Baurecht

Geltendmachung der Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandsflächen und Verkehrsflächenprivileg

Aktenzeichen  1 CS 17.2240

Datum:
8.12.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 VwGO
VwGO § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO
BayBO Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO

 

Leitsatz

Zwar ist Art. 6 Abs. 2 S. 2 BayBO insoweit nachbarschützend, als der Bauherr die öffentliche Fläche nur bis zur Mitte in Anspruch nehmen kann, damit der Gegenüberlieger „mit seiner Hälfte“ ebenso verfahren kann. Dies setzt aber zunächst voraus, dass auch das Grundstück des sich auf die Verletzung des Art. 6 Abs. 2 S. 2 BayBO berufenden Dritten unmittelbar an die öffentliche Verkehrsfläche angrenzt. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 11 SN 17.4623 2017-10-17 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro fest-gesetzt.

Gründe

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe rechtfertigen nicht, den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern und der Antragstellerin vorläufigen Rechtsschutz gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 17. November 2016 zu gewähren.
Die Antragstellerin macht die Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandsflächen geltend sowie eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme, das sie auf eine „Riegelwirkung“ bzw. eine „erdrückende Wirkung“ des Gebäudes aufgrund seiner Kubatur und Situierung stützt. Insoweit fehlt es für ihren Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO bereits an dem erforderlichen Rechtsschutzinteresse, soweit sie sich durch die bauliche Anlage als solche in ihren Rechten verletzt sieht. Denn nach dem unwidersprochenen Vortrag des Antragsgegners und der Beigeladenen sowie der im Beschwerdeverfahren vorgelegten Fotos ist der Rohbau fertig gestellt. In einem solchen Fall kann das mit einem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung verfolgte Ziel, die Schaffung vollendeter Tatsachen in Bezug auf den Baukörper und seine Auswirkungen zu verhindern, nicht mehr erreicht werden. Die Inanspruchnahme des Gerichts durch den Nachbarn für seine subjektive Rechtsstellung stellt sich daher als unnütz dar (vgl. BayVGH, B.v. 17.11.2015 – 9 CS 15.1762 – juris Rn. 18; B.v. 12.8.2010 – 2 CS 10.20 – juris Rn. 2; B.v. 14.6.2007 – 1 CS 07.265 – juris Rn. 16; Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 80 Rn. 66; zur Fertigstellung des Rohbaus vgl. BayVGH, B.v. 26.7.2010 – 2 CS 10.465 – juris Rn. 2). Das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses als Prozessvoraussetzung ist von Amts wegen in jeder Lage des Prozesses zu prüfen (vgl. BayVGH, B.v. 17.11.2015 a.a.O.). Es kann auch während eines Prozesses entfallen.
Anders verhält es sich zwar, soweit der Nachbar geltend macht, (auch) durch die Nutzung der baulichen Anlage in seinen Rechten verletzt zu werden. Diese mögliche Rechtsverletzung kann grundsätzlich auch nach der Fertigstellung mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung noch verbessert werden mit der Folge, dass das Rechtsschutzbedürfnis für den einstweiligen Rechtsschutz insoweit weiterbesteht (vgl. BayVGH, B.v. 12.8.2010 a.a.O.). Das Interesse des Nachbarn ist in dieser Situation darauf gerichtet, die „vorzeitige Aufnahme“ oder Fortsetzung der Nutzung der baulichen Anlage bis zur abschließenden Entscheidung in der Hauptsache zu verhindern. Richtet sich das nachbarliche Interesse in dieser Weise auf eine – vorbeugende – Nutzungsuntersagung, ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes indessen auch das Interesse des Bauherrn an der einstweiligen Aufnahme bzw. Weiterführung der genehmigten Nutzung zu berücksichtigen mit der Folge, dass dem Nachbarn, jedenfalls vorübergehend bis zur Entscheidung in der Hauptsache, die mit der Nutzung einhergehenden Beeinträchtigungen zuzumuten sein können. Nur wenn diese Beeinträchtigungen erkennbar und erheblich über das Maß dessen hinausgehen, was die Nachbarn letztlich hinzunehmen haben werden, ist es gerechtfertigt, bereits vor der Entscheidung in der Hauptsache die Nutzung der baulichen Anlage im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu unterbinden.
