Aktenzeichen 15 K 1181/18
FGO § 105 Abs. 3
AO § 164 Abs. 1 S. 1, § 169 Abs. 1, § 170 Abs. 2, § 181 Abs. 1, § 182 Abs. 1
Leitsatz
Tenor
1. Die Bescheide über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen … werden aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die … vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die … vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
Gründe
Die zulässige Klage ist begründet. Das FA war nicht befugt die streitigen Bescheide zu ändern.
1. Die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO sind im Streitfall nicht erfüllt.
a) Gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 AO), dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Diese Regelung gilt gemäß § 181 Abs. 1 Satz 1 AO für die gesonderten Feststellungen sinngemäß. Sie dient zum einen dazu, die vom Grundlagenbescheid ausgehende Bindungswirkung (§ 182 Abs. 1 AO) verfahrensrechtlich zur Geltung zu bringen; zum anderen trägt sie der von der Bindungswirkung ausgehenden Kompetenzverteilung im Verwaltungsverfahren Rechnung (vgl. Bundesfinanzhof-BFH-Urteil vom 8. November 2006 II R 13/05, BFH/NV 2007, 641).)
b) Nach § 35 Abs. 2 Satz 1 EStG ist bei Mitunternehmerschaften – wie der Klägerin – auch die tatsächlich zu zahlende Gewerbesteuer gesondert und einheitlich festzustellen (§ 179 Abs. 1 AO). Die tatsächlich zu zahlende Gewerbesteuer ist der im Gewerbesteuerbescheid der Kommune festgesetzte Steuerbetrag (vgl Hermann/Heuer/Raupach, Kommentar zum EStG, § 35 Anm. 53). Die Feststellung der zu zahlenden Gewerbesteuer erfolgte im Streitfall nach § 155 Abs. 2 AO i.V.m. § 162 Abs. 5 AO vorläufig im Rahmen einer Schätzung, da die Gewerbesteuerfestsetzung, die gemäß § 35 Abs. 3 Satz 2 EStG Grundlagenbescheid für die Feststellung der zu zahlenden Gewerbesteuer ist (vgl. Schmidt/Wacker, ESt-Kommentar, 37. Auflage, § 35 EStG Rz 41), zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Feststellungsbescheide – wie regelmäßig in der Verwaltungspraxis – noch nicht erfolgt war.
c) Davon ausgehend kommt eine Änderung der streitigen Bescheide nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO nicht in Betracht. Im Streitfall hat die Verwaltungsgemeinschaft die Gewerbesteuer nicht festgesetzt. Damit fehlt der Gewerbesteuerbescheid als Grundlagenbescheid, so dass die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO nach dem Wortlaut der Regelung nicht erfüllt sind.
d) Im Übrigen ist eine Änderung der streitigen Bescheide nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO im Jahr … auch gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO nicht mehr zulässig, da zu diesem Zeitpunkt bereits Feststellungsverjährung für die Feststellungsbescheide und Festsetzungsverjährung für die Gewerbesteuerfestsetzungen eingetreten war.
Die Steuererklärungen wurden … eingereicht. Gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO begann damit die 4-jährige Feststellungs- bzw. Festsetzungsfrist (§§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 181 Abs. 1 Satz 1 AO, § 1 Abs. 2 Satz Nr. 4 AO) mit Ablauf des Jahres … und endete mit Ablauf des Jahres … .
2. Auch, wenn nach § 155 Abs. 2 AO i.V.m. § 162 Abs. 5 AO zunächst in den streitigen Feststellungsbescheiden nur eine (vorläufige) Regelung hinsichtlich der tatsächlich zu zahlenden Gewerbesteuer bis zum Ergehen des Gewerbesteuerbescheids getroffen werden sollte, lässt sich hieraus keine Änderungsmöglichkeit der streitigen Bescheide herleiten.
a) Das für die Festsetzung einer Steuer zuständige FA darf nicht in eine eigenständige Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen eintreten, wenn es richtigerweise deren gesonderter Feststellung bedarf. Die sich aus § 179 Abs. 1 AO ergebende Vorgreiflichkeit des Feststellungsverfahrens steht einer Beurteilung des Sachverhalts unmittelbar im Rahmen der Steuerveranlagung entgegen (vgl. BFH-Urteile vom 24. Mai 2006 I R 93/05, BFH/NV 2007, 76). Hiervon abweichend bestimmt § 155 Abs. 2 AO, dass i.V.m. § 162 Abs. 5 AO eine in einem Grundlagenbescheid zu treffende Entscheidung im Folgebescheid vorweggenommen werden darf. Diese Vorschrift erlaubt aber nur, im Folgebescheid eine erkennbar einstweilige Regelung zu treffen, die einem noch zu erlassenden Grundlagenbescheid vorgreift (Klein/Rüsken, Kommentar zur AO, 14. Auflage, § 155 Rz. 39, m.w.N.). Daraus lässt sich nicht der Rechtssatz ableiten, die dem Folgebescheid zunächst vorläufig zu Grunde gelegte Bemessungsgrundlage entfalle, wenn die einstweilige Regelung im Folgebescheid wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist unabänderbar wird und der an sich erforderliche Grundlagenbescheid nicht oder nicht innerhalb der für ihn geltenden Feststellungsfrist ergeht (vgl. BFH-Urteil vom 8. November 2006 II R 13/05, a.a.O.). In diesen Fällen verbleibt es (mangels einer Änderungsvorschrift) bei der auf der Grundlage des § 155 Abs. 2 AO durchgeführten Steuerfestsetzung (BFH-Urteil vom 3. Dezember 2008 X R 31/05, BFH/NV 2009, 708).
b) Im Streitfall hat das FA in den streitigen Feststellungsbescheiden die tatsächlich zu zahlende Gewerbesteuer nach § 155 Abs. 2 AO i.V.m. § 162 Abs. 5 AO geschätzt. Mit Ablauf der Festsetzungsfrist für die Gewerbesteuer verbleibt es damit bei der im Schätzungswege ermittelten tatsächlich zu zahlenden Gewerbesteuer, da insoweit der erforderliche Grundlagenbescheid nicht mehr ergehen kann. Die (vorläufige) Feststellung der tatsächlich zu zahlenden Gewerbesteuer ist damit zu einer endgültigen Feststellung mit Bindungswirkung (§ 182 Abs. 1 Satz 1 AO) erstarkt (vgl. Klein/Rüsken, AO § 155 Rz. 39).
3. Ferner ergibt sich aus § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO keine Befugnis die streitigen Bescheide zu ändern, weil kein rückwirkendes Ereignis vorliegt.
a) Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerrechtliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Ob ein Ereignis steuerrechtlich in die Vergangenheit zurückwirkt, beurteilt sich allein nach den Normen des jeweils einschlägigen materiellen Steuerrechts. Aus dem Bedeutungszusammenhang, in dem die Norm steht, ergibt sich, dass der Begriff „Ereignis“ alle rechtlich bedeutsamen Vorgänge umfasst. Dazu rechnen nicht nur solche mit ausschließlich rechtlichem Bezug, sondern auch tatsächliche Lebensvorgänge. Das Ereignis muss ferner stattfinden, nachdem der Steueranspruch entstanden ist. Das Ereignis muss sich steuerlich für die Vergangenheit mit der Folge auswirken, dass der Steuerbescheid, der vor Eintritt des Ereignisses rechtmäßig war, durch den Eintritt des Ereignisses rechtswidrig wird (vgl. Beermann/von Wedelstädt, Abgabenordnung, § 175 Rz. 45). Weder der Ablauf der Feststellungsfrist noch das Unterlassen, bis zu deren Eintritt eine gesonderte Feststellung durchzuführen, stellen ein solches rückwirkendes Ereignis dar. Sie führen nicht dazu, dass „der für die Besteuerung maßgebliche Sachverhalt sich … ändert“. Die Verjährung führt dazu, dass Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlöschen (§ 47 AO), aber nicht zu einer nachträglichen Veränderung des steuerlich maßgeblichen Sachverhalts. Unterlässt es das FA, die gesonderte Feststellung bis zum Ablauf der Festsetzungsfrist durchzuführen, gilt Gleiches. Fraglich ist deshalb schon, ob überhaupt ein Ereignis vorliegt; jedenfalls führt dies aber nicht zu einer nachträglichen Veränderung des steuerlich maßgeblichen Sachverhalts (vgl. BFH-Urteil vom 8. November 2006 II R 13/05, a.a.O.).
b) Davon ausgehend kann im Streitfall der Ablauf der Festsetzungsfrist für die Gewerbesteuer nicht zu einem rückwirkenden Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO führen.
Die Verjährung führt dazu, dass die Steueransprüche hier die Gewerbesteuer mit Ablauf der Verjährungsfrist erlöschen. Der zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Feststellungsbescheide maßgebende Sachverhalt bleibt aber davon unberührt. Gewerbesteueransprüche entstehen nach § 38 AO i.V.m. § 18 Gewerbesteuergesetz mit Ablauf des Erhebungszeitraums, für den die Festsetzung vorzunehmen ist, so dass zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Bescheide, das FA zutreffend von einer zu zahlenden Gewerbesteuer ausgegangen ist.
Nach Auffassung des Senats kann die Nichtfestsetzung der Gewerbesteuer auch nicht als ein sachverhaltsänderndes Geschehen i. S. eines rückwirkenden Ereignisses ausgelegt werden. Ein Bedürfnis für eine teleologische Interpretation, die zu einem das FA besserstellenden materiellen Ergebnis führen würde, besteht nicht, da das FA die Möglichkeit hat, Besteuerungsgrundlagen, die geschätzt werden, gemäß §§ 164 Abs. 1 Satz 1, 181 Abs. 1 Satz 1 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festzustellen und bis zum Ablauf der Feststellungsverjährung des Feststellungsbescheids eine Überprüfungsmöglichkeit zu schaffen. Dies gilt auch für Folgebescheide (vgl. Klein/Rüsken AO § 164 Rz. 5).
4. Der Einwand des FA, die Entscheidung des BFH vom 8. November 2006 mit dem Aktenzeichen II R 13/05 sei im Streitfall nicht anwendbar, da sie eine Vermögensteuerfestsetzung betreffe, ist unbegründet. Maßgebend ist, dass auch im Urteilsfall zu überprüfen war, ob eine Änderungsbefugnis des Folgebescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO gegeben ist, wenn ein Grundlagenbescheid fehlt, bzw. ob die Verjährung einer Steuerfestsetzung ein rückwirkendes Ereignis darstellt (§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO). Es handelt sich hier um Tatbestandsvoraussetzungen der Korrekturvorschriften, die für alle Steuerarten gelten, auf die die Regelungen anwendbar sind.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Die Kosten des Beigeladenen sind gemäß § 139 Abs. 4 FGO erstattungsfähig, da er einen Sachantrag gestellt hat (vgl. Gräber/Stapperfend, Kommentar zur FGO, 8. Auflage, § 139 Rz. 153).
6. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und über den Vollstreckungsschutz folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.