Aktenzeichen 9 ZB 17.54
Leitsatz
1. Das Rücksichtnahmegebot schützt grundsätzlich nicht vor der Möglichkeit, in andere Grundstücke von benachbarten Häusern aus Einsicht zu nehmen. Weder das Bauplanungsrecht im Allgemeinen noch das Gebot der Rücksichtnahme im speziellen vermitteln einen generellen Schutz vor unerwünschten Einblicken. Auch neu geschaffene Einsichtsmöglichkeiten begründen nicht aus sich heraus eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots. (Rn. 5) (red. LS Alexander Tauchert)
2. Allein das Zulassungsvorbringen, dass von den Dachterrassen der genehmigten Mehrfamilienhäuser aus auf den Esstisch, in das Elternschlafzimmer, die Kinderzimmer sowie auf Außenflächen (Terrasse, Rasen, Spielflächen) des Anwesens der Kläger geblickt werden kann und Sichtschutz durch blickdichte Vorhänge nur um den Preis einer Verdunkelung und damit einhergehenden Minderung der Wohnqualität erreichbar sei, lässt eine besondere unzumutbare Belastung der Kläger nicht nachvollziehbar hervortreten. (Rn. 5) (red. LS Alexander Tauchert)
3. Sowohl in (faktischen) allgemeinen als auch in reinen Wohngebieten – wie hier – sind Stellplätze und Garagen für den durch die zugelassene Nutzung notwendigen Bedarf gemäß § 12 Abs. 2 BauNVO zulässig. Die Vorschrift begründet für den Regelfall auch hinsichtlich der durch die Nutzung verursachten Lärmimmissionen eine Vermutung der Nachbarverträglichkeit. (Rn. 8) (red. LS Alexander Tauchert)
4. Eine Vermutung dafür, dass dies allein durch eine Überschreitung der in einer Stellplatzsatzung festgelegten notwendigen Anzahl von Stellplätzen der Fall sein könnte, besteht nicht (vgl. Würfel in Simon/Busse, BayBO, Stand Oktober 2018, Art. 47 Rn. 240). (Rn. 10) (red. LS Alexander Tauchert)
Verfahrensgang
W 4 K 16.416 2016-11-08 Ent VGWUERZBURG VG Würzburg
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu 1 als Gesamtschuldner. Die Beigeladene zu 2 trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Kläger wenden sich als Nachbarn gegen die dem Beigeladenen zu 1 vom Landratsamt A* … erteilte Baugenehmigung vom 9. März 2016 für den Neubau von zwei Mehrfamilienhäusern mit Tiefgarage auf den Grundstücken FlNrn. … und … Gemarkung K* … Das mit einem zweigeschossigen Wohnhaus mit Satteldach bebaute Grundstück der Kläger FlNr. … derselben Gemarkung grenzt nördlich an das Baugrundstück an. Das Verwaltungsgericht hat ihre Klage mit Urteil vom 8. November 2016 abgewiesen. Hiergegen richtet sich der Antrag auf Zulassung der Berufung der Kläger.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
Die Kläger berufen sich auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Ob solche Zweifel bestehen, ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was die Kläger innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) haben darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Daraus ergeben sich solche Zweifel nicht.
1. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass das angegriffene Bauvorhaben nach § 34 Abs. 1 und 2 BauGB bauplanungsrechtlich zulässig und insbesondere das Gebot der Rücksichtnahme nicht verletzt ist. Dies unterliegt unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens, dass das Verwaltungsgericht die von den beiden Dachterrassen des Bauvorhabens bestehende Rundumsicht auf das klägerische Anwesen und eine damit verbundene Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme außer Acht gelassen habe, keinen ernstlichen Zweifeln.
