Verwaltungsrecht

Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug – Ausnahme vom Regelerfordernis des gesicherten Lebensunterhalts

Aktenzeichen  Au 6 K 17.637

Datum:
23.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 5, Abs. 1 Nr. 1, § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 3
GG GG Art. 6 Abs. 1, Abs. 2, Art. 11 Abs. 1
EMRK EMRK Art. 8 Abs. 1

 

Leitsatz

1. § 28 Abs. 1 S. 3 AufenthG koppelt einen unbestimmten Rechtsbegriff auf der Tatbestandsseite („in der Regel”) mit einem gesetzlich intendierten behördlichen Ermessen auf der Rechtsfolgenseite („soll”). (Rn. 22 – 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Regelerfordernis des gesicherten Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist unter Berücksichtigung der widerstreitenden Interessen nur verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn es nicht schematisch, sondern einzelfallbezