Aktenzeichen RN 8 E 18.50731
VwGO § 123
Leitsatz
Die Fiktion der Annahme des Aufnahmegesuchs tritt bereits mit Ablauf des letzten Tages der zweimonatigen Frist des Art. 22 Abs. 1, 7 Dublin III-VO ein. Der erste Tag nach diesem Fristablauf ist bereits zur sechsmonatigen Überstellungsfrist zu zählen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Überstellung des Antragstellers nach Italien aufgrund der Mitteilung vom 28. August 2018 und der Abschiebungsanordnung vom 13. März 2018 vorläufig nicht durchgeführt werden darf.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) angeordnete Abschiebung nach Italien.
Der am … 1998 geborene Kläger, Staatsangehöriger Sierra Leones vom Volk der Fulla, reiste seinen Angaben zufolge am 13. Dezember 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und suchte am 6. Januar 2018 um Asyl nach. Am 11. Januar 2018 beantragte er förmlich seine Anerkennung als Asylberechtigter. Aufgrund eines EURODAC-Treffers stellte das Bundesamt am 12. Januar 2018 ein Übernahmeersuchen gemäß der Dublin-III-VO an Italien. Die italienischen Behörden antworteten nicht.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. März 2018 (Az. 7345497 – 272) wurde der Asylantrag als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Ziffer 2) und die Abschiebung des Antragstellers nach Italien angeordnet (Ziffer 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4). Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt: Der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Asylgesetz (AsylG) unzulässig, da Italien aufgrund der illegalen Einreise über die Außengrenze gem. Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO zuständig sei. Erkenntnisse, die auf das Vorliegen von Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG schließen ließen, würden nicht vorliegen. Es lägen (auch) keine Gründe zur Annahme von systemischen Mängeln im italienischen Asylverfahren vor. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, welche die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auszuüben, seien auch nicht ersichtlich. Die Anordnung der Abschiebung nach Italien beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Im Übrigen wird auf die Gründe des Bescheids Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 28. August 2018 kündigte die Zentrale Ausländerbehörde Niederbayern dem Antragsteller eine geplante Überstellung für den 13. September 2018 an und gab dem Antragsteller auf, an diesem Tag im Zeitraum von 3:00 bis 8:30 Uhr in der ihm zugewiesenen Unterkunft anwesend zu sein. Der Antragsteller wurde am 13. September 2018 nicht angetroffen. Ein weiterer Überstellungsversuch am 22. Oktober 2018 scheiterte laut einer Email der Zentralen Ausländerbehörde vom 23. Oktober 2018.
Mit am 6. November 2018 beim Verwaltungsgericht Regensburg eingegangenen Schriftsatz seiner Bevollmächtigten hat der Antragsteller um vorläufigen Rechtsschutz nachsuchen lassen. Zur Begründung wird geltend gemacht, dass das Verfahren besonderes eilbedürftig sei, da die Abschiebung des Antragstellers bereits für den 8. November 2018 geplant sei und die Abschiebungsanordnung im bestandskräftigen Bescheid vom 13. März 2018 vollziehbar sei. Einer Überstellung nach Italien stünden rechtliche Hindernisse entgegen, da die Überstellungsfrist abgelaufen sei. Eine Verlängerung der sechsmonatigen Frist scheide aus, da der Antragsteller nicht im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO flüchtig gewesen sei.
Der Antragsteller beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung gem. § 123 VwGO zu verpflichten, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig nicht aufgrund der früheren Mitteilung und der bestandskräftigen Abschiebungsanordnung nach Italien abgeschoben werden darf.
Eine Äußerung der Antragsgegnerin erfolgte nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Behörden- und Gerichtsakten verwiesen.
II.
Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat Erfolg.
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist vorliegend die statthafte Antragsart. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Mit einem derartigen Antrag kann der Antragsteller sein Rechtsschutzziel, einstweilen von Abschiebungsmaßnahmen verschont zu bleiben, erreichen.
2. Der Antrag ist auch begründet. Eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes darf nur ergehen, wenn der Antragsteller das Bestehen eines zu sichernden Rechts, den sog. Anordnungsanspruch, und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, den sog. Anordnungsgrund, glaubhaft macht (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgebend sind die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
a. Ein Anordnungsgrund liegt angesichts der ohne weiteres anzunehmenden Eilbedürftigkeit der Angelegenheit im Hinblick auf den – dem Gericht telefonisch bestätigten – nahen Überstellungstermin am 8. November 2018 vor.
b. Nach Aktenlage ist auch ein Anordnungsanspruch zu bejahen, weil der Antragsteller geltend machen kann, dass seine für den 8. November 2018 angekündigte Abschiebung zu diesem Zeitpunkt nicht zulässig ist. Zum beabsichtigten Termin der Abschiebung ist die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO bereits abgelaufen. Die Überstellungsfrist endete bereits am 12. September 2018 (24 Uhr), eine Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO ist nicht anzunehmen.
Für die Berechnung der in der Dublin-III-VO genannten Fristen ist Art. 42 Dublin-III-VO maßgeblich. Dieser lautet:
Artikel 42 Berechnung der Fristen
Die in dieser Verordnung vorgesehenen Fristen werden wie folgt berechnet:
a) Ist für den Anfang einer nach Tagen, Wochen oder Monaten bemessenen Frist der Zeitpunkt maßgebend, zu dem ein Ereignis eintritt oder eine Handlung vorgenommen wird, so wird bei der Berechnung dieser Frist der Tag, auf den das Ereignis oder die Handlung fällt, nicht mitgerechnet.
b) Eine nach Wochen oder Monaten bemessene Frist endet mit Ablauf des Tages, der in der letzten Woche oder im letzten Monat dieselbe Bezeichnung oder dieselbe Zahl wie der Tag trägt, an dem das Ereignis eingetreten oder die Handlung vorgenommen worden ist, von denen an die Frist zu berechnen ist. Fehlt bei einer nach Monaten bemessenen Frist im letzten Monat der für ihren Ablauf maßgebende Tag, so endet die Frist mit Ablauf des letzten Tages dieses Monats.
c) Eine Frist umfasst die Samstage, die Sonntage und alle gesetzlichen Feiertage in jedem der betroffenen Mitgliedstaaten.
Als Ausgangspunkt für die Bestimmung des Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO ist die Feststellung erforderlich, zu welchem Zeitpunkt die Annahme des Aufnahmegesuchs erfolgte, denn nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO hat die Überstellung im Fall des Antragstellers spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der „Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs“ durch den ersuchten Mitgliedstaat zu erfolgen (vgl. zum Ganzen: VG Regensburg, B.v. 21.9.2018 – Az. RN 2 S 18.50593).
Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO knüpft für den Lauf der Überstellungsfrist nicht an einen Zuständigkeitswechsel, sondern an die Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs an. Der Lauf der Überstellungsfrist wird daher von einer Handlung bzw. einem Ereignis im Sinne des Art. 42 Buchst. a Dublin-III-VO, nämlich der erklärten oder fiktiven Annahme des Gesuchs, ausgelöst. Ausschlaggebend ist daher vorliegend, zu welchem Zeitpunkt man eine fiktive Annahme des Aufnahmegesuchs als fristauslösendes Ereignis annehmen kann. Das Bundesamt geht dabei regelmäßig ohne nähere Begründung davon aus, dass das ausschlaggebende Ereignis erst am Tag nach Ablauf der Frist des Art. 22 Abs. 1 Dublin-III-VO anzusetzen sei. In der Rechtsprechung wird die Frage uneinheitlich behandelt. Teilweise werden die Berechnungen des Bundesamts in gerichtlichen Entscheidungen – zumeist allerdings ohne sie zu hinterfragen – auch übernommen (vgl. z.B. VG Gelsenkirchen, U.v. 02.09.2015 – 7a K 2546/15.A -, juris). Demgegenüber spricht jedoch eine Betrachtung der einschlägigen Regelungen dafür, dass das für die Fristberechnung maßgebliche Ereignis der Ablauf des durch Art. 22 Abs. 1 Dublin-III-VO eingeräumten Prüfungs- und Entscheidungszeitraums ist. Der Vorgang des Fristablaufs ist noch dem letzten Tag dieses Zeitraums zuzurechnen und nicht bereits dem Folgetag. Gegen den Ansatz des Bundesamts, das maßgebliche Ereignis erst am Tag nach dem Fristablauf anzusetzen, spricht u.a. auch, dass eine aktive und wirksame Annahme oder Ablehnung eines Aufnahmegesuchs nur „innerhalb“ der zweimonatigen Frist, d.h. bis zum Ende des letzten Tages (24.00 Uhr) möglich wäre (vgl. Art. 22 Abs. 1 Dublin-III-VO). Eine solche Annahmeerklärung würde aber als ausschlaggebendes Ereignis auch noch bis 24.00 Uhr den Lauf der Überstellungsfrist in Gang setzen und wäre für die Bestimmung des Fristendes nach Art. 42 Buchst. a, b Dublin-III-VO maßgeblich. Es erschließt sich nicht, aus welchen Gründen die fiktive Annahme des Aufnahmegesuchs infolge des Ablaufs der durch Art. 22 Abs. 1, 7 Dublin-III-VO eingeräumten Frist als Ersatz für die nicht erfolge Mitteilung erst am Folgetag eintreten soll, zumal auch Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO ausdrücklich davon spricht, dass von einer Zustimmung auszugehen ist, wenn eine Antwort nicht innerhalb der Frist von zwei Monaten erteilt wird. Daraus lässt sich schließen, dass auch die Fiktion der Annahme des Aufnahmegesuchs nicht erst nach Ablauf der zweimonatigen Frist (00.00 Uhr des Folgetages) sondern bereits mit Ablauf der Frist (letzter Tag 24.00 Uhr) eintritt (vgl. VG Regensburg, B.v. 21.9.2018, a.a.O).
Ein Ereignis im Sinne des Art. 42 Buchst. a Dublin-III-VO, das als Annahme des Aufnahmegesuchs gewertet werden könnte und erst auf den – dann nicht mitzurechnenden – Folgetag nach Fristende fiele, ist nicht ersichtlich. Hieran ändert nichts, dass naturgemäß der Eintritt der fiktiven Annahme des Aufnahmegesuchs erst am Folgetag nach Ablauf der Frist des Art. 22 Abs. 1, 7 Dublin-III-VO tatsächlich festgestellt werden kann. Denn es kommt nicht darauf an, zu welchem Zeitpunkt die Behörde von der (erklärten oder fiktiven) Zustimmung des ersuchten Mitgliedstaats tatsächlich Kenntnis nimmt, sondern darauf, zu welchem Zeitpunkt die Annahme zugeht bzw. fiktiv erfolgt. In die Erwägungen ist des Weiteren einzubeziehen, dass sich bei fiktiver Annahme des Gesuchs durch die Berechnungsmethode des Bundesamts die sechsmonatige Überstellungsfrist um einen Tag verlängert, da ab 00.00 Uhr des Tages nach Ablauf der Frist des Art. 22 Abs. 1, 7 Dublin-III-VO eine Abschiebung bereits zulässig ist, die Antragsgegnerin diesen Tag aber gleichzeitig als „Ereignistag“ gemäß Art. 42 Buchst. a Dublin-III-VO für den Ablauf der Überstellungsfrist nicht mitzählt. Durch Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO soll dem Beschleunigungsgrundsatz Rechnung getragen und der ersuchende Mitgliedstaat vor Benachteiligungen und Verzögerungen durch einen nicht aktiv mitwirkenden ersuchten Mitgliedstaat bewahrt werden. Es ist aber nicht anzunehmen, dass durch diese Regelung die Überstellungsfrist, die auch den Asylbewerber schützt, verlängert werden soll, wenn auch nur um einen Tag. Vielmehr spricht alles dafür, dass mit der Regelung des Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO keine andere Situation eintreten soll, als sie auch bei einer innerhalb der Frist des Art. 22 Abs. 1 Dublin-III-VO erfolgten Mitteilung entstanden wäre. So verwendet die Version der Verordnung in englischer Sprache in Art. 29 Abs. 7 Dublin-III-VO die Formulierung „shall be tantamount to accepting the request“ („ist gleichbedeutend mit der Annahme der Anfrage“). Auch dies ist ein Indiz dafür, dass die Nichtbeantwortung eines Aufnahmegesuchs keine andere (spätere) Wirkung haben soll, als die Beantwortung innerhalb noch offener Frist.
Nach alledem ist davon auszugehen, dass der Ablauf des letzten Tages der Frist des Art. 22 Abs. 1, 7 Dublin-III-VO für die Überstellungsfrist ausschlaggebend und der erste Tag nach diesem Fristablauf bereits zur sechsmonatigen Überstellungsfrist zu zählen ist (VG Regensburg, B.v. 21.9.2018, a.a.O. m.w.N.).
Dies zugrunde gelegt, wurde die sechsmonatige Überstellungsfrist mit dem Ablauf des 12. März 2018 (Datum des Übernahmeersuchens: 12. Januar 2018) als letzter Tag der Frist des Art. 22 Abs. 1, 7 Dublin-III-VO in Gang gesetzt, und endete bereits mit Ablauf des 12. September 2018. Folglich lag bereits die für den 13. September 2018 angekündigte Abschiebung außerhalb der sechsmonatigen Überstellungsfrist und die Zuständigkeit war zu diesem Zeitpunkt nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller an diesem Tag flüchtig i.S.d. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin-III-VO war, konnte daher aufgrund der bereits abgelaufenen sechsmonatigen Überstellungsfrist das Nichtantreffen des Antragstellers am 13. September 2018 nicht zu einer Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO führen. Einer Überstellung nach Italien steht somit der Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist entgegen.
Nach allem war dem Antrag daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG; deshalb ist auch die Festsetzung eines Streitwerts nicht veranlasst.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.