Baurecht

Abwägungsfehlerhafter Bebauungsplan wegen Nichtermittlung eigentumsbezogener Belange bei der Ausweisung naturschutzfachlicher Ausgleichsflächen für den Abbau von Lehm

Aktenzeichen  15 N 19.1262

Datum:
28.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 4544
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 47 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 S. 1
BauGB § 1 Abs. 3 S. 1, Abs. 7 und 8, § 2 Abs. 3, § 214 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 3 S. 1, § 215 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Die dauerhafte Beschränkung eines Nutzungsrechts (hier landwirtschaftliche Nutzung) durch im Bebauungsplan festgesetzte naturschutzfachliche Ausgleichsflächen setzt voraus, dass die durch den Bebauungsplan betroffenen Eigentümerbelange in die Abwägung mit einbezogen sowie bewertet werden und gleichzeitig erwogen wird, welche Folgen sich für die Planung ergeben, wenn der Grundeigentümer deren Umsetzung zivilrechtlich verweigert. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die gesetzliche Forderung in § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB, den Mangel gegenüber der Gemeinde geltend zu machen, erfüllt auch der im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens der Gemeinde übermittelte Schriftsatz eines Antragstellers, der die den Mangel begründenden Umstände ausreichend erläutert. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der am 12. Dezember 2018 bekannt gemachte Bebauungs- und Grünordnungsplan „GI/GE – P., Deckblatt Nr. 1“ der Antragsgegnerin ist unwirksam.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Der Normenkontrollantrag hat Erfolg.
1. Der Normenkontrollantrag ist zulässig. Der Antragsteller ist antragsbefugt, weil er Eigentümer mehrerer im Plangebiet gelegener Grundstücke ist und sich gegen die seine Grundstücke (als naturschutzfachliche Ausgleichsflächen) belastenden Festsetzungen des Bebauungsplans wendet, die mit den vorgesehenen Nutzungsbeschränkungen in sein Eigentumsrecht eingreifen und dieses dauerhaft erheblich belasten. Dem Normenkontrollantrag fehlt es entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht am Rechtsschutzbedürfnis. Auch wenn die vom Landratsamt erteilte Tektur-Baugenehmigung, welche der Firma L. die Nutzung der dem Antragsteller gehörenden Grundstücke als naturschutzfachliche Ausgleichsflächen gestattet, vom Antragsteller nicht angefochten wurde, hindert dies – weil die öffentlich-rechtliche Tektur-Baugenehmigung unbeschadet der privaten Rechte Dritter ergeht – den Antragsteller nicht daran, im Verhältnis zur Firma L. zivilrechtlich weiterhin eine derartige Nutzung seiner Grundstücke zu verweigern und damit den etwaigen Vollzug der Tektur-Baugenehmigung insoweit zu verhindern. Der Antragsteller hat deshalb auch unverändert ein rechtliches Interesse daran, sich gegen die ihn dauerhaft belastenden Festsetzungen des Bebauungsplans zu wenden. Er hat sein diesbezügliches Recht entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin auch nicht durch vorangegangenes Verhalten „verwirkt“. Zwar hat sich der Antragsteller erst mit dem streitgegenständlichen Normenkontrollantrag und nicht schon während des Planaufstellungsverfahrens gegen die ihn belastenden Festsetzungen des Bebauungsplans gewandt. Er hat jedoch in der Vergangenheit zu keiner Zeit – weder gegenüber der Antragsgegnerin noch gegenüber der Firma L. – rechtsverbindlich zugesagt, die Festsetzungen des Bebauungsplans gegen sich gelten lassen zu wollen und auch sonst kein berechtigtes Vertrauen der Antragsgegnerin in eine solche Zusage begründet. Es stand ihm deshalb auch frei, die während des Planaufstellungsverfahrens erfolgten Bemühungen und Angebote der Firma L., seine Grundstücke zu erwerben, abzulehnen. Ein Verstoß gegen Treu und Glauben liegt in diesem Verhalten des Antragstellers nach alledem nicht.
2. Der Normenkontrollantrag ist auch begründet.
a) Der streitgegenständliche Bebauungsplan (= Deckblatt Nr. 1) ist unwirksam, weil er den Anforderungen des Abwägungsgebots nicht genügt.
aa) Das Abwägungsgebot verpflichtet die Antragsgegnerin, die für die Planung bedeutsamen öffentlichen und privaten Belange (Abwägungsmaterial) zu ermitteln und zu bewerten (§ 2 Abs. 3 BauGB) sowie sie gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen (§ 1 Abs. 7 BauGB). Das Abwägungsgebot gilt gemäß § 1 Abs. 8 BauGB auch für die Änderung und Ergänzung von Bebauungsplänen. Gegen das rechtsstaatlich fundierte Gebot gerechter Abwägung wird verstoßen, wenn eine Abwägung überhaupt nicht stattfindet (Abwägungsausfall), in die Abwägung an Belangen nicht eingestellt wird, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss (Abwägungsdefizit), wenn die Bedeutung dieser Belange verkannt wird (Abwägungsfehleinschätzung) oder wenn der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten Belangen in einer Weise vorgenommen wird, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht (Abwägungsdisproportionalität). Für die Abwägung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Bebauungsplan maßgebend (§ 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB).
bb) Die Antragsgegnerin hat im Rahmen des von der Firma L. initiierten Planaufstellungsverfahrens – ausweislich der Normenkontrollakte – die privaten (eigentumsbezogenen) Belange des Antragstellers nicht hinreichend ermittelt und bewertet. Der Bebauungsplan entspricht mit seinen Festsetzungen zu den naturschutzfachlichen Ausgleichsflächen (inhaltsgleich) der Genehmigungsplanung (Stand: 23.2.2017) zum Bauantrag der Firma L., welcher Gegenstand der Tektur-Baugenehmigung des Landratsamts vom 30. Juni 2017 ist. Die Frage, ob sich auf den Grundstücken des Antragstellers die geplanten und mit dem Satzungsbeschluss (vom 16.8.2017) festgesetzten naturschutzfachlichen Ausgleichsflächen tatsächlich verwirklichen lassen, wurde im Planaufstellungsverfahren nicht erörtert. Hierzu hätte jedoch Anlass bestanden, weil die Firma L. – wie der Antragsgegnerin bekannt war oder jedenfalls hätte bekannt sein müssen – nicht Eigentümerin der betroffenen Grundstücke ist. Die Antragsgegnerin konnte auch nicht im Hinblick auf den im Jahr 1983 geschlossenen Grundausbeutungsvertrag und die darauf beruhende Grunddienstbarkeit zum Lehmabbau zugunsten der Firma L. davon ausgehen, die Firma L. sei deshalb auch ohne weiteres berechtigt, die betroffenen Grundstücke (dauerhaft) als naturschutzfachliche Ausgleichsflächen zu verwenden. Abgesehen davon, dass der Grundausbeutungsvertrag das ebenfalls betroffene Grundstück mit der FlNr. 1147 schon nicht erfasst, gestattet dieser auf den sonstigen betroffenen Grundstücken auch (lediglich) den Lehmabbau und verpflichtet die Firma L. zur Rekultivierung der ausgebeuteten Grundstücke („durch die Anlagerung von Humus in mindestens gleicher Schichtstärke wie vorher“ [vgl. § 5 I Nr. 7 des Grundausbeutungsvertrags]). Dem Grundstückseigentümer (= Antragsteller) stehen jedoch die Grundstücke – insbesondere nach der Ausbeutung – „voll zur landwirtschaftlichen Nutzung zur Verfügung“ (vgl. § 5 I Nr. 4 des Grundausbeutungsvertrags). Eine dauerhafte Beschränkung dieses Nutzungsrechts durch die im Bebauungsplan festgesetzten naturschutzfachlichen Ausgleichsflächen ist damit unvereinbar. Die Antragsgegnerin hätte damit die durch den Bebauungsplan betroffenen eigentumsbezogenen Belange des Antragstellers in ihre Abwägung mit einbeziehen und bewerten müssen und gleichzeitig auch erwägen müssen, welche Folgen sich für die Planung ergeben, wenn der Antragsteller deren Umsetzung zivilrechtlich verweigert. Dass sie dies unterlassen hat, begründet schon für sich allein einen beachtlichen Abwägungsmangel (§ 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB), weil die Antragsgegnerin einen von der Planung berührten wesentlichen Belang, der ihr bekannt war oder hätte bekannt sein müssen, nicht zutreffend ermittelt und bewertet hat und dieser Mangel offensichtlich und auf das Ergebnis des Verfahrens von Einfluss gewesen ist, weil die Antragsgegnerin den Bebauungsplan ohne die darin vorgesehenen (notwendigen) naturschutzfachlichen Ausgleichsflächen nicht beschlossen hätte.
