Europarecht

Asylantrag eines nachgeborenen Kindes von Zweitantragstellern

Aktenzeichen  W 10 K 19.30833

Datum:
11.10.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 27190
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 31 Abs. 3 S. 1, § 71a
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3
Dublin III-VO Art. 20 Abs. 3

 

Leitsatz

Der Asylantrag eines nachgeborenen Kindes von Zweitantragstellern kann nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 iVm § 71a AsylG als unzulässig abgelehnt werden, wenn für das Kind noch kein Asylverfahren durchgeführt wurde. (Rn. 31 – 36) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. April 2019, Gz.: …, wird hinsichtlich der Klägerin zu 2) in Ziffern 2 bis 4 aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens haben die Klägerin zu 1) und die Beklagte jeweils zur Hälfte zu tragen. Gerichtkosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die zulässige, auf die Feststellung von Abschiebungsverboten beschränkte Klage ist nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf die Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote hinsichtlich Nigerias. Insoweit ist der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes rechtmäßig und verletzt die Klägerinnen nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Hinsichtlich der Klägerin zu 2) fehlt es jedoch derzeit an einer Rechtsgrundlage für die Entscheidung über zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote sowie für die Androhung der Abschiebung nach Nigeria, weshalb diese Entscheidungen in Ziffern 2 und 3 des streitgegenständlichen Bescheides hinsichtlich der Klägerin zu 2) rechtswidrig sind und diese in ihren Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Demzufolge greift das gesetzliche Wiedereinreiseverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG nicht, weshalb auch die Befristungsentscheidung in Ziffer 4 des Bescheides hinsichtlich der Klägerin zu 2) aufzuheben ist.
1. Die Klägerin zu 1) hat keinen Anspruch auf Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Nigerias. Insoweit hat insbesondere die in der mündlichen Verhandlung durchgeführte informatorische Anhörung der Klägerin zu 1) keine Erkenntnisse gebracht, welche eine gegenüber dem ablehnenden Beschluss im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes veränderte Sichtweise rechtfertigen würden.
a) Bei der Prüfung der Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG ist bei einer „tatsächlich gelebten Kernfamilie“ in der Regel zu unterstellen, dass die einzelnen Mitglieder eines Familienverbandes entweder nicht oder nur im Familienverband in das Herkunftsland zurückkehren (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris). Demzufolge ist hier darauf abzustellen, dass die Klägerinnen mit ihrem Vater bzw. traditionellen Ehemann nach Nigeria zurückkehren, welches auch ihrem in der mündlichen Verhandlung erklärten Willen entspricht. Dem steht zum einen nicht entgegen, dass der Ehemann und Vater der Klägerinnen eine Abschiebungsanordnung nach Italien erhalten hat, deren Vollzug allerdings vom erkennenden Gericht einstweilen untersagt wurde (siehe hierzu den Beschluss vom 25.7.2019, Az.: W 10 S 19.50672). Denn der Asylantrag des Ehemannes bzw. Vaters wurde in Italien abgelehnt, weshalb ihm dort kein Schutzstatus zusteht, welcher zur Unzumutbarkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat führen könnte. Sein beim Bundesamt gestellter Asylantrag wurde als unzulässig abgelehnt; der Bescheid ist nach rechtskräftiger Abweisung der dagegen erhobenen Klage (Gerichtsbescheid v. 7.5.2019, Az.: W 10 K 19.50091) unanfechtbar geworden. Damit steht fest, dass dem Ehemann und Vater der Klägerinnen die Rückkehr nach Nigeria zumutbar ist. Zum anderen ist ihm als nigerianischem Staatsangehörigen die Einreise nach Nigeria grundsätzlich auch tatsächlich und rechtlich möglich.
b) Bei dieser Sachlage liegen die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zugunsten der Klägerin zu 1) nicht vor. Nach der Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK können schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat nur in begründeten Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer dieser Vorschrift widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 23 m.w.N.). Allerdings können Ausländer kein Recht aus der EMRK auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu unterhalten. Der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach dieser Rechtsprechung allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprächen (BVerwG, a.a.O., unter Verweis auf EGMR, U.v. 27.5.2008 – N./Vereinigtes Königreich, Nr. 2656/05 – NVwZ 2008, 1334 Rn. 42, juris Leitsatz). Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte lässt sich demgegenüber keine generelle Erstreckung des Schutzes nach Art. 3 EMRK auf zu gewährleistende Standards im Heimatstaat des Betroffenen ableiten (BVerwG, a.a.O., Rn. 25). Daher können nur in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse die Garantie aus Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind. Maßgeblich ist dabei die Perspektive des abschiebenden Staates, aus dessen Sicht zu prüfen ist, ob der Betroffene durch die Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Bei dieser Prüfung stellt der EGMR grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat ab und prüft zunächst, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an welchem die Abschiebung endet (BVerfG, a.a.O., unter Verweis auf EGMR, U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681, juris Leitsatz).
