Aktenzeichen W 1 K 17.246
GG GG Art. 20 Abs. 3
Leitsatz
1. Vordienstzeiten, die gemäß Art. 21 Abs. 1 BayBeamtVG vor dem 3. Oktober 1990 im Beitrittsgebiet abgeleistet wurden, sind bei der Anwendung des Art. 20 Abs. 1 Nr. 2 BayBeamtVG bereits dem Grunde nach und in jeder Hinsicht außer Betracht zu lassen. (redaktioneller Leitsatz)
2. Zeiträume, die gemäß Art. 21 BayBeamtVG nicht zu Gunsten des Beamten berücksichtigt werden können, dürfen umgekehrt auch nicht zu seinen Lasten auf den Zeitraum der Mindestzeit einer vorgeschriebenen Tätigkeit angerechnet werden (vgl. hierzu auch VG Dresden BeckRS 2006, 23860). (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Landesamts für Finanzen vom 17. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesamts für Finanzen vom 7. Februar 2017 verpflichtet, die für die Übernahme in das Beamtenverhältnis vorgeschriebene praktische hauptberufliche Tätigkeit des Klägers im Umfang von drei Jahren als ruhegehaltsfähig anzuerkennen und der Berechnung der Versorgungsbezüge des Klägers ab dem 1. Februar 2016 zugrunde zu legen.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Gründe
Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet. Der Kläger hat unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 17. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Februar 2017 einen Anspruch darauf, dass der Beklagte verpflichtet wird, die für die Übernahme des Klägers in das Beamtenverhältnis vorgeschriebene praktische hauptberufliche Tätigkeit im Umfang von drei Jahren – und damit weitere 119 Tage – als ruhegehaltsfähig anzuerkennen und der Berechnung der Versorgungsbezüge ab dem 1. Februar 2016 zugrunde zu legen (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch beruht auf Art. 20 Abs. 1 Nr. 2 BayBeamtVG. Danach kann die Mindestzeit einer praktischen hauptberuflichen Tätigkeit, die für die Übernahme in das Beamtenverhältnis vorgeschrieben ist, als ruhegehaltsfähige Dienstzeit berücksichtigt werden. Vorliegend war nach § 2 Abs. 4 Nr. 2 der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für den technischen Gewerbeaufsicht Dienst in Bayern vom 2. Dezember 1983 für die Einstellung in die Laufbahn des höheren technischen Gewerbeaufsichtsdienstes – zwischen den Beteiligten insoweit unstreitig – eine dreijährige fachbezogene praktische Tätigkeit nach der Abschlussprüfung an einer wissenschaftlichen Hochschule in einer für den Gewerbeaufsichtsdienst geeigneten Fachrichtung regelmäßig notwendig. Somit beträgt die nach Art. 20 Abs. 1 Nr. 2 BayBeamtVG hier anrechenbare vorgeschriebene Mindestzeit drei Jahre; gleichzeitig stellt dieser Zeitraum auch die zeitliche Obergrenze für eine Anerkennung als ruhegehaltsfähig dar. Der Kläger war bei der Firma N.in … vom 1. Mai 1978 bis zum 30. September 1985 als Bauingenieur und damit in einer für den Gewerbeaufsichtsdienst geeigneten Fachrichtung beschäftigt. Angesichts der bei der Firma N. absolvierten Anstellungszeit von sieben Jahren und fünf Monaten hat der Kläger bei weitem auch die Mindestzeit der vorgeschriebenen praktischen Tätigkeit dort abgeleistet.
2. Einer Anrechnung der Mindestzeit im Umfang von drei Jahren als ruhegehaltsfähig steht Art. 21 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 BayBeamtVG nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift sind Ausbildungszeiten i.S.d. Art. 20 BayBeamtVG, welche der Beamte vor dem 3. Oktober 1990 in dem in Art. 3 des Einigungsvertrags genannten Gebiet zurückgelegt hat, nicht ruhegehaltsfähig, soweit die allgemeine Wartezeit für die gesetzliche Rentenversicherung erfüllt ist. Da der Kläger die Mindestzeit der ihm vorgeschriebenen praktischen Tätigkeit ab dem 1. Mai 1978 (auch) bei der Firma N. … in … und damit gerade nicht im Beitrittsgebiet erfüllt hat, steht der Wortlaut des Art. 21 Abs. 1 BayBeamtVG einer Anerkennung dieser Zeiten als ruhegehaltsfähig nicht entgegen.
3. Darüber hinaus verfängt die Argumentation des Beklagten nicht, dass die Mindestzeit der vorgeschriebenen praktischen Tätigkeit bereits beginnend mit einer Tätigkeit bei der V. in … ab dem 5. Oktober 1977 (bis zum 30. Januar 1978) berechnet werden müsse, sodass bereits 119 Tage der vorgeschriebenen praktischen Tätigkeit „verbraucht“ seien, welche jedoch aufgrund der Ableistung im Beitrittsgebiet vor dem 3. Oktober 1990 nach Art. 21 Abs. 1 Satz 2 BayBeamtVG nicht als ruhegehaltsfähig anerkannt werden könnten. In diesem Zusammenhang ist zunächst festzustellen, dass die Anspruchsnorm des Art. 20 BayBeamtVG den relevanten Zeitpunkt des Beginns der Mindestzeit (und damit mittelbar auch deren Ende) nicht gesetzlich festgelegt, sodass die Rechtsauffassung des Beklagten schon aus diesem Grunde jedenfalls nicht als zwingend anzusehen ist. Der Beklagte stützt sich vielmehr lediglich auf Ziffer 20.1.2.2 Satz 1 der Verwaltungsvorschrift zum Bayerischen Beamtenversorgungsgesetz, wonach vorgeschriebene Mindestzeiten von deren tatsächlichem Beginn an zu rechnen seien, welche jedoch für das Gericht nicht bindend ist, Art. 20 Abs. 3 GG. Ob diese Verwaltungspraxis grundsätzlich als rechtmäßig anzusehen ist, kann hier dahinstehen, da jedenfalls in der vorliegenden Konstellation Vordienstzeiten, die gemäß Art. 21 Abs. 1 BayBeamtVG vor dem 3. Oktober 1990 im Beitrittsgebiet abgeleistet wurden, bei der Anwendung des Art. 20 Abs. 1 Nr. 2 BayBeamtVG bereits dem Grunde nach und in jeder Hinsicht außer Betracht zu bleiben haben. Denn Art. 21 Abs. 1 Satz 2 BayBeamtVG legt insoweit fest, dass Ausbildungszeiten nach Art. 20 BayBeamtVG (zumindest sofern wie vorliegend die allgemeine Wartezeit für die gesetzliche Rentenversicherung erfüllt ist) nicht ruhegehaltsfähig sind. Bereits dem Wortlaut der fehlenden Ruhegehaltsfähigkeit entsprechend hat die Vorschrift nicht nur zur Folge, dass die im Beitrittsgebiet absolvierten Zeiträume nicht zu Gunsten des Klägers auf die vorgeschriebene Mindestzeit angerechnet werden können, sondern darüber hinaus auch, dass die entsprechenden Zeiten für jegliche Fragen und Gesichtspunkte im Zusammenhang und mit Auswirkung auf die Ruhegehaltsfähigkeit nicht berücksichtigt werden können. Sie sind hierbei vielmehr vollumfänglich auszublenden, was auch bei der vorliegenden Frage des Zeitpunkts des Beginns der – ruhegehaltsfähigen – Mindestzeit nach Art. 20 BayBeamtVG zu gelten hat. Denn Zeiträume, die gemäß Art. 21 BayBeamtVG nicht zu Gunsten des Beamten berücksichtigt werden können, dürfen umgekehrt auch nicht zu seinen Lasten auf den Zeitraum der Mindestzeit einer vorgeschriebenen Tätigkeit angerechnet werden (vgl. VG Dresden, U.v. 4.4.2006 – 11 K 18/03 – juris, zur insoweit vergleichbaren Vorschrift des § 67 BeamtVG). Eine – wenn auch nur mittelbare oder faktische – Rechtswirkung des Art. 21 BayBeamtVG außerhalb des zeitlichen und räumlichen Anwendungsbereichs der Norm, wie sie durch die Berücksichtigung der Zeiten im Beitrittsgebiet bei der Berechnung der Mindestzeit erreicht wird, entspricht überdies auch nicht deren Zweck. Dieser besteht nämlich darin, eine Doppelversorgung allein hinsichtlich der in Art. 21 Abs. 1 BayBeamtVG genannten Zeiträume durch eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung und eine zusätzliche Beamtenversorgung auszuschließen. Zudem soll durch den Vorrang des Rentenrechts sichergestellt werden, dass vor dem 3. Oktober 1990 im Beitrittsgebiet zurückgelegte Zeiten, die im Alterssicherungssystem der früheren DDR bis zum 3. Oktober 1990 bei dort fehlender Beamtenversorgung zu Rentenansprüchen führten, grundsätzlich einheitlich behandelt werden (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 28.4.1999 – 2 L 620/97 – juris; VG Dresden, a.a.O.). Durch die Nichtanerkennung der Tätigkeit bei der V. in … als ruhegehaltsfähig wird dieser gesetzlich intendierte Zweck bereits vollständig erreicht. Für Zeiten dagegen, die vor dem 3. Oktober 1990 außerhalb des Beitrittsgebiets oder nach dem 3. Oktober 1990 abgeleistet wurden, hat es nach der gesetzlichen Systematik auch für ehemalige DDR-Bedienstete bei den allgemeinen Regelungen zur Berechnung der ruhegehaltsfähigen Dienstzeiten zu verbleiben. Es wäre mit der Intention des Gesetzgebers und dem Grundsatz der Gleichbehandlung nicht vereinbar, wenn die Anwendung des Art. 21 BayBeamtVG sich negativ auch auf die Bestimmung von ruhegehaltsfähigen Vordienstzeiten i.S.d. Art. 20 BayBeamtVG auswirken würde, die der Beamte außerhalb des Beitrittsgebiets oder nach dem 3. Oktober 1990 und damit außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 21 BayBeamtVG geleistet hat (vgl. VG Dresden, a.a.O., i.E. auch VGH Kassel, U.v. 13.11.2007 – 1 UE 438/07 – juris). Damit ist die Argumentation des Beklagten als nicht gesetzeskonform abzulehnen.
4. Schließlich steht die Ruhegehaltsfähigkeit der Mindestzeit der vorgeschriebenen praktischen Tätigkeit im Umfang von drei Jahren auch mit dem Normzweck des Art. 20 BayBeamtV in Einklang. Denn dieser ist darauf gerichtet, einem erst im vorgerückten Lebensalter in das Beamtenverhältnis übernommenen Beamten annähernd die Versorgung zu ermöglichen, die er erhalten würde, wenn er sich während der fraglichen Zeit, in der er die besondere Eignung für die Wahrnehmung seines späteren Amtes erlangt hat, bereits im Beamtenverhältnis befunden hätte (vgl. BVerwG, U.v. 19.11.2015 – 2 C 22/14 – juris; U.v. 11.12.2008 – 2 C 9/08 – juris; st. Rspr.). Hätte der Kläger die hier vorgeschriebene praktische Tätigkeit im Beamtenverhältnis ableisten können, so wären ihm nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BayBeamtVG drei Jahre als ruhegehaltsfähige Dienstzeit anerkannt worden. Vorliegend jedoch wurden vom Beklagten nur zwei Jahre und 246 Tage als ruhegehaltsfähig berücksichtigt, obwohl der Kläger die ihm vorgeschriebene praktische Tätigkeit im Umfang von drei Jahren (außerhalb des Beitrittsgebietes) erfüllt hat. Der Kläger wird damit gegenüber einem sog. Nur-Beamten schlechter gestellt, was Art. 20 BayBeamtVG gerade verhindern soll. Vielmehr entspricht es dem Normzweck, durch die Anerkennung von drei Jahren eine Gleichstellung mit einem Nur-Beamten herzustellen; eine (nicht gerechtfertigte) Besserstellung ist für den Kläger mit einer solchen Entscheidung ersichtlich nicht verbunden.
5. Liegen nach alledem die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 20 Abs. 1 Nr. 2 BayBeamtVG vor, so ist dem Beklagten hinsichtlich der Frage der Berücksichtigung der Vordienstzeiten grundsätzlich Ermessen eingeräumt, wobei die benannten Zeiten in der Regel als ruhegehaltsfähig zu berücksichtigen sind, da es sich bei der Anrechnung von Vordienstzeiten gemäß § 20 BayBeamtVG bereits ihren Voraussetzungen nach um sachlich eng begrenzte Ausnahmetatbestände handelt; die „Kann-Regelung“ ist wie eine „Soll-Regelung“ zu verstehen (vgl. Stegmüller/Schmalhofer/Bauer, Beamtenversorgungsrecht, Hauptband I, § 12 Rn. 48; Plog/Wiedow, Bundesbeamtengesetz Bd. 2, § 12 Rn. 141). Darüber hinaus ist vorliegend eine Ermessensreduzierung auf null einschlägig, da keine Gesichtspunkte ersichtlich sind, wonach ein atypischer Fall vorliegen würde, der ein Abweichen vom Regelfall der Anerkennung der Ruhegehaltsfähigkeit weiterer 119 Tage rechtfertigen würde. Der Beklagte hat insoweit in den streitgegenständlichen Bescheiden nichts Entgegenstehendes vorgetragen, sondern hat vielmehr den Zeitraum von zwei Jahren und 246 Tagen unproblematisch als ruhegehaltsfähig anerkannt, während er die Nichtberücksichtigung der streitgegenständlichen 119 Tage allein auf Art. 21 BayBeamtVG sowie die Verwaltungsvorschrift zu Art. 20 BayBeamtVG (betreffend die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Mindestzeit und deren Beginn) und damit auf für den Beklagten zwingende Regelungen und nicht auf Ermessenserwägungen gestützt hat. Soweit in der Klageerwiderung auf den Gesichtspunkt verwiesen wurde, dass die gesamte Zeit der praktischen Tätigkeit bei der Firma V. und bei der Firma N. bei der Deutschen Rentenversicherung berücksichtigt worden seien, vermag dies kein anderes Ergebnis zu rechtfertigen, da eine Besserstellung eines Beamten, der gleichzeitig Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung hat, bereits durch die Anrechnungsvorschrift des Art. 85 BayBeamtVG vermieden wird (vgl. BVerwG, U.v. 19.11.2015 – 2 C 22/14 – juris Rn. 19 ff.; U.v. 11.12.2008 – 2 C 9/08 – juris Rn. 19). Darüber hinaus würde sich der Beklagte mit dieser Argumentation in Widerspruch zu seiner eigenen Entscheidung setzen, zumindest für zwei Jahre und 246 Tage die Ruhegehaltsfähigkeit anzuerkennen, für die ausweislich des Versicherungsverlaufs ebenfalls Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung erbracht werden.
Nach alledem war der Klage stattzugeben. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war nach § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO als notwendig anzuerkennen, da sie vom Standpunkt einer verständigen, nicht rechtskundigen Partei im Zeitpunkt der Bestellung für erforderlich gehalten werden durfte und es dem Kläger nach seiner Vorbildung, Erfahrung und seinen sonstigen persönlichen Umständen nicht zumutbar war, das Verfahren selbst zu führen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.