Die Antragstellerin macht insoweit zum einen eine Verletzung des in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO zum Ausdruck kommenden Gebots der Rücksichtnahme geltend, weil es ihr gegenüber zu unzumutbaren Lärmimmissionen kommen soll. Da das Verwaltungsgericht die Erfolgsaussichten insoweit als offen angesehen hat, weil die angegriffene Baugenehmigung einerseits für die Ostfassade des streitgegenständlichen Gebäudes Lärmschutzauflagen vorgesehen hat, andererseits aber darauf verzichtet hat, Grenzwerte zugunsten der Nachbarn festzusetzen und sich aus dem vorliegenden Bericht des Ingenieurbüros G. vom 9. April 2015 ergibt, dass die Immissionsrichtwerte an der bestehenden Wohnbebauung außerhalb des Plangebiets „nachts gerade eingehalten werden“, war eine gesonderte Auseinandersetzung im Beschwerdeverfahren zu dieser Frage entbehrlich. Es ist allerdings nicht erkennbar, dass die vom Betrieb des streitgegenständlichen Gebäudes ausgehenden Geräuschimmissionen so gravierend wären, dass eine vorbeugende bzw. sofortige Unterbindung der Nutzung geboten wäre. Zudem ließen sich Beeinträchtigungen im Wege des bauaufsichtlichen Einschreitens im Falle einer dauerhaften Überschreitung der Lärmwerte im vorliegenden Fall leicht vermeiden, indem beispielsweise die Nutzung der zu dem Wohngebäude der Antragstellerin gerichteten Dachterrasse im Obergeschoss in den Nachtstunden untersagt wird.
Zum anderen macht die Antragstellerin geltend, dass mit der Aufnahme der Nutzung unzumutbare Einsichtsmöglichkeiten aus den Fenstern und dem zurückspringenden Dachgeschoss einhergingen. Zwar dürfte insoweit eine bloße Bezugnahme auf das erstinstanzliche Vorbringen (hier im Hinblick auf die tatsächlichen Umstände, vgl. Seite 2 des Schriftsatzes vom 6. November 2017) nicht dem Darlegungserfordernis des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügen. Im vorliegenden Fall können die Ausführungen der Antragstellerin im Schriftsatz vom 5. Dezember 2017, die Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme folge (auch) aus der Schaffung neuer Einsichtsmöglichkeiten durch die Errichtung der terrassenähnlichen Dachgeschossnutzung sowie der zahlreichen Fenster des Gebäudes, nach Auffassung des Senats jedenfalls deshalb gewürdigt werden, weil sie sich auf den im Beschwerdeverfahren aufgetretenen neuen Gesichtspunkt der Fertigstellung des Rohbaus beziehen (vgl. dazu Guckelberger in Sodan/Ziekow, 4. Aufl. 2014, § 146 Rn. 99 f.).
Auch insoweit ist die Beschwerde nicht begründet, da das genehmigte Vorhaben nach summarischer Prüfung nachbarschützende Vorschriften nicht verletzt. Die Antragstellerin kann entgegen ihrer Auffassung nach den vorliegenden Akten im Ergebnis keine begünstigende Rechtsfolge daraus herleiten, dass das Vorhaben der Beigeladenen (in Folge der vorläufigen Außervollzugsetzung des Bebauungsplans 112 durch den Senat mit Beschluss vom 26. Juni 2017 – 1 NE 17.716) im Verhältnis zu ihrem Baugrundstück auch über die Mitte der öffentlichen Verkehrsfläche hinaus den Grenzabstand möglicherweise verletzt. Zwar ist Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO insoweit nachbarschützend, als der Bauherr die öffentliche Fläche nur bis zur Mitte in Anspruch nehmen kann, damit der Gegenüberlieger „mit seiner Hälfte“ ebenso verfahren kann. Dies setzt aber zunächst voraus, dass auch die Antragstellerin unmittelbar an die öffentliche Verkehrsfläche angrenzt (vgl. Dhom in Simon/Busse, BayBO, Stand Oktober 2017, Art. 6 Rn. 72, 74). Die öffentliche Verkehrsfläche, die sich vorliegend zwar u.a. auf dem im Eigentum des Antragsgegners stehenden Grundstück FlNr. 2469/3 befindet, grenzt jedoch nicht unmittelbar an das Grundstück der Antragstellerin an. Vielmehr liegt zwischen dem zu Verkehrszwecken gewidmeten Bereich und dem Grundstück der Antragstellerin noch ein größerer Grundstücksstreifen, der nicht zu Verkehrszwecken gewidmet ist. Insoweit überzeugt der Hinweis der Antragstellerin auf die zulässige Einbeziehung von Grundstücken Dritter oder öffentlichen Flächen nicht. Denn damit können schmale Grünstreifen oder kleine Grünflächen an öffentlichen Verkehrsflächen einbezogen werden, die als sog. Zubehör und Bestandteil der öffentlichen Fläche anzusehen sind (vgl. Dhom in Simon/Busse a.a.O. Rn. 74). Diese können von dem unmittelbar an die Verkehrsfläche angrenzenden Baugrundstück in Anspruch genommen werden. Für den vorliegenden Fall, dass ein Grundstück nicht unmittelbar an eine öffentliche Verkehrsfläche angrenzt, erscheint es zweifelhaft, dass sich der Bauherr auf die Begünstigung berufen können soll, weil der nicht gewidmete Grundstücksteil nicht mehr – wie bei öffentlichen Verkehrsflächen – für die Errichtung oberirdischer baulicher Anlagen in Betracht kommt. Der Antragstellerin steht daher aller Voraussicht nach ein Abwehranspruch nicht zu.
Das Vorhaben der Beigeladenen erweist sich nach summarischer Prüfung auch nicht insoweit als rücksichtslos, als durch die terrassenähnliche Dachgeschossnutzung und die Anzahl der Fenster keine Einblicke in die Wohnräume des Anwesens der Antragstellerin, denen durchgehend ein Balkon vorgelagert ist, ermöglicht werden, die in einem dicht bebauten innerörtlichen Bereich aus städtebaulichen Gesichtspunkten nicht hinzunehmen wären.
Mit der Aufnahme oder Fortsetzung der Nutzung des Gebäudes werden daher auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens keine Fakten geschaffen, die bei einem Unterliegen der Beigeladenen im Hauptsacheverfahren nicht oder jedenfalls nur schwer wieder rückgängig zu machen wären und deshalb die Durchsetzung etwaiger Nachbarrechte der Antragstellerin unverhältnismäßig erschweren könnten. Gleichermaßen ist in den Blick zu nehmen, dass der Antragsgegner nach der Außervollzugsetzung des Bebauungsplans 112 bis zur Entscheidung in der Hauptsache mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 26. Juni 2017 (1 NE 17.716) nach Presseberichten im Frühjahr 2018 erneut über den Bebauungsplan beschließen möchte (vgl. Immobilien-Zeitung vom 26. November 2017) und dabei die Situierung des Gebäudes im Hinblick auf die Abstandsflächenvorschriften nach städtebaulich vertretbaren Gesichtspunkten regeln könnte.
Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen, weil ihr Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2 VwGO). Es entspricht der Billigkeit, der Beigeladenen ihre außergerichtlichen Kosten nach § 162 Abs. 3 VwGO zu erstatten, weil sie einen Antrag gestellt und sich damit dem Kostenrisiko des § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1‚ § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG und orientiert sich an Nummern 9.7.1 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (vgl. Beilage 2/2013 zu NVwZ Heft 23/2013).

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