Das Rücksichtnahmegebot schützt grundsätzlich nicht vor der Möglichkeit, in andere Grundstücke von benachbarten Häusern aus Einsicht zu nehmen. Weder das Bauplanungsrecht im Allgemeinen noch das Gebot der Rücksichtnahme im speziellen vermitteln einen generellen Schutz vor unerwünschten Einblicken. Auch neu geschaffene Einsichtsmöglichkeiten begründen nicht aus sich heraus eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots. Allenfalls in besonderen, von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls geprägten Ausnahmefällen kann sich etwas anderes ergeben (vgl. BayVGH, B.v. 13.4.2018 – 15 ZB 17.342 – juris Rn. 15 m.w.N.; B.v. 1.3.2018 – 9 ZB 16.270 – juris Rn. 18). Anhaltspunkte dafür, dass ein solcher situationsbedingter Ausnahmefall hier vorliegt, lassen sich dem Zulassungsvorbringen jedoch nicht entnehmen. Eine besondere Betroffenheit schutzbedürftiger Räume, die über die herkömmlichen Einsichtnahmemöglichkeiten in Innerortslagen hinausgehende Belastungen mit sich bringen, wird nicht dargelegt (vgl. BayVGH, B.v. 6.4.2018 – 15 ZB 17.36 – juris Rn. 26). Allein das Zulassungsvorbringen, dass von den Dachterrassen der genehmigten Mehrfamilienhäuser aus auf den Esstisch, in das Elternschlafzimmer, die Kinderzimmer sowie auf Außenflächen (Terrasse, Rasen, Spielflächen) des Anwesens der Kläger geblickt werden kann und Sichtschutz durch blickdichte Vorhänge nur um den Preis einer Verdunkelung und damit einhergehenden Minderung der Wohnqualität erreichbar sei, lässt eine solche besondere unzumutbare Belastung der Kläger nicht nachvollziehbar hervortreten. Die Unzumutbarkeit kann sich entgegen der Ansicht der Kläger im unbeplanten Innenbereich – wie hier – und anders als unter Umständen in überplanten Gebieten mit entsprechenden, dem Nachbarschutz dienenden Festsetzungen (vgl. BayVGH, U.v. 24.11.2015 – 15 B 13.2414 – juris Rn. 26) mangels nachbarschützender Position auch nicht daraus ergeben, dass mit der Verwirklichung von Flachdachbauten mit Dachterrassen in der näheren Umgebung nicht gerechnet werden müsste.
Zu einer anderen Beurteilung führt auch nicht das weitere Vorbringen der Kläger, dass sich eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots ergebe, weil für die Dachterrasse der Grenzabstand nicht eingehalten werde. Allein eine (unterstellte) Verletzung des Abstandsflächenrechts (Art. 6 BayBO) würde nicht eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots indizieren (vgl. BayVGH, B.v. 13.4.2018 – 15 ZB 17.342 – juris Rn. 13 m.w.N.; B.v. 15.12.2016 – 9 ZB 15.376 – juris Rn. 13 m.w.N.). Im Übrigen war das Abstandsflächenrecht zum hier für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Baugenehmigung nicht vom Prüfprogramm des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens nach Art. 59 BayBO a.F. umfasst (vgl. Gesetz zur Änderung der Bayerischen Bauordnung und weiterer Rechtsvorschriften vom 10.7.2018, GVBl. 2018, S. 523); eine Abweichung war nicht beantragt worden.
2. Soweit das Verwaltungsgericht die geplante Tiefgarage nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 12 Abs. 2 BauNVO als planungsrechtlich zulässig erachtet und es insbesondere als ausgeschlossen angesehen hat, dass die vom An- und Abfahrtsverkehr der Tiefgaragenzufahrt ausgehende Immissionsbelastung so erheblich ist, dass für die Kläger die Grenze des Zumutbaren überschritten und ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme anzunehmen ist, unterliegt dies ebenfalls keinen ernstlichen Zweifeln.
Sowohl in (faktischen) allgemeinen als auch in reinen Wohngebieten – wie hier – sind Stellplätze und Garagen für den durch die zugelassene Nutzung notwendigen Bedarf gemäß § 12 Abs. 2 BauNVO zulässig. Die Vorschrift begründet für den Regelfall auch hinsichtlich der durch die Nutzung verursachten Lärmimmissionen eine Vermutung der Nachbarverträglichkeit. Der Grundstücksnachbar hat deshalb die Errichtung notwendiger Garagen und Stellplätze für ein Wohnbauvorhaben und die mit ihrem Betrieb üblicherweise verbundenen Immissionen der zu- und abfahrenden Kraftfahrzeuge des Anwohnerverkehrs grundsätzlich als sozialadäquat hinzunehmen (BayVGH, B.v. 19.3.2015 – 9 CS 14.2441 – juris Rn. 34 m.w.N.; BayVGH, B.v. 30.3.2018 – 15 CS 17.2532 – juris Rn. 43 m.w.N.).