Von einer derart ernsthaften Versorgungslage in Nigeria kann jedoch keine Rede sein. Nigerias Haupteinnahmequelle stammt mit etwa 80% der Gesamteinnahmen aus der Öl- und Gasförderung. Zudem sind der (informelle) Handel und die Landwirtschaft von Bedeutung, die dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bietet. Die Industrie (Zentren im Südwesten, Südosten und Norden) leidet an Energiemangel und an Defiziten bei der Infrastruktur. Weiterhin leben ca. 70% der Bevölkerung am Existenzminimum. Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner betrug im Jahr 2016 nach Angaben der Weltbank 2.178,00 US-Dollar, ist aber ungleichmäßig zwischen einer kleinen Elite und der Masse der Bevölkerung verteilt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, a.a.O., S. 23). Im Gegensatz zum Nordosten Nigerias, wo wegen der anhaltenden Sicherheitsgefährdungen eine humanitäre Krisenlage besteht und etwa 5,2 Millionen Menschen zeitweise auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen waren (vgl. Lagebericht, a.a.O., S. 10/11), ist daher die wirtschaftliche Lage im Südwesten des Landes wesentlich entspannter.
Somit ist zwar die wirtschaftliche und soziale Lage in Nigeria insgesamt schwierig und den vorhandenen sozialen Netzwerken sowie familiären Bindungen kommt eine hohe Bedeutung bei der Sicherung des Lebensunterhalts zu (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts, a.a.O., S. 18). Das erkennende Gericht hat aber keine durchgreifenden Zweifel daran, dass der Klägerin zu 1) im Anschluss an eine Rückkehr nach Nigeria die Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz sowie derjenigen ihrer Kinder mit der vorhandenen familiären Unterstützung möglich sein wird. Erforderlich und ausreichend ist insoweit, dass sie durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem und ihrer Kinder notwendigen Lebensunterhalt Notwendige erlangen kann. Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, die nicht den überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 1.2.2007 – 1 C 24.06 – NVwZ 2007, 590; OVG NRW, U.v. 17.11.2008 – 11 A 4395/04.A – juris Rn. 47).
Es ist nicht feststellbar, dass die Klägerin zu 1) eine diesen Anforderungen genügende Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, nicht vorfinden bzw. nicht nutzen können wird bzw. dass sie nicht auf die Unterstützung durch ihren Ehemann und den Vater ihrer Kinder bzw. durch im Herkunftsland lebende Verwandte zurückgreifen könnte.
Die Klägerin zu 1) hat in der mündlichen Verhandlung in Übereinstimmung mit ihrem Vortrag beim Bundesamt angegeben, dass sie sich in Nigeria vor der Ausreise mit Haare flechten und landwirtschaftlichen Arbeiten Geld verdient habe. Sie habe sich damit auch das Geld für die erste Etappe der Ausreise aus Nigeria nach Niger verdient. Des Weiteren hat sie angegeben, die Grundschule sowie die Sekundarschule besucht zu haben, was auf einen sieben- bis achtjährigen Schulbesuch und damit auf eine – orientiert an den Verhältnissen im Herkunftsland – nicht geringe Schulbildung zurückgreifen kann. Mit diesen Erfahrungen und Vorkenntnissen wird es ihr nach der Überzeugung des Gerichtes auch möglich sein, nach ihrer Rückkehr nach Nigeria zumindest mit Gelegenheitsarbeiten, welche sich auch mit ihrer Mutterrolle vereinbaren ließen, zu ihrem und ihrer Kinder Lebensunterhalt beizutragen.
Hinzu kommt, dass die Klägerin zu 1) im Herkunftsland nicht auf sich alleine gestellt wäre. Zum einen würde ihr Ehemann, der nach ihren Angaben auch der Vater ihrer Kinder ist, mit ihr gemeinsam zurückkehren. Er verfügt nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung über eine (abgebrochene) Ausbildung als Berufskraftfahrer, womit es ihm unter den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen möglich sein wird, zumindest im sogenannten informellen Sektor Arbeit zu finden und seine Familie zu ernähren. Ohnehin ist eine (formal abgeschlossene) Berufsausbildung für die Ausübung vieler handwerklicher Berufe in Nigeria nach den Erfahrungen des Gerichtes aus anderen Verfahren nicht zwingend erforderlich, vielmehr wächst man oft durch praktische Erfahrung in einen solchen Beruf hinein. Dem steht nicht entgegen, dass der Ehemann und Vater der Klägerinnen nach eigenen Angaben nicht in sein Heimatdorf zurückkehren kann. Denn es spricht nichts dagegen, dass er gemeinsam mit seinen Familienangehörigen im Heimatdorf seiner Ehefrau leben könnte.
Zum anderen leben nach den Angaben der Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung in Nigeria noch ihre Großmutter, ihre beiden Brüder sowie ihre beiden Schwestern befänden. Sie hat auch bestätigt, noch – wenngleich nicht regelmäßigen – telefonischen Kontakt mit ihrer Oma sowie mit ihren Geschwistern zu haben. So hat die Klägerin zu 1) auf Befragen ausgeführt, dass sie bei den Telefonaten mit der Oma auch ihre Geschwister grüße, die bei der Oma lebten. Die Frage, wie sich ihre Verwandten in Nigeria ihren Lebensunterhalt verdienten, hat die Klägerin damit beantwortet, dass diese in der Landwirtschaft arbeiteten. Sie arbeiteten und lebten auf einem gepachteten Bauernhof und arbeiteten auch bei anderen Landwirten als Tagelöhner. angegeben hat, im Herkunftsland bereits (wenngleich ohne Ausbildung) als Friseurin tätig gewesen zu sein und in der Landwirtschaft ihres Vaters ausgeholfen zu haben, könnte zu ihrem und ihrer Kinder Lebensunterhalt durch derartige Gelegenheitsarbeiten zumindest beitragen. Dass ihre Gesichtsdeformation dabei ein wesentliches Hindernis wäre, erschließt sich dem Gericht auch aus dem Vortrag der Klägerin nicht. Möglicherweise müsste sie deshalb in der nigerianischen Gesellschaft Diskriminierungen im Alltag gewärtigen. Sie hat aber vorgetragen, trotz ihrer sichtbaren Behinderung und der damit verbundenen Schmerzen die genannten Tätigkeiten ausgeübt zu haben. Des Weiteren ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass ihre im Herkunftsland lebenden Verwandten deshalb nicht bereit wären, der Klägerin durch Unterstützung bei der Kinderbetreuung – mit dem Effekt, dass die Klägerin arbeiten könnte – oder in finanzieller Hinsicht soweit zu helfen, dass sie mit ihren Kindern in Nigeria zumindest am Rande des Existenzminimums leben könnte.
c) Scheidet somit bereits die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aus, so liegt erst recht keine extrem zugespitzte Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung (Extremgefahr) vor.
d) Des Weiteren scheidet hinsichtlich der Klägerin zu 1) auch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der Gestalt der konkret-individuellen Gefahr für Leib oder Leben infolge der in der mündlichen Verhandlung (erstmals) vorgetragenen Gefahr der Genitalbeschneidung aus. Abgesehen davon, dass dieser Vortrag nicht im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG beachtlich ist, hat die Klägerin zu 1) nicht behauptet und ist auch sonst nicht ersichtlich, dass ihr selbst als erwachsener Frau nach der Geburt von zwei Kindern die Beschneidung droht. Hinsichtlich der Klägerin zu 2) ist dieser Gesichtspunkt im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen, da es derzeit an einer Rechtsgrundlage für die Feststellung zu zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten fehlt (§ 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG, vgl. unten).
