Aktenzeichen 25 U 1838/18
Leitsatz
In der privaten Unfallversicherung können im Rahmen der Bemessung des Invaliditätsgrades bei Funktionsbeeinträchtigungen des rumpfnäheren Gliedes auch Beeinträchtigungen rumpffernerer Glieder berücksichtigt werden. Demgemäß können etwa bei der Feststellung unfallbedingter Beeinträchtigungen des Gliedes “Hand“ eine verbliebene Funktionsfähigkeit der Finger sowie des Daumens als Bestandteile der Hand im Rahmen einer Gesamtbewertung bei der Invaliditätsbemessung berücksichtigt werden (Abgrenzung zu BGH BeckRS 2012, 3230 Rn. 19). (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
10 O 3770/16 Ver 2018-04-27 Urt LGMUENCHENII LG München II
Tenor
1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 27.04.2018, Az. 10 O 3770/16 Ver, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.
Gründe
1. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbs. 2 ZPO ist der Senat an die von dem erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte, welche hiernach die Bindung des Berufungsgerichts an die vorinstanzlichen Feststellungen entfallen lassen, können sich insbesondere aus Verfahrensfehlern ergeben, die dem Eingangsgericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind (Rimmelspacher, NJW 2002, 1897, 1901; Stackmann, NJW 2003, 169, 171; BGH NJW 2004, 1876). Ein solcher Verfahrensfehler läge namentlich vor, wenn die Beweiswürdigung in dem landgerichtlichen Urteil den Anforderungen nicht genügen würde, die von der Rechtsprechung zu § 286 Abs. 1 ZPO entwickelt worden sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung unvollständig oder in sich widersprüchlich ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (BGH NJW 1999, 3481, 3482; NJW 2004, 1876 m.w.N.). Ein Verstoß gegen Denkgesetze liegt unter anderem dann vor, wenn Umständen Indizwirkung zuerkannt werden, die sie nicht haben können, oder wenn z.B. die Ambivalenz von Indiztatsachen nicht erkannt wird (BGH NJW 1991, 1894, 1895; NJW 1997, 2757, 2759; NJW 2004,1876). Hieran gemessen ist die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht zu beanstanden.
Der Senat nimmt zunächst Bezug auf die Begründung des Ersturteils (S. 5/8, Bl. 86/89 d.A.). Die Einwendungen der Berufung sind nicht geeignet, eine hiervon abweichende Beurteilung zu rechtfertigen.
1.1. Die Rechtsprechung des BGH (vgl. BGH, Urt. V. 9. 7. 2003 – IV ZR 74/02; r+s 2003, 427) wonach die in der Gliedertaxe (§ 7 Absatz I (2) a AUB 88) enthaltene Wendung „… Funktionsunfähigkeit … einer Hand im Handgelenk …” unklar im Sinne von § 305 Absatz 2 BGB sei, da der Wortlaut „bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit einer Hand im Handgelenk” zwei Auslegungen zulasse, nämlich zum einen, dass allein auf die Funktionsunfähigkeit des Gelenks unabhängig davon, ob die Hand selbst noch teilweise funktionsfähig geblieben ist, abzustellen sei, zum anderen wegen der Gleichstellung von Verlust und Funktionsunfähigkeit, dass die Funktionsunfähigkeit der restlichen Hand maßgeblich sei, weshalb Auslegungszweifel zu Lasten des Verwenders gehen würden und es ist deshalb von der für den Versicherungsnehmer günstigeren Auslegung auszugehen sei, ist vorliegend nicht einschlägig, nachdem das Bedingungswerk der Klägerin solche unklaren Formulierungen nicht enthält (vgl. Ziff. 2.1.2.2.1. AUB 2005; Ziff. 6 „Verbesserte Gliedertaxe“ BB-AUB 2005; Anlage K 2). Allein die Funktionsunfähigkeit der Hand im Handgelenk wegen der vorliegenden Versteifung des linken Handgelenks der Beklagten führt daher nicht zu einem Invaliditätsgrad von 7/7 Handwert.
1.2. Die Feststellung der Invaliditätsgrade durch das Erstgericht auf Grundlage der Begutachtung des Sachverständigen Dr. V. ist nicht zu beanstanden. Das Erstgericht ist zu Recht den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen gefolgt. Soweit dieser im Gutachten vom 11.10.2017 (Bl. 54/59 d.A.) für die linke Hand zunächst von einem Handwert von 7/7 ausging, hatte er offensichtlich die unter 1.1. zitierte Rechtsprechung des BGH im Blick, welche aus den unter 1.1. genannten Gründen vorliegend nicht anwendbar ist. Der Sachverständige hat nach dem Hinweis des Erstgerichts daraufhin seine Einschätzung korrigiert. Er hatte im Gutachten vom 11.10.2017 dargelegt, dass die Handfunktionen seitengleich regelgerecht ausführbar seien. Sowohl Spitz- als auch Schlüsselgriff, Grob- und Feingriff und Faustschluss seien unauffällig. Die Fingerfunktionen seien von der Handgelenksversteifung links nicht betroffen. Das Karpaltunnelsyndrom beidseits sei operativ beseitigt worden und habe keine Dauerschäden hinterlassen. Der Handgelenksbruch rechts sei gut ausgeheilt und habe nur eine diskrete Bewegungseinschränkung hinterlassen.
Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen sind die vom Sachverständigen genannten Invaliditätsgrade von 3/10 Handwert links und 1/10 Handwert rechts gut nachvollziehbar. Die auf die Entscheidung des BGH vom 01.04.2015 (IV ZR 34/11) gestützten Einwendungen der Beklagten überzeugen nicht. Soweit die Argumentation der Beklagten der Rechtsprechung des BGH den Grundsatz entnehmen will, dass bei der Bestimmung des Invaliditätsgrades die körperferneren Glieder stets außer acht zu bleiben hätten und daher die Funktionsfähigkeit dieser körperferneren Glieder bei der Invaliditätsbemessung nicht berücksichtigt werden dürften, kann dem nicht gefolgt werden. Einen solchen Grundsatz hat der BGH nicht aufgestellt. Der Entscheidung ist vielmehr lediglich zu entnehmen, dass die Funktionsunfähigkeit eines rumpfnäheren Gliedes die Funktionsunfähigkeit des rumpferneren Gliedes einschließt und eine Addition der Werte aus der Gliedertaxe nicht stattfindet (a.a.O., Rn. 19 m.w.N.). Da vorliegend die unfallbedingte Beeinträchtigung des in der Gliedertaxe bezeichneten Gliedes „Hand“ festgestellt werden muss und die Finger sowie der Daumen Bestandteile der Hand sind, müssen deren verbliebene Funktionsfähigkeit selbstverständlich bei der Invaliditätsbemessung im Rahmen einer Gesamtbewertung berücksichtigt werden.
1.3. Das Landgericht hat auch zu Recht auf den Handwert abgestellt. Dass der von der Berufungsbegründung zitierten Entscheidung des OLG Naumburg ein vergleichbarer Sachverhalt zugrunde lag, ist von der Beklagten weder dargelegt, noch sonst ersichtlich. Im Übrigen sieht die hier anwendbare verbesserte Gliedertaxe sowohl für die Hand als auch für den Arm unterhalb des Ellenbogens bei Verlust oder vollständiger Funktionsunfähigkeit einen identischen Invaliditätsgrad von 70% vor, so dass sich die Unterscheidung vorliegend nicht auswirkt.
Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme nach Eingang der Berufungsbegründung bei Gericht ermäßigen sich die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).