht im Ortstermin geklärt, einen weiteren Klärungsbedarf zeigt der Kläger in der Zulassungsbegründung nicht auf. Er möchte die tatsächlichen Verhältnisse lediglich anders bewertet wissen.
3. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn eine im Zulassungsantrag formulierte Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Rechtsstreits von Bedeutung, bislang höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht geklärt und über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus relevant ist; die Frage muss ferner im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts einer berufungsgerichtlichen Klärung zugänglich sein und dieser Klärung auch bedürfen (vgl. BVerwG, B.v. 30.3.2005 – 1 B 11.05 – NVwZ 2005, 709; B.v. 9.6.1999 – 11 B 47.98 – NVwZ 1999, 1231). Die vom Kläger als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfene Frage ist aus den vorstehendend unter Nummer 1 ausgeführten Gründen nicht entscheidungserheblich.
Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen‚ da sein Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2 VwGO). Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1‚ § 47 Abs. 1 und 3‚ § 52 Abs. 1 GKG und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).