Soweit die Kläger vortragen, mit den genehmigten 18 Tiefgaragenplätzen sei deren Nutzung nicht auf die Hausbewohner beschränkt, übersteigt diese Anzahl den nach der Stellplatzsatzung der Beigeladenen zu 2 für Mehrfamilienhäuser notwendigen Stellplatzbedarf zwar um drei Plätze. Das Verwaltungsgericht ist aber davon ausgegangen, dass sich die Anzahl von 18 Stellplätzen noch in einem Bereich bewegt, der auf eine Nutzung durch die Hausbewohner beschränkt sei. Dem wird im Zulassungsvorbringen nicht substantiiert entgegengetreten.
Dem Zulassungsvorbringen lassen sich auch keine greifbaren Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Nutzung der drei „zusätzlichen“ Tiefgaragenplätze zu unzumutbaren Lärmbelästigungen für die Kläger führen. Eine Vermutung dafür, dass dies allein durch eine Überschreitung der in einer Stellplatzsatzung festgelegten notwendigen Anzahl von Stellplätzen der Fall sein könnte, besteht nicht (vgl. Würfel in Simon/Busse, BayBO, Stand Oktober 2018, Art. 47 Rn. 240).
Auch im Hinblick auf die genehmigte Gesamtzahl von 18 Tiefgaragenplätzen kann nicht davon ausgegangen werden, dass durch deren Nutzung Lärmbelastungen für die Kläger ausgelöst werden, die über den oben genannten Rahmen hinausgehen. Vielmehr lässt sich abschätzen, dass diese Stellplätze am Tag eine vergleichsweise mäßige Nutzung mit sich bringen werden. Zudem steht nicht zu erwarten, dass ein nennenswerter Teil der Bewegungen in der Nachtzeit erfolgen wird (vgl. Parkplatzlärmstudie des Bayerischen Landesamtes für Umwelt, 6. Auflage 2007, Nr. 5.3 und Tabelle 6, S. 28). Dies gilt umso mehr, als die Errichtung einer Tiefgarage gegenüber einer oberirdischen Anordnung von Stellplätzen den Vorteil hat, dass sie mit dem Parken und Abfahren verbundene Geräuschbelästigungen, wie z.B. Schlagen von Autotüren, Starten von Motoren, weitgehend abschirmt (vgl. auch BVerwG, B.v. 20.3.2003 – 4 B 59/02 – juris Rn. 7).
Soweit die Kläger eine schalltechnische Begutachtung zur Einhaltung der Immissionsrichtwerte der TA Lärm vermissen, ist in der Rechtsprechung wiederholt darauf hingewiesen worden, dass für die Anwendung des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO die Umstände des Einzelfalls entscheidend sind, nicht eine schematische Orientierung an der TA Lärm (vgl. BVerwG, B.v. 20.3.2003 – 4 B 59.02 – juris Rn. 12; BayVGH, Bv. 5.9.2012 – 15 CS 12.23 – juris Rn. 17). Insbesondere kann das Spitzenpegelkriterium der TA Lärm auf nach § 12 Abs. 2 BauNVO zulässige Stellplätze nicht ohne weiteres angewendet werden (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2012 a.a.O. Rn. 17; B.v. 9.12.2016 – 15 CS 16.1417 – juris Rn. 17 m.w.N.).
Entgegen dem Zulassungsvorbringen der Kläger ist hier eine mechanische Belüftung für die Tiefgarage nicht erforderlich und als zusätzliche Lärmquelle nicht zu berücksichtigen. Die Notwendigkeit einer maschinellen Belüftung ergibt sich weder aus § 14 der Garagen- und Stellplatzverordnung (GaStellV) noch aus dem angefochtenen Bescheid vom 9. März 2016, der für die hier beantragte eingeschossige unterirdische Mittelgarage Nebenbestimmungen zur baulichen Umsetzung einer natürlichen Lüftung enthält (vgl. § 14 Abs. 2 GaStellV).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 VwGO. Da der Beigeladene zu 1 – anders als die Beigeladene zu 2 – im Zulassungsverfahren einen rechtlich die Sache förderlichen Beitrag geleistet hat, entspricht es der Billigkeit, dass er seine außergerichtlichen Kosten erstattet erhält (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG (vgl. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit); sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).