Der genannte Ermittlungs- und Bewertungsmangel ist auch nicht durch Fristablauf unbeachtlich geworden (§ 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB), weil der Antragsteller mit der Stellung des Normenkontrollantrags diesen Mangel innerhalb eines Jahres seit Bekanntmachung der Satzung (noch rechtzeitig) schriftlich (auch) gegenüber der Antragsgegnerin unter Darlegung des die Verletzung begründenden Sachverhalts geltend gemacht hat. Die gesetzliche Forderung, den Mangel gegenüber der Gemeinde geltend zu machen, erfüllt auch der im Rahmen des Normenkontrollverfahrens der Antragsgegnerin übermittelte Schriftsatz des Antragstellers, der die den Mangel begründenden Umstände ausreichend erläutert (vgl. z.B. BayVGH, U.v. 18.10.2016 – 15 N 15.2613 – juris Rn. 16).
Keiner Entscheidung bedarf es mehr darüber, ob es sich bei dem genannten Abwägungsmangel nicht nur um einen Mangel im Abwägungsvorgang, sondern gleichzeitig auch um einen Mangel im Abwägungsergebnis handelt. Letzteres wäre der Fall, wenn mit der streitgegenständlichen Festsetzung die Grenzen der planerischen Gestaltungsfreiheit überschritten wären und diese Festsetzung (als naturschutzfachliche Ausgleichsflächen) – selbst bei fehlerfreier Nachholung der Abwägung – nicht vorgenommen werden dürfte, weil sie zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis stünde (Abwägungsdisproportionalität). Daran wäre zu denken, weil die Grundstücke des Antragstellers lediglich zugunsten der betrieblichen Belange der Firma L., welche naturschutzfachliche Ausgleichsflächen benötigt, mit entsprechenden dauerhaften erheblichen (öffentlich-rechtlichen) Nutzungsbeschränkungen belastet werden sollten.
cc) Der Abwägungsmangel in Bezug auf die Festsetzungen, welche die Grundstücke des Antragstellers betreffen, führt zur Gesamtunwirksamkeit des streitgegenständlichen Bebauungsplans, weil die Antragsgegnerin nach ihrem im Planungsverfahren zum Ausdruck gekommenen Willen den Bebauungsplan ohne den unwirksamen Teil (betreffend die naturschutzfachlich als notwendig vorgesehenen Ausgleichsflächen) nicht beschlossen hätte.
b) Nach alledem kommt es auf die weitere Frage, ob der Bebauungsplan auch wegen fehlender städtebaulicher Erforderlichkeit (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB) unwirksam ist, wenn er – jedenfalls in Bezug auf die naturschutzfachlich vorgesehenen Ausgleichsflächen – wegen des fehlenden Einverständnisses des Antragstellers dauerhaft nicht verwirklicht werden kann, für die gerichtliche Entscheidung nicht mehr an.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V. mit §§ 708 ff. ZPO.
4. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).
5. Gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO muss die Antragsgegnerin die Ziffer I. der Entscheidungsformel nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils in derselben Weise veröffentlichen, wie die Rechtsvorschrift bekanntzumachen wäre.

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