Baurecht

Variationsbreite einer genehmigten Nutzung

Aktenzeichen  M 11 K 18.737

Datum:
9.5.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 45371
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art 45, Art. 57 Abs. 4 Nr. 1, Art. 76 S. 2
VwZVG Art. 31 Abs. 2 S. 2
BauGB § 34
BauNVO § 4

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist unbegründet.
Die Regelungen des streitgegenständlichen Bescheids sind – soweit sie mit der Klage angegriffen wurden – rechtmäßig und verletzen die Klägerin daher nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
1. Die in Nummer 1 des Bescheids verfügte Nutzungsuntersagung ist rechtmäßig.
Nach Art. 76 Satz 2 BayBO kann eine Nutzungsuntersagung verfügt werden, wenn Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Regelung liegen vor.
Ein „Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften“ im Sinne des Art. 76 Satz 2 BayBO liegt grundsätzlich bereits dann vor, wenn die untersagte Nutzung formell illegal ist (z. B. Decker in Simon/Busse, BayBO, Art. 76, Rn. 282 m. w. zahlreichen Nachweisen), d. h. diese Nutzung baugenehmigungspflichtig, aber nicht durch eine bestehende Baugenehmigung gedeckt ist. Das ist hier der Fall.
Die von der Klägerin ausgeübte Nutzung liegt außerhalb der Variationsbreite der Nutzung, die am 13. Dezember 1994 für den Betrieb des „…-Markts“ genehmigt worden ist. Den vorliegenden Bauvorlagen aus dem Jahr 1994 ist zu entnehmen, dass damals der größte Teil des Erdgeschosses einen nicht durch weitere Wände unterteilten Verkaufsraum mit einer Fläche von über 340 m² beinhalten sollte. Das Lager befand sich im Kellergeschoss. Wie der Augenschein ergeben hat, nimmt der jetzige Verkaufsraum nur noch einen untergeordneten Teil des ehemaligen Verkaufsraums ein. Nach dem von der Klägerin im Rahmen des wieder zurückgenommenen Bauantrags vorgelegten Eingabeplan Grundriss Erdgeschoss beträgt diese Verkaufsfläche nur noch 30,70 m², also weniger als 10% der Verkaufsfläche des genehmigten Supermarktes. Der weitaus größte Teil des früheren Verkaufsraums ist anderen Zwecken zugeführt worden, die jedenfalls nicht unmittelbar dem Verkauf von Waren dienen (z. B. Verpackung, Lager, Kühlzellen, Büros, Besprechungsraum, Teeküche). Hinzu kommt, dass die Klägerin auch nicht das breite Spektrum der Waren eines üblichen Supermarkts mit einer Verkaufsfläche von 340 m² anbietet, sondern – jedenfalls im Wesentlichen – auf Käsewaren spezialisiert ist. Schließlich muss auch noch berücksichtigt werden, dass die Klägerin die Waren nicht nur an Endverbraucher veräußert, sondern der Betriebsbeschreibung zufolge von ihrer „Zentrale“ in … … (vgl. Absatz 2 der Betriebsbeschreibung) aus ihre weiteren Geschäfte in M* …, L* … und B** … bedient (vgl. Absatz 3 der Betriebsbeschreibung). Eine solche logistische Verteilungsfunktion hat eine typische Supermarkt-Filiale nicht.
Die Abweichungen der jetzigen Nutzung von der genehmigten Nutzung werfen in bauplanungs- und bauordnungsrechtlicher Hinsicht Fragen auf, die mit der Baugenehmigung aus dem Jahr 1994 nicht „abgearbeitet“ worden sind, woraus zu folgern ist, dass die jetzige Nutzung nicht mehr innerhalb der üblichen „Variationsbreite“ einer für einen Lebensmittel-Supermarkt erteilten Baugenehmigung liegt. Dass das Vorhaben der Klägerin in Bezug auf Geruchsimmissionen anders zu beurteilen ist als der frühere Lebensmittel-Supermarkt, geht schon allein aus der Stellungnahme des Sachgebiets Umwelt – Immissionsschutz des Landratsamts und den vom Bau- und Umweltausschuss der Gemeinde getroffenen Feststellungen bei dessen Ortsbesichtigung ohne weiteres hervor. In Bezug auf Lärmimmissionen ergibt sich ein neues Prüfungserfordernis wegen der vom früheren Supermarkt abweichenden Verkaufspraxis, die nicht nur einen Verkauf vor Ort beinhaltet, sondern auch auf Online-Handel unter Einsatz von Speditionen und Paketdiensten setzt (vgl. Betriebsbeschreibung, Blatt 25 der Akten). In bauplanungsrechtlicher Hinsicht ist sehr fraglich, ob der Betrieb der Klägerin mit dem früheren Lebensmittel-Supermarkt vergleichbar ist. Zum einen geht der Betrieb, weil von dort aus weitere Filialen bedient werden sollen, über den typischen Geschäftskreis eines Einzelhandelsgeschäfts oder Ladens hinaus. Zweitens spricht aufgrund des hohen Spezialisierungsgrades und des Online-Handels viel dafür, dass der Betrieb der Klägerin weit weniger der Nahversorgung dienen dürfte als der frühere nicht großflächige Lebensmittel-Supermarkt, dessen Produktpalette sich typischerweise vergleichbar auch in anderen Supermärkten umliegender Gemeinden gefunden haben dürfte. In bauordnungsrechtlicher Hinsicht haben die von der Klägerin vorgenommenen Umbaumaßnahmen dazu geführt, dass andere bauordnungsrechtliche Vorschriften einschlägig sind. So sind unter anderem die errichteten Büros und der Besprechungsraum allein schon in Bezug auf ihre Belichtung anders zu beurteilen als ein Verkaufsraum (Art. 45 Abs. 2 und 3 BayBO).
Die außerhalb der Variationsbreite der genehmigten Nutzung liegende Nutzungsänderung ist auch gemäß Art. 55 Abs. 1 BayBO baugenehmigungspflichtig. Insbesondere ist Art. 57 Abs. 4 Nr. 1 BayBO nicht einschlägig, wonach die Änderung der Nutzung von Anlagen verfahrensfrei ist, wenn für die neue Nutzung keine anderen öffentlich-rechtlichen Anforderungen nach Art. 60 Satz 1 und Art. 62 BayBO als für die bisherige Nutzung in Betracht kommen. Denn solche anderen öffentlich-rechtlichen Anforderungen kommen hier in Betracht. Dass ergibt sich schon allein daraus, dass die Klägerin Teile des früheren Verkaufsraums in Büros und einen Besprechungsraum ungenutzt hat. Denn insoweit ist, wie ausgeführt, in Bezug auf ihre Geeignetheit als Aufenthaltsraum eine andere Vorschrift einschlägig, die andere Anforderungen an die Belichtung stellt (Art. 45 Abs. 2 BayBO anstelle von Art. 45 Abs. 3 BayBO). Auf die Frage, ob der frühere Verkaufsraum – an den Stellen, an denen sich jetzt die Büros und der Besprechungsraum befinden – bereits den gegenüber Art. 45 Abs. 3 BayBO höheren Anforderungen des Art. 45 Abs. 2 BayBO genügt hat, kommt es dabei nicht an (so auch Lechner in Simon/Busse, BayBO, Art. 57, Rn. 418). Die (teilweise) Umnutzung eines Verkaufsraums in ein Büro oder einen anderen Aufenthaltsraum, für den in Bezug auf seine Belichtung höhere Anforderungen als bei einem Verkaufsraum gelten, ist daher stets baugenehmigungspflichtig. Unabhängig davon kommen auch in bauplanungsrechtlicher Hinsicht für den Betrieb der Klägerin andere öffentlich-rechtliche Anforderungen im Sinne des Art. 57 Abs. 4 Nr. 1 BayBO „in Betracht“. Für die Frage, ob sich ein Gewerbebetrieb, der wie derjenige der Klägerin in erster Linie auf den Verkauf von Waren angelegt ist, in die Eigenart der näheren Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB der Art der baulichen Nutzung nach einfügt, ist unter anderem wesentlich, ob die Eigenart der näheren Umgebung einem der in der BauNVO bezeichneten Baugebiete entspricht oder nicht (vgl. § 34 Abs. 2 BauGB), welches Baugebiet ggf. vorliegt, welcher der in der BauNVO verwendeten Begriffskategorie der Betrieb zuzuordnen ist (je nach Baugebiet z. B. „Laden“, „Einzelhandelsbetrieb“, „sonstiger Gewerbebetrieb“), welche Immissionen dem Betrieb zuzurechnen sind und welchem Versorgungszweck der Betrieb „dient“ (vgl. z. B. § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO). Im vorliegenden Fall ist nicht ohne weiteres anzunehmen, dass das Vorhaben wegen seines Einzugsbereichs, seiner Verteilungsfunktion für andere Filialen und wegen der hervorgerufenen Geruchs- und Lärmimmissionen mit dem früheren Lebensmittel-Supermarkt vergleichbar ist. Dies hat zur Folge, dass der neuen Nutzung aus dem Blickwinkel der maßgeblichen öffentlich-rechtlichen Vorschriften eine andere Qualität zukommt als der bisherigen Nutzung, was für eine Genehmigungspflicht ausreicht (vgl. z. B. BayVGH vom 28. Mai 2015 – 9 ZB 15.136 – juris Rn. 13).
Rechtlich nicht zu beanstanden ist ferner, dass das Landratsamt der Klägerin auch eine Nutzung zu Seminar- und Schulungszwecken untersagt hat. Die bloße Ankündigung der Klägerin, solche Veranstaltungen nicht mehr durchzuführen, reicht nicht aus, um annehmen zu können, dass insoweit von vornherein keine Gefahr mehr besteht, dass die Klägerin solche Veranstaltungen zukünftig durchführen wird. Die Betriebsbeschreibung vom 6. März 2017 beinhaltete solche Tätigkeiten. Außerdem hat die Klägerin solche Veranstaltungen im Internet angeboten und durchgeführt (vgl. Bl. 59 ff. der Akten).
Rechtmäßig ist auch die nach Art. 76 Satz 2 BayBO erforderliche Ermessensausübung des Landratsamts. Bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Nutzungsuntersagung muss die Bauaufsichtsbehörde in aller Regel nicht besonders begründen, weshalb sie von der Eingriffsbefugnis Gebrauch macht (BayVGH, Urteil vom 05.12.2005 – 1 B 03.2567 – juris Rn. 26). Das Ermessen ist im Rahmen des Art. 76 Satz 2 BayBO grundsätzlich in der Weise intendiert, dass bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen eine Nutzungsuntersagung ergehen soll. Eine Ausnahme besteht hier nicht.
Insbesondere ist das Vorhaben nicht offensichtlich genehmigungsfähig. Das ergibt sich zum einen bereits aus der Stellungnahme des Sachgebiets Umwelt Immissionsschutz vom 22. Mai 2017, wonach das Vorhaben nur bei Einhaltung diverser Nebenbestimmungen genehmigungsfähig sei. Im Übrigen ist unabhängig davon auch nicht offensichtlich, dass sich das Vorhaben der Art der baulichen Nutzung nach in die Eigenart der näheren Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 Bau GB einfügt. Das Landratsamt steht auf dem Standpunkt, dass die Eigenart der näheren Umgebung einem allgemeinen Wohngebiet im Sinne des § 4 BauNVO entspricht. Diese Ansicht ist jedenfalls keinesfalls offensichtlich unzutreffend, wie der Augenschein ergeben hat. Nach dem beim Augenschein gewonnenen Eindruck spricht viel dafür, dass in Bezug auf die Art der baulichen Nutzung die nähere Umgebung des streitgegenständlichen Anwesens im Wesentlichen der Bereich bildet, der zwischen der F* …-Straße im Westen, dem S* … im Norden und der K* … Straße im Süden bzw. Osten liegt. Die Kammer hat beim Augenschein in diesem Bereich neben dem Gewerbebetrieb der Klägerin als einzig aktiv betriebenen Gewerbebetrieb die auf dem Grundstück Flurnummer 1066/7 befindliche Tankstelle mit 4 Zapfsäulen und mit Nebennutzungen (insbesondere Getränkemarkt, Bistro, Minimarkt, Backshop) festgestellt. Ansonsten ist in diesem Bereich nur Wohnnutzung vorhanden, die nach dem gewonnenen Eindruck nicht nur quantitativ den Gebietscharakter der Umgebung deutlich mehr prägt als die vorhandene gewerbliche Nutzung. Den Bereich der näheren Umgebung weiter zu ziehen, drängt sich nicht auf. Die K* … Straße im Süden bzw. Südosten, eine relativ stark befahrene Bundesstraße, dürfte trennende Wirkung haben. Nördlich des S* … beginnt der Außenbereich. Selbst wenn man die Anwesen noch mit einbezieht, die unmittelbar westlich der F* …-Straße liegen, ändert sich der Gebietscharakter wohl nicht. Neben Wohnnutzung befindet sich auf der westlichen Seite der F* …-Straße nur ein kleinerer nicht störender Gewerbetrieb („Foto-Reparaturen-Fototechnik-Meisterbetrieb“) und ein Seniorenheim, die den Charakter eines Wohngebiets nicht infrage stellen dürften. Angesichts dessen spricht nicht wenig für die Annahme des Landratsamts, es liege ein allgemeines Wohngebiet vor. Dies hätte zur Folge, dass der Betrieb der Klägerin möglicherweise wohl nur ausnahmsweise als sonstiger nicht störender Gewerbebetrieb zugelassen werden könnte (vgl. § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO). Denn nach vorläufiger Einschätzung der Kammer spricht eher wenig dafür, dass der Betrieb der Klägerin, der auf ein schmales Warensortiment und Onlinehandel angelegt ist und zudem eine Verteilungsfunktion für weitere Filialen der Klägerin hat, als ein der Versorgung der näheren Umgebung dienender Laden im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO angesehen werden könnte. Ist jedoch ein bestimmtes Vorhaben nur ausnahmsweise zulässig, kann man nicht von einer offensichtlichen Genehmigungsfähigkeit sprechen.
2. Rechtlich nicht zu beanstanden sind auch die angegriffenen Nebenentscheidungen des Bescheids. Das angedrohte Zwangsgeld in Höhe von 10.000,- Euro ist nicht überhöht. Es bewegt sich in dem durch Art. 31 Abs. 2 Satz 1 VwZVG vorgegebenen Rahmen und ist angesichts der Einnahmen, die die Klägerin durch die formell illegale Nutzung erzielen kann, im Hinblick auf die Regelung in Art. 31 Abs. 2 Satz 2 VwZVG verhältnismäßig.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V. m. §§ 708 ff. ZPO.

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