2. Hinsichtlich der Klägerin zu 2) besteht im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keine Rechtsgrundlage für die von der Beklagten getroffene negative Feststellung, dass Abschiebungsverbote hinsichtlich Nigerias nicht vorliegen. Gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist (unter anderem) in Entscheidungen über unzulässige Asylanträge festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen. Der Asylantrag der Klägerin zu 2) wurde jedoch zu Unrecht als unzulässig abgelehnt, weshalb es an einer rechtlichen Grundlage der unter Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides getroffenen Entscheidung zu zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten fehlt. Diese Entscheidung war deshalb aufzuheben. Demzufolge ist auch die Abschiebungsandrohung hinsichtlich der Klägerin zu 2) gemäß §§ 71a Abs. 4, 34 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, 36 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG rechtswidrig und verletzt diese in ihren Rechten, weshalb die Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides insoweit ebenfalls aufzuheben war.
Die Beklagte hat den Asylantrag der Klägerin zu 2) zu Unrecht als unzulässig abgelehnt. Sie stützt diese Entscheidung zu Unrecht auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 71a Abs. 1 AsylG, weil die dort aufgestellten Voraussetzungen nicht vorliegen. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn im Falle eines Folgeantrags nach § 71 AsylG oder eines Zweitantrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Gemäß § 71a Abs. 1 AsylG ist, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat im Sinne des § 26a AsylG, für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft (nunmehr: Europäischen Union) über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) vorliegen.
Diese Voraussetzungen liegen in Bezug auf die Klägerin zu 2) jedoch nicht vor.
a) Zwar ist die Beklagte für die Prüfung des Asylantrages zuständig (vgl. zu diesem Kriterium BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 18; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, AsylG § 29 Rn. 16; Heusch in Kluth/Heusch, Beck´scher Onlinekommentar Ausländerrecht, Stand 1.5.2019, § 29 AsylG Rn. 85). Denn das Bundesamt hat zugunsten der Klägerinnen das der beklagten zustehende Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) ausgeübt. Die Ausübung des Selbsteintrittsrechtes hat den Übergang der internationalen Zuständigkeit auf den ausübenden Mitgliedstaat zur Folge, ohne dass es auf die Zuständigkeitskriterien in Kapitel III der Dublin III-VO oder die Art. 18 ff. Dublin III-VO ankäme.
b) Bei dem Asylantrag der am 8. Februar 2018 in Catania, Italien geborenen Klägerin zu 2) handelt es sich jedoch nicht um einen Zweitantrag im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG, weil für sie in Italien gerade kein Asylverfahren durchgeführt wurde.
aa) Die Regelung des Art. 20 Abs. 3 Satz 1 Dublin III-VO, wonach für die Zwecke dieser Verordnung die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden minderjährigen Familienangehörigen (i.S.d. Art. 2 g) Dublin III-VO) untrennbar mit der Situation seines (antragstellenden) Familienangehörigen verbunden ist und in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats fällt, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient, findet auf die Klägerin zu 2) tatbestandlich keine Anwendung. Zwar gilt diese Bestimmung gemäß Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-VO ebenso für Kinder, die nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, ohne dass ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese eingeleitet werden muss. Bei der Mutter der Klägerin zu 2) – der Klägerin zu 1) – handelt es sich jedoch nicht um eine Antragstellerin im Sinne des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO. Antragsteller im Sinne des Art. 2 Buchst. c Dublin III-VO ist ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde. Zwar mag der Bestimmung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO insofern ein erweitertes Begriffsverständnis des „Antragstellers“ zugrunde liegen, als auch Personen erfasst sind, deren Asylantrag in einem Mitgliedstaat unanfechtbar abgelehnt ist, die aber in einem anderen Mitgliedstaat Asyl beantragen und für die deshalb ein Wiederaufnahmeersuchen gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d, Art. 23 ff. Dublin III-VO gestellt wird. Erforderlich ist aber ein solches Wiederaufnahmeverfahren, welches für die Klägerin zu 1) infolge der Ausübung des Selbsteintrittsrechtes gerade nicht durchgeführt wurde.
bb) Eine entsprechende Anwendung der Vorschrift ist im vorliegenden Falle mangels Vergleichbarkeit der Interessenlage ausgeschlossen. Ebenso wenig kommt eine teleologische Extension des Unzulässigkeitstatbestandes des § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG in Betracht, wie sie in der Rechtsprechung für § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG im Falle nachgeborener Kinder von in anderen Mitgliedstaaten anerkannten Schutzberechtigten angenommen wird (BayVGH, B.v. 22.11.2018 – 21 ZB 18.32867 – juris Rn. 17 ff.; OVG SH, B.v. 27.3.2019 – 4 LA 68/19 – juris Rn. 5 f.; VGH BW, B.v. 14.3.2018 – A 4 S 544/18 – juris Rn. 10).
Zwar kommt auch in der vorliegenden Fallgestaltung der Rechtsgedanke des Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO zum Tragen, dass der Asylantrag eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen von einem einzigen Mitgliedstaat des Gemeinsamen Asylsystems (Art. 78 AEUV) geprüft wird. Damit soll zum einen eine rasche Klärung des für die Prüfung zuständigen Mitgliedstaates erreicht und zum anderen der Entstehung einer Sekundärmigration Asylsuchender im Gebiet der Mitgliedstaaten und somit einem „forum shopping“, d.h. der freien Wahl des günstigsten Asylstaates, entgegengewirkt werden. Eine solche Situation besteht aber auch in Fällen, in denen ein Asylsuchender in einem Mitgliedstaat unanfechtbar abgelehnt wurde und anschließend in einem anderen Mitgliedstaat (erstmals) für ein nachgeborenes Kind einen Asylantrag stellt, welcher auch im erstgenannten Mitgliedstaat hätte gestellt werden können. Auch der Gedanke der Familieneinheit im Asylverfahren (vgl. VGH BW, B.v. 14.3.2018 – A 4 S 544/18 – juris Rn. 10 m.V.a. Erwägungsgründe 13-17 der Dublin III-VO) spricht für eine teleologische Extension des § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG.
Dennoch überwiegen in der vorliegenden Fallgestaltung nach der Überzeugung des erkennenden Einzelrichters die Argumente, welche gegen einen solchen Analogieschluss sprechen. Fraglich erscheint schon, ob im Hinblick auf die Problematik der nachgeborenen Kinder von Zweitantragstellern überhaupt eine planwidrige Regelungslücke als Voraussetzung eines Analogieschlusses vorliegt, weil sich der Unionsgesetzgeber in der Dublin III-Verordnung möglicherweise von der Vorstellung leiten ließ, dass die verfahrensrechtliche Behandlung von Zweitanträgen in einem Mitgliedstaat nach unanfechtbarem Abschluss eines Asylverfahrens im ersten Asylstaat der Regelung durch die Mitgliedstaaten überlassen ist. Denn die Prüfung eines Zweitantrages ist der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin III-Verordnung systematisch nachgelagert und setzt damit zwingend voraus, dass sich der Mitgliedstaat, in welchem der Zweitantrag gestellt wird, für zuständig hält bzw. erklärt.
Des Weiteren liegt im vorliegenden Falle der Unzulässigkeit des Asylantrages der Mutter der Klägerin zu 2) gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG – anders als in den von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfassten Fällen der Schutzgewährung in einem anderen Mitgliedstaat – ein Bedürfnis für eine Prüfung des Asylantrags der Klägerin zu 2) durch die Beklagte vor. Denn das Asylbegehren der Klägerin zu 2) wurde noch in keinem anderen Mitgliedstaat geprüft und die Zuständigkeit des für ihre Mutter – die Klägerin zu 1) – zuständigen ersten Asylstaates (Italien) ist untergegangen. Aus Art. 3 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Dublin III-VO i.V.m. Art. 18 EU-GR-Charta folgt ein Rechtsanspruch eines Antragstellers auf Prüfung seines Asylbegehrens – zwar nicht in dem von ihm bestimmten, aber – in einem für ihn zuständigen Mitgliedstaat. Eine Zuständigkeit Italiens für die Prüfung des Asylbegehrens der Klägerin zu 2) in entsprechender Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-VO kommt aber nicht in Betracht, weil die Beklagte (auch) zugunsten der Klägerin zu 2) das Selbsteintrittsrecht ausgeübt hat und weil die Frist für die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO abgelaufen ist, woraus sich gemäß Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO ebenfalls die Rechtsfolge des Zuständigkeitsübergangs ergibt.
c) Auch die Voraussetzungen der übrigen Unzulässigkeitstatbestände des § 29 Abs. 1 AsylG liegen hinsichtlich der Klägerin zu 2) nicht vor, sodass dahinstehen kann, ob eine Umdeutung in eine Entscheidung nach einem dieser Tatbestände in Betracht kommt (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris). Das Bundesamt durfte somit noch nicht gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG über zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote hinsichtlich der Klägerin zu 2) entscheiden, sondern hätte zunächst ihren Asylantrag inhaltlich prüfen müssen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.

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