Baurecht

Abweichung von der Einhaltung der Abstandsflächen

Aktenzeichen  M 9 K 18.5322

Datum:
24.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 19519
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6, Art. 63, Art. 65, Art. 66 Abs. 1
BauGB § 34

 

Leitsatz

1 Der neu angefügte, allenfalls deklaratorische Hinweis in Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO ändert nichts daran, dass die Erteilung einer Abweichung auch von der Einhaltung der Abstandsflächen möglich ist. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2 Bauplanungsrechtlich darf im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO an die Grenze gebaut werden, wenn im nicht beplanten Innenbereich nach der den Maßstab bildenden Bebauung Gebäude mit und ohne seitlichen Grenzabstand vorhanden sind, ohne dass eine Ordnung erkennbar ist, nach der eine abweichende Bauweise entsprechend § 22 Abs. 4 Satz 1 BauNVO vorliegt. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3 Es ist sachgerecht, eine Abweichung von der Einhaltung der Abstandsflächen dann zu erteilen, wenn der Nachbar damit einverstanden ist, da dann keine Beeinträchtigung nachbarlicher Belange vorliegt und im Regelfall keine öffentlichen Belange mehr entgegenstehen dürften. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen. 
II.    Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu tragen.
III.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.     
Die Kostenschuldnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleiche Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.
Der Bescheid der Beklagten vom 11. Oktober 2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin daher nicht in ihren Rechten; diese hat keinen Anspruch auf die beantragte Baugenehmigung, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Vorab wird, wie bereits in der mündlichen Verhandlung erörtert, zur Klarstellung darauf hingewiesen, dass kein Kerngebiet i.S. der Baunutzungsverordnung vorliegt. Es handelt sich vielmehr um den historischen Ortskern, der nach wie vor eine dörfliche Struktur hat und in der Umgebung des Vorhabensgrundstücks von landwirtschaftlichen Gebäuden geprägt wird. Planungsrechtlich handelt es sich um einen unbeplanten Innenbereich nach § 34 BauGB. Das Vorhabensgrundstück liegt im Bereich der Ortsgestaltungssatzung und der Stellplatzsatzung des Marktes.
Verfahrensgegenstand ist nach dem Ergebnis des Augenscheins und der mündlichen Verhandlung nur noch die Einhaltung der bauordnungsrechtlich vorgesehenen Abstandsflächen, § 6 OGS. Die Klägerseite hat ausdrücklich erklärt, dass sie hinsichtlich der Ansichtsfläche der Gauben die Ortsgestaltungssatzung einhalten will und wird. Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, dass mit den beantragten acht Stellplätzen und einer Doppelgarage die Stellplatzsatzung eingehalten wird; nach dem Ergebnis des Augenscheins ist die Anordnung der Stellplätze auf dem Grundstück möglich, wobei dies voraussichtlich zu einem völligen Verzicht auf Grünflächen führt.
Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO regelt, dass eine Abstandsfläche nicht erforderlich ist vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Der neu angefügte Satz 4 bestimmt, dass Art. 63 BayBO unberührt bleibt. Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von den Anforderungen dieses Gesetzes und aufgrund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere mit den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar sind, wobei die Zulassung von Abweichungen gemäß Art. 63 Abs. 2 Satz 1 BayBO eines schriftlichen und begründeten Antrags bedarf. Nach dieser klaren Rechtslage des Art. 63 BayBO ist und war es selbstverständlich, dass auch von den Abstandsflächen eine Abweichung möglich ist. An dieser bisher geltenden Rechtslage hat der neu angefügte, allenfalls deklaratorische Hinweis in Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO nichts geändert.
Im vorliegenden Fall darf nach dem Ergebnis des Augenscheins und den Plänen der Umgebungsbebauung bauplanungsrechtlich an die Grenze gebaut werden. Im nicht beplanten Innenbereich nach § 34 BauGB ist maßgeblich, ob nach der den Maßstab bildenden Bebauung Gebäude mit und ohne seitlichen Grenzabstand vorhanden sind, ohne dass eine Ordnung erkennbar ist, nach der eine abweichende Bauweise entsprechend § 22 Abs. 4 Satz 1 BauNVO vorliegt (BayVGH, U.v. 23.3.2010 – 1 BV 07.2363 zu Art. 6 BayBO a.F. m.w.N.). Dies soll nach der vorgelegten Planung, abweichend vom bisherigen Bestand, nur nach Norden durch Anbau des Hauses 1 an die Straße Taubental und im Süden durch Anbau des Hauses 2 an die Kelsstraße geplant, mit der Folge, dass dort nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO keine Abstandsflächen einzuhalten sind.
An den übrigen Seiten bedarf es einer Abweichung nach Art. 63 BayBO, da die erforderlichen Abstandsflächen nicht eingehalten werden und das 16-Meter-Privileg des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO keine Anwendung findet. Beide Häuser halten an jeweils drei Seiten die Abstandsflächen von einem H nach Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO nicht ein.
Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 BayBO liegen nicht vor. Für Haus 2 wurde keine Abweichung nach Westen beantragt, so dass es bereits an der tatbestandlichen Voraussetzung eines schriftlichen und begründeten Antrags, Art. 63 Abs. 2 Satz 1 BayBO, fehlt. Eine entsprechende Auslegung des diesbezüglichen Antrags für die Abstandsflächen im Norden und Osten ist nach der klaren Grenze des Wortlauts nicht möglich. Unter Berücksichtigung des umfangreichen Schriftwechsels und der Gespräche zwischen den Beteiligten über die Notwendigkeit der Einbeziehung der Nachbarn bei Abweichungen vom Abstandsflächenrecht bedurfte es auch keines weiteren diesbezüglichen Hinweises.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Abweichungsentscheidung liegen auch deshalb nicht vor, da nach wie vor eine Beteiligung der Nachbarn zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses nicht vorlag, Art. 66 Abs. 1 BayBO. Die Klägerin hat gegen das nach Art. 65 Abs. 2 BayBO vorgeschriebene Nachforderungsverlangen Klage erhoben. Bis zur mündlichen Verhandlung war nicht bekannt oder erkennbar, ob eine Nachbarbeteiligung durchgeführt wurde. Seitens der Klägerin wurde auch nicht darauf hingewiesen, dass ein entsprechender Antrag mit Einreichung des Bauantrags bei der Gemeinde gestellt worden war. Die Auffassung der Klägerseite, das Landratsamt als Bauaufsichtsbehörde habe die Nachbarbeteiligung selber durchzuführen, entspricht nicht der klaren Rechtslage. Das Fehlen der Nachbarbeteiligung hat zur Folge, dass die Bauvorlagen unvollständig waren und bereits deshalb die Voraussetzungen für die Erteilung einer Baugenehmigung mit Abweichungen nicht vorlagen.
Ungeachtet der fehlenden tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung hat sich die Bauaufsichtsbehörde im Rahmen des ihr eingeräumten, vom Gericht nur eingeschränkt überprüfbaren Ermessens, § 114 VwGO, ermessensfehlerfrei verhalten, in dem sie die Entscheidung über eine Abweichung von den Abstandsflächen von der Nachbarbeteiligung abhängig macht. Es ist sachgerecht, eine Abweichung dann zu erteilen, wenn der Nachbar damit einverstanden ist, da dann keine Beeinträchtigung nachbarlicher Belange vorliegt und im Regelfall keine öffentlichen Belange mehr entgegenstehen dürften. Ohne Zustimmung der Nachbarn ist es ermessensgerecht, die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen von der Beteiligung des jeweiligen Nachbarn abhängig zu machen. Die bauordnungsrechtlich geregelten Abstandsflächen sind nachbarschützend, entsprechende Abweichungen berühren unmittelbar die geschützten nachbarlichen Belange an der Wahrung eines Mindestabstands als Sozialabstand. Es ist ein Ausfluss des planungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme, dass im unbeplanten Innenbereich seine Grundlage im Gebot des Einfügens, § 34 BauGB, hat, dass ein Nachbar beteiligt wird, wenn durch geplante Abweichungen von den Abstandsflächen in ein ihm zustehendes drittschützendes Nachbarrecht eingegriffen wird. Wenn Nachbarn nicht beteiligt werden, sind die zu berücksichtigen nachbarrechtlichen Belange unbekannt und können nicht geprüft werden. Eine dennoch erteilte Abweichung wäre wegen unzureichender Würdigung der geschützten nachbarlichen Belange regelmäßig nicht ermessensgerecht, da die Ermittlung der abwägungsrelevanten Tatsachen und Umstände mit großer Wahrscheinlichkeit unvollständig wäre.
Die Klage war danach mit der Kostenfolge der §§ 154 Abs. 1 und Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO abzuweisen. Die Beigeladene hat einen Sachantrag gestellt und sich damit in ein Kostenrisiko begeben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 f. ZPO.

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