Verwaltungsrecht

Voraussetzungen für den Eintritt der Fiktionswirkung nach § 10 Abs. 2 S. 4 AsylG

Aktenzeichen  M 15 S 17.44525

Datum:
24.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
AsylG AsylG § 10 Abs. 2 S. 4

 

Leitsatz

Voraussetzung für den Eintritt der Fiktionswirkung gem. § 10 Abs. 2 S. 4 AsylG ist, dass der erfolglose Zustellversuch ordnungsgemäß erfolgt ist, was unter anderem dann nicht der Fall ist, wenn an der letzten bekannten Anschrift nach den allgemeinen Regeln des Verwaltungszustellungsgesetzes hätte zugestellt werden können, dies aber zu Unrecht unterblieben ist. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass der Klage (Az. M 15 K 17.44520) gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom … Dezember 2017 aufschiebende Wirkung zukommt.
II. Im Übrigen wird das Verfahren eingestellt.
III. Die Kosten des Verfahrens tragen die Parteien je zur Hälfte.

Gründe

I.
Der am … … 1997 geborene Antragsteller afghanischer Staatsangehörigkeit stellte am 27. Juni 2016 einen Asylantrag, der mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom … Dezember 2016 abgelehnt wurde (Nr. 1 bis 3 des Bescheids). Gleichzeitig wurde dem Antragsteller die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 5).
Der Bescheid war adressiert an die …str. 51, … … Er kam mit der vom Postzusteller am 4. Januar 2017 unterschriebenen Zustellungsurkunde mit dem Vermerk „Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln“ an das Bundesamt zurück.
Am 6. Februar und am 22. Juni 2017 teilte die Antragsgegnerin der zuständigen Ausländerbehörde die Bestandskraft ihres ablehnenden Bescheides zum 19. Januar 2017 mit. Der Bescheid gelte als am 4. Januar 2017 zugestellt.
Am 26. Juni 2017 ließ der Antragsteller gegen den streitgegenständlichen Bescheid Klage erheben und gleichzeitig gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragen. Weiter wurde beantragt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Ausländerbehörde sofort mitzuteilen, dass die Bestandskraft des Bescheids vom … Dezember 2016 angesichts der anhängigen Klage im Zeitpunkt der zutreffenden Eilentscheidung abweichend von der Abschlussmitteilung des Bundesamts nicht feststehe. Hilfsweise wurde beantragt, die Beklagte zu verpflichten, den Bestandskraftvermerk zu widerrufen.
Am 24. August 2017 ließ der Antragsteller zuletzt entsprechend § 80 Abs. 5 VwGO beantragen,
festzustellen, dass der erhobenen Klage gegen den Bescheid des Bundesamts vom … Dezember 2016 aufschiebende Wirkung zukommt, soweit mit ihr Nr. 5 des Bescheids angefochten wurde.
Im Übrigen wurden die Eilanträge zurückgenommen.
Dem Kläger sei zu keinem Zeitpunkt der Bescheid zugestellt worden. Erst nachdem ihm von der Ausländerbehörde mitgeteilt worden sei, dass sein Asylverfahren rechtskräftig abgeschlossen sei und dass er beim Bundesamt vorsprechen solle, seien ihm dort der Bescheid und die Niederschrift persönlich ausgehändigt worden.
Zur Glaubhaftmachung wurde eine eidesstattliche Versicherung des Antragstellers vom 21. Juni 2017 vorgelegt, nach der er seit November 2016 in der …straße 51 untergebracht sei. Er habe den Bewohnerausweis mit der Registriernummer … und schaue regelmäßig auf dem Anschlagbrett nach, ob unter seinem Namen und seiner Personen ID Post für ihn gekommen sei. Die Niederschrift zur Anhörung und den Bescheid habe er erst am Tag zuvor vom Bundesamt ausgehändigt bekommen. Beide Dokumente seien ihm in der Unterkunft nicht zugestellt worden. Briefe seines Deutschkurses und der Bank würden ihm aber ordnungsgemäß zugestellt. Die letzten Kontoauszüge habe er am 21. Juni 2017 per Post erhalten.
Zusätzlich wurde eine Bestätigung des Betreibers der Unterkunft in der …straße 51 vom 29. Juni 2017 vorgelegt, wonach der Antragsteller seit 29. September 2016 in der Unterkunft wohne und immer noch dort angemeldet sei. Er habe, seit dieser Betreiber am 1. April 2017 die Verwaltung übernommen habe, seine Post regelmäßig abgeholt.
Die Antragsgegnerin hat die Akten vorgelegt, jedoch keinen Antrag gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren und im Klageverfahren M 15 K 17.44520 sowie auf die Behördenakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung der in der Hauptsache erhobenen Klage entsprechend § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet.
Der Antragsteller hat ein Rechtsschutzbedürfnis für den entsprechend § 80 Abs. 5 VwGO erhobenen Antrag, da das Bundesamt den Bescheid gemäß seiner Abschlussmitteilungen vom 6. Februar und 22. Juni 2017 gegenüber der Ausländerbehörde für bestandskräftig erklärt hat.
Der gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des Bescheids der Antragsgegnerin vom … Dezember 2017 am 26. Juni 2017 erhobenen Klage kommt jedoch voraussichtlich gemäß § 75 Abs. 1 AsylG aufschiebende Wirkung zu, da die Klage nach der im Eilverfahren vorgenommenen summarischen Prüfung nicht verfristet sein dürfte.
Der streitgegenständliche Bescheid wurde dem Antragsteller nicht zugestellt. Vielmehr enthält die Postzustellungsurkunde vom 4. Januar 2017 den Vermerk „Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln“. Kann die Sendung dem Asylbewerber nicht zugestellt werden, gilt die Zustellung zwar gemäß § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG mit der Aufgabe zur Post als bewirkt, selbst wenn die Sendung als unzustellbar zurückkommt mit der Folge, dass die Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 1 AsylG zu laufen beginnt. Voraussetzung für den Eintritt der Fiktionswirkung ist jedoch, dass der erfolglose Zustellversuch ordnungsgemäß erfolgt ist, was unter anderem dann nicht der Fall ist, wenn an der letzten bekannten Anschrift nach den allgemeinen Regeln des Verwaltungszustellungsgesetzes ordnungsgemäß hätte zugestellt werden können, dies aber zu Unrecht unterblieben ist. Hiervon ausgehend greift die Zustellungsfiktion dann nicht ein, wenn der Antragsteller im Zeitpunkt des erfolglosen Zustellversuchs unter der Anschrift, an die zugestellt werden sollte, wohnhaft war, eine ordnungsgemäße Zustellung also hätte erfolgen können (VG Düsseldorf, B.v. 5.2.2015 – 13 L 3079/14.A – juris Rn. 7 ff.). Es spricht nach Aktenlage und dem Vortrag des Antragstellers Vieles dafür, dass dies hier der Fall war. Nach der eidesstattlichen Versicherung des Antragstellers vom 21. Juni 2017 und der Bestätigung des Verwalters der Unterkunft in der …straße 51 vom 29. Juni 2017 war der Antragsteller zum Zeitpunkt des Zustellversuches an der Zustelladresse wohnhaft und gemeldet. Der Antragsteller kontrolliere auch regelmäßig den Posteingang. Zudem ist dem Antragsteller scheinbar auch die vom 25. Oktober 2016 datierende Ladung zur persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 2. November 2016 unter der gleichen Zustelladresse zugegangen, da er andernfalls nicht zur Anhörung erschienen wäre. Somit wurde die Beweiskraft der Zustellungsurkunde, die sich auch darauf erstreckt, dass der Antragsteller unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln war, erschüttert (vgl. § 173 VwGO i.V.m. § 418 Abs. 2 ZPO). Die im Klageverfahren vorgetragenen Tatsachen und vorgelegten Nachweise sind zumindest im Rahmen der summarischen Prüfung im Eilverfahren ausreichend substantiiert, um den beurkundeten Sachverhalt zu widerlegen. Das Gericht geht nach den im Zeitpunkt der Entscheidung vorliegenden Erkenntnissen davon aus, dass der Antragsteller alle Voraussetzungen erfüllt hat, um eine ordnungsgemäße Zustellung des streitgegenständlichen Bescheides sicherzustellen. Für die Entscheidung im Hauptsacheverfahren sollte der Antragsteller noch eine Meldebescheinigung der Meldestelle über den Zeitpunkt seiner Wohnsitznahme in der …straße 51 nachreichen.
Der streitgegenständliche Bescheid gilt daher entgegen der Bestandskraftmitteilungen des Bundesamts vom 6. Februar und 22. Juni 2017 nicht gemäß § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG als am 4. Januar 2017 zugestellt. Vielmehr ist er dem Antragsteller – den vollen Wahrheitsgehalt seiner eidesstattlichen Versicherung zu Grunde gelegt – erst am 25. Juni 2017 ausgehändigt worden. Es obliegt dem Antragsteller, den genauen Zeitpunkt der Aushändigung des Bescheids im Klageverfahren, soweit möglich, nachzuweisen. Nach den im Eilverfahren ausreichend substantiiert vorgetragenen Tatsachen wurde die Klagefrist mit der am 26. Juni 2017 erhobenen Klage eingehalten; die Klage entfaltet gemäß §§ 75 Abs. 1, 38 Abs. 1 AsylG aufschiebende Wirkung. Dem zuletzt gestellten Antrag war daher im Sinne der Rechtssicherheit entsprechend § 80 Abs. 5 VwGO stattzugeben.
Hinsichtlich der zurückgenommenen Anträge war das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 1 Satz 1, 3 VwGO einzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO einerseits und § 155 Abs. 2 VwGO andererseits und entspricht dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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