Aktenzeichen M 16 K 17.48052
VwVfG § 51
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, Abs. 8 S. 1
EMRK Art. 3, Art. 8
Leitsatz
1. Einem Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 3 S. 1 AsylG iVm § 26 Abs. 5 AsylG steht entgegen, wenn in dem Herkunftsland des Kindes (hier: Afghanistan) nie eine Familie bestanden hat, weil das Kind außerhalb des Herkunftsstaats geboren wurde (hier: Iran). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
1. Bei interessegerechter Auslegung (§ 88 VwGO) ist der Antrag so zu verstehen, dass gegen die Ablehnung des weiteren Asylantrags als unzulässig (Nr. 1 des Bescheids) Anfechtungsklage erhoben wurde und (hilfsweise) hinsichtlich der Frage des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Nr. 2 des Bescheids) eine Verpflichtungsklage (vgl. dazu BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 15 ff.).
2. So verstanden ist die Klage zulässig, aber unbegründet. Der angegriffene Bescheid des Bundesamts, mit dem der weitere Asylantrag als unzulässig und der Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 23. Dezember 2016 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG abgelehnt wurde, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 und 5 VwGO). Das Bundesamt hat den weiteren Asylantrag zu Recht als unzulässig abgelehnt (§ 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG liegen im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht vor.
3. Soweit die Klage sich gegen die Ablehnung des weiteren Asylantrags als unzulässig (Nr. 1 des Bescheids) richtet, beurteilt sie sich nach §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 71a Abs. 5 AsylG.
a) Nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn im Falle eines Folgeantrags nach § 71 AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Stellt der Ausländer nach unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Danach müsste sich die der Bundesamtsentscheidung zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zu Gunsten des Asylbewerbers geändert haben (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), neue Beweismittel vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG), oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sein (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG). § 51 Abs. 1 VwVfG fordert dabei einen schlüssigen Sachvortrag, der nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet sein darf, zur Asylberechtigung (Art. 16a GG) oder zur Zuerkennung des internationalen Schutzes (§§ 3, 4 AsylG) zu verhelfen (dazu BVerfG, B. v. 3.3.2000 – 2 BvR 39/98 – juris Rn. 32). Nach § 51 Abs. 2 VwVfG ist der Antrag nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außer Stande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.
b) Nach diesen Maßstäben hat das Bundesamt das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG zu Recht verneint. Der Vortrag des Klägers ist von vornherein und nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet, ihm zur Asylberechtigung oder Zuerkennung internationalen Schutzes zu verhelfen.
aa) Dem geltend gemachten Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 26 Abs. 5 AsylG steht entgegen, dass in Afghanistan, das als Herkunftsland des Kindes nach § 3 AsylG Bezugspunkt der Prüfung internationalen Schutzes ist (vgl. dazu Kluth in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 1.3.2020, § 3 AsylG Rn. 16), nie eine Familie bestanden hat und der Kläger dort auch nie verantwortlich für seine Tochter gewesen ist (vgl. dazu § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG; Günther in Kluth/Heusch, a.a.O., § 26 AsylG Rn. 23b, 23c; Bergmann in Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 26 AsylG Rn. 12, 16; Art. 2 Buchst j der Richtlinie 2011/95/EG). Der Kläger und Frau … haben sich im Iran kennen gelernt, wo auch die Tochter geboren wurde.
bb) Abgesehen davon steht der Zuerkennung Familienflüchtlingsschutzes, was nach § 77 Abs. 1 AsylG zu berücksichtigen war, gemäß § 26 Abs. 5 i.V.m. § 26 Abs. 4 AsylG entgegen, dass der Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Danach wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland (§ 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 1 AufenthG) oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist (§ 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG). Im letztgenannten Fall muss zusätzlich eine konkrete Wiederholungsgefahr bestehen. Diese liegt nur vor, wenn von dem Ausländer in Zukunft neue vergleichbare Straftaten ernsthaft drohen (vgl. BVerwG, U. v. 31.01.2013 – 10 C 17.12 – juris Rn. 11; BVerwG, U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00 – juris Rn. 12 ff.).
Die Voraussetzungen der 2. Alternative dieser Vorschrift sind zunächst insoweit erfüllt, als der Kläger mit Urteil des Landgerichts Augsburg vom 13. Juni 2018 wegen versuchten Mordes, rechtlich zusammentreffend mit gefährlicher Körperverletzung, zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren und drei Monaten verurteilt wurde. Insbesondere bezieht sich die Verurteilung auf eine einzelne besonders schwerwiegende Straftat und folgt nicht etwa aus einer Gesamtstrafenbildung (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 31.01.2013 – 10 C 17.12 – juris Rn. 12 ff.).
Weiterhin lässt sich hier nach den besonderen Umständen des Einzelfalls (vgl. dazu BVerwG, U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00 – juris Rn. 16; B.v. 12.10.2009 – 10 B 17.09 – juris Rn. 4) eine konkrete Wiederholungsgefahr feststellen. Insbesondere die Schwere der konkreten Straftat, die Vorgeschichte und Umstände der Begehung, aber auch die Persönlichkeit des Klägers lassen eine Wiederholung erwarten. Dass die Tat aus einer einmaligen Situation heraus entstanden oder der Kläger sich seither tiefgreifend neu orientiert hätte, ist nicht ersichtlich. Vielmehr drohen, auch angesichts der Brutalität der Tat und einer erkennbaren Verknüpfung mit Vorstellungen des Klägers zu Beziehung, Sexualität und Ehre – gegenüber der Polizei gab er nach den Feststellungen des Landgerichts Augsburg an „Ich musste es mit dem Messer machen, weil er mit meiner Frau Sex gemacht“ – ernsthaft vergleichbare Straftaten des Klägers, insbesondere bei erneuten und wahrscheinlichen Konflikten mit dem Wunsch einer (neuen) Partnerin nach selbstbestimmter Gestaltung ihres Lebens und partnerschaftlicher Beziehungen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist bei der Prognose die der gesetzlichen Regelung zugrundeliegende Wertung zu beachten, dass Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sind (BVerwG, a.a.O.). Von diesem typischen Risiko muss hier nach den Umständen des Einzelfalls ausgegangen werden.
cc) Die Sach- und Rechtslage hat sich auch mit Blick auf die Sicherheitslage in Afghanistan und unter dem Gesichtspunkt subsidiären Schutzes wegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) offenkundig nicht verändert. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende volljährige, alleinstehende und arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit weiterhin nicht von einer Gefahrenlage auszugehen ist, die zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG oder eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (vgl. nur BayVGH, B.v. 23.10.2019 – 13a ZB 19.32670 – juris Rn. 6).
Daran ist auch mit Blick auf die aktuellsten Erkenntnismittel, insbesondere den UNAMA-Bericht für 2019 (Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict, 2019) festzuhalten. U.a. ergibt sich nach den auf das Jahr 2019 bezogenen Zahlen der UN für die Provinz Kabul, die als Zielort einer Abschiebung in Betracht kommt (vgl. zum örtlichen Bezugspunkt der Gefahrenprognose BVerwG, B.v. 14.11.2012 – 10 B 22.12 – juris), bei einer Bevölkerung von 5.029.850 Einwohnern (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan i.d.F.v. 13.11.2019, S. 36) und einer Zahl von 1.563 im Jahr 2019 getöteten und verletzten Zivilpersonen (vgl. UNAMA, Afghanistan, Protection of Civilians in Armed Conflict, 2019, S. 94) ein Risiko von 1 zu 3.218 bzw. eine Gefahrendichte von 0,03%, die erheblich unter der Schwelle beachtlicher Wahrscheinlichkeit liegt (vgl. dazu BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 24). Vergleichbares gilt für die Provinz Balkh mit der Provinzhauptstadt Mazar-e-Sharif, auf die als Alternative der Kläger ebenfalls verwiesen werden kann (vgl. dazu BVerwG, B.v. 14.11.2012 – 10 B 22.12 – juris). Dort ergibt sich bei einer Einwohnerzahl von 1.475.649 Einwohnern (vgl. BFA, a.a.O., S. 61) und 277 zivilen Opfern im Jahr 2019 (vgl. UNAMA) ein Risiko von 1 zu 5.327 und eine Gefahrendichte von 0,018%. Schließlich ergibt sich für die Provinz Herat – als weitere Alternative zu Kabul – nichts anderes, dort liegt das Risiko bei einer Zahl von 400 zivilen Opfern im Jahr 2019 (vgl. UNAMA) und einer Einwohnerzahl von 2.095.117 (vgl. BFA, a.a.O., S. 106) bei 1 zu 5.238 und das Risiko bei 0,02%. Dabei geht das Gericht davon aus, dass die genannten Alternativen zu Kabul von dort – als dem Zielort einer Abschiebung – aus in rechtlich zumutbarer Weise zu erreichen wären. Insoweit kann jedenfalls auf die Möglichkeit von Inlandsflügen verwiesen werden (vgl. dazu EASO, Key Socio-Economic Indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e-Sharif, and Herat City, April 2019, S. 18, 21 f.; EASO, Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 130 f.). Aber auch für ganz Afghanistan als Bezugspunkt ergibt sich keine Überschreitung der maßgeblichen Gefahrenschwelle (vgl. BayVGH, B.v. 23.10.2019 – 13a ZB 19.32670 – juris Rn. 7); insgesamt bewegt sich die Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 in etwa auf dem Niveau von 2019 (vgl. UNAMA, a.a.O. S. 5). Nur ergänzend ist anzuführen, dass sich selbst bei einer umfassenden Beurteilung aller gefahrbegründenden Umstände, wie sie der VGH Baden-Württemberg angedacht hat, im Fall des Klägers als alleinstehenden Mannes, der in Kabul, Herat oder Mazar-e-Sharif Schutz finden kann, keine Gefahrenlage ergeben würde, die zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führt. Insoweit kann auch auf das Ergebnis der umfassenden Beurteilung von EASO (Country Guidance Afghanistan, June 2019, S. 82 ff.) und die dort genannten tatsächlichen Grundlagen der Bewertung verwiesen werden.
dd) Ebenfalls von vornherein ungeeignet, zur Zuerkennung subsidiären Schutzes – unter dem Gesichtspunkt drohender unmenschlicher Behandlung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) – zu führen, ist der Vortrag des Klägers, in Afghanistan fürchte er eine Bestrafung und Verfolgung durch den Onkel seiner früheren Freundin, Frau … Es ist bereits nicht ersichtlich, wie dieser Kenntnis von einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan erlangen und welches Interesse er noch an dem Kläger haben sollte, nachdem Frau … sich von diesem getrennt hat. Abgesehen davon würde der Onkel den Kläger aber auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auffinden. Es ist davon auszugehen, dass die großen Städte Personen, die nicht besonders profiliert und exponiert sind, sogar Schutz vor Nachstellung durch die Taliban bieten (vgl. EASO, Afghanistan, Individuals targeted by armed actors in the conflict, Dezember 2017, S. 63 f.). Umso mehr gilt das bei der hier in Rede stehenden Gefahr. Ein Meldesystem gibt es in Afghanistan nicht (vgl. Bundesamt für Migration und Asyl, Länderinformationsblatt der Staateninformation, Afghanistan, v. 29.6.2018, S. 307).
4. Aus dem Vortrag des Klägers ergibt sich auch hinsichtlich der Feststellungen zum Nichtvorliegen der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Bescheid vom 23. Dezember 2016 keine relevante Veränderung (§ 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Ferner liegen die Voraussetzungen eines Wiederaufgreifens des Verfahrens im Ermessenswege nach § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG durch teilweisen Widerruf des Bescheids vom 23. Dezember 2016 hinsichtlich der Feststellungen zu § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vor. Eine Reduzierung des behördlichen Ermessensspielraums der Beklagten auf Null mit der Folge ihrer Verpflichtung zu einem solchen Wiederaufgreifen ist nicht gegeben.
a) Wie bereits erwähnt, hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof für keine der Regionen Afghanistans die Lage derart eingeschätzt, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre. Ebenso ist hinsichtlich § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige im Allgemeinen derzeit nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (vgl. BayVGH, B.v. 23.10.2019 – 13a ZB 19.32670 – juris m.w.N.). Dies deckt sich u.a. mit der Einschätzung von EASO, das – unter dem Gesichtspunkt der internen Fluchtalternative – daran festhält, dass Kabul, Mazar-e-Sharif und Herat für alleinstehende junge Männer zumutbar sind (vgl. EASO, Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 36, 137).
So liegt es auch im Falle des Klägers. Besondere Umstände, die eine andere Beurteilung gebieten würden, sind nicht erkennbar. Der Kläger ist gesund, arbeitsfähig und verfügt über berufliche Erfahrungen, u.a. im Baubereich. Somit ist davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer zwangsweisen Rückkehr nach Afghanistan in der Lage wäre, zumindest durch Gelegenheitsarbeiten, ggf. auch in Kabul, wenigstens ein kleines Einkommen über dem Existenzminimum zu verdienen. Abgesehen davon hat er Familie in Afghanistan. Damit besteht keine Gefahr von sehr hohem Niveau dafür, dass der Kläger elementare Bedürfnisse in Afghanistan nicht befriedigen könnte, so dass der Ausweisung nach Art. 3 EMRK zwingende humanitäre Gründe entgegenstünden (vgl. dazu BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 17, 19; BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12), und würde der Kläger auch nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in eine von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung erfasste extreme Gefahrenlage geraten (vgl. dazu BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 15 ff.).
b) Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung war für die Prognose, welche Gefahren dem Kläger bei Rückkehr in das Heimatland drohen, auch keine Rückkehr des Klägers gemeinsam mit seiner Tochter bzw. der Tochter und der Mutter des Kindes, Frau …, zu Grunde zu legen.
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, eine zwar notwendig hypothetische, aber doch realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen (vg. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 16 ff. m.w.N.).
Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Denn Art. 6 GG gewährt zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, enthält aber die wertentscheidende Grundsatznorm, dass der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, und gebietet die Berücksichtigung bestehender familiärer Bindungen bei staatlichen Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation ist daher im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG/Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr – grundrechtlich geschütztes – familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen. Diese Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose setzt allerdings eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Für eine in diesem Sinne „gelebte“ Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus (BVerwG, a.a.O.).
Eine im Regelfall gemeinsame Rückkehr im Familienverband ist der Gefährdungsprognose dabei auch dann zugrunde zu legen, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für diese ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (BVerwG, a.a.O.).
bb) Nach diesen Grundsätzen ist hier schon aus tatsächlichen Gründen keine gemeinsame Rückehr des Klägers im Familienverband mit seiner Tochter bzw. seiner Tochter und Frau … zugrunde zu legen. Bereits im Zeitpunkt der Inhaftierung am 1. September 2017 (vgl. dazu Tanneberger/Fleuß in Kluth/Heusch, BekOK AuslR, Stand 1.3.2020, § 55 AufenthG Rn. 18) fehlte es an einer „gelebten“ Kernfamilie und einer Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen dem Kläger, Frau … und der gemeinsamen Tochter, aber auch im Verhältnis zwischen dem Kläger und seiner Tochter. Vielmehr hatte Frau … sich, wie das Landgericht Augsburg ausgeführt und der Kläger in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, schon mindestens ein halbes Jahr vor der Tat vom 31. August 2017 von ihm getrennt. Nachdem ihr und der Tochter mit Bescheid vom 6. Dezember 2016 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden war, war sie zudem gemeinsam mit der Tochter in eine eigene Wohnung gezogen. Dass dem Kläger bis zu seiner Inhaftierung gemeinsam mit Frau … das Sorgerecht zustand und er die Tochter nach seinen Angaben jede Woche zwei- bis dreimal gesehen hat, reicht nach den vorgenannten Maßstäben hingegen nicht, um eine Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zu begründen, sondern kennzeichnet vielmehr eine Begegnungsgemeinschaft (vgl. dazu auch BVerwG, 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 18; U.v. 9.12.1997 – 1 C 19.96 – juris Rn. 22). Abgesehen davon liegen aber im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erst Recht keine Anhaltspunkte dafür vor, dass nach der Haft eine Lebensgemeinschaft fortgesetzt bzw. wieder aufgenommen werden soll. Dagegen sprechen neben der Vorgeschichte auch die Länge der Freiheitsstrafe, zu der der Kläger verurteilt wurde. Wenn der Kläger in der mündlichen Verhandlung demgegenüber angab, Frau … und er hätten besprochen, dass sie nach der Haftentlassung gemeinsam leben wollten, erscheint das unrealistisch und deckt sich mit der Feststellung des Landgerichts Augsburg, der Kläger hoffe, Frau … werde sich ihm wieder zuwenden. Diese Zukunftsperspektive des Klägers steht im Übrigen auch in Gegensatz zu seiner Angabe, Frau … wolle vielleicht in ein anderes Bundesland umziehen.
cc) Abgesehen davon ist nach Auffassung des Gerichts ein Abstellen auf die hypothetische Rückkehr im Familienverband auch deswegen ausgeschlossen, weil – unter Beachtung der in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätze – der Konventions- und Grundrechtsschutz familiärer Bindungen hier aus Gründen der öffentlichen Sicherheit zurückzutreten hat, so dass eine zur Trennung des Familienverbandes führende Abschiebung und damit auch eine getrennte Betrachtung der Familienmitglieder für den Rückkehrfall rechtlich zulässig ist.
Diese Schranke, die das Bundesverwaltungsgericht in Betracht gezogen, aber bislang offen gelassen hat (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 23), ist der Figur der notwendig hypothetischen, aber gleichwohl realitätsnahen Rückkehrprognose nach Auffassung des Gerichts wesensimmanent. Ihre Grundlage findet die Regelannahme der Rückkehr im Familienverband in dem grund- und konventionsrechtlichen Schutz des bestehenden Kernfamilienverbandes, der eine getrennte Betrachtung einzelner Familienmitglieder für den Rückkehrfall in der Regel nicht zulässt und bereits das Bundesamt verpflichtet, das im Regelfall aus Art. 6 GG/Art. 8 EMRK folgende Trennungsverbot bei der Prognose über die den einzelnen Familienmitgliedern drohenden Gefahren zu beachten (vgl. BVerwG, a.a.O.). Nach dieser Konzeption kann die zwingende Annahme der Rückkehr im Familienverband nicht weiter reichen als der Schutz des Familienverbands vor Trennung aus Art. 6 GG/Art. 8 EMRK.
Nach den vom Bundesverwaltungsgericht insoweit in Bezug genommenen Grundsätzen folgt aus Art. 6 GG ebenso wenig wie aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ein absolutes Ausweisungsverbot für eine bestimmte Gruppe von Ausländern. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist vielmehr geklärt, dass es bei der zu prüfenden Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung einer einzelfallbezogenen Würdigung und Abwägung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers unter Beachtung der insbesondere vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien bedarf. Dabei ist auch die Gefahr der erneuten Begehung von Straftaten einzelfallbezogen in den Blick zu nehmen. Das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts eines Ausländers kann dabei im Einzelfall auch ganz erhebliche familiäre Belange zurückdrängen, wenn von dem Ausländer schwerwiegende Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen (vgl. BVerwG, B.v. 7.12.2011 – 1 B 6.11 – juris Rn. 8; B.v. 10.2.2011 – 1 B 22.10 – juris Rn. 4; BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 16 ff., 23; EGMR, Entscheidungen vom 6.6.2017 – 33809/15 – Alam v. Denmark und vom 16.5.2017 – 25748/15 – Hamasevic v. Denmark, jeweils abrufbar unter www.hudoc.echr.coe.int/eng, sowie Entscheidung v. 5.7.2005 – 46410/99 – Üner v. The Netherlands, abrufbar unter juris; Tanneberger/Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 1.11.2019, § 55 AufenthG Rn. 12 ff.).
Bei der nach diesen Maßstäben zu treffenden Abwägung überwiegen vorliegend die öffentlichen Belange die familiären Belange des Klägers, seiner Tochter sowie der Mutter des gemeinsamen Kindes. Bei der von dem Kläger begangenen Tat handelt es sich um eine besonders schwere Straftat, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung in erheblichem Maße beeinträchtigt. Versuchter Mord ist ein Kapitaldelikt, das das Leben als höchstes Schutzgut betrifft und damit die Grundinteressen der Gesellschaft berührt. Ferner drohen, wie oben festgestellt, in Zukunft ernsthaft vergleichbare Taten des Klägers. An diesem Ergebnis vermögen die Belange der im Februar 2012 geborenen Tochter des Klägers nichts zu ändern, auch angesichts der vom Kläger beschriebenen aktuellen – geringen – Intensität der Kontakte und des Alters, das die Tochter bei der Haftentlassung, auch wenn der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt werden sollte, erreicht haben wird.
Stehen somit Art. 6 GG/Art. 8 EMRK einer getrennten Betrachtung einzelner Familienmitglieder für den Rückkehrfall nicht entgegen, kommt zum Tragen, dass eine gemeinsame Rückkehr des Klägers mit seiner Tochter bzw. seiner Tochter und Frau … wirklichkeitsfremd erscheint und deshalb mit dem Erfordernis einer möglichst realitätsnahen Betrachtung der Situation im Rückkehrfall nicht in Einklang stünde. Dies ergibt sich aus den o.g. tatsächlichen Verhältnissen und Beziehungen zueinander, wird aber, ohne dass es darauf noch entscheidungserheblich ankäme, auch durch den Flüchtlingsstatus untermauert, den die Tochter und Frau … genießen (vgl. BVerwG, U.v. 21.9.1999 – 9 C 12.99 – juris Rn. 11).
5. Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO und mit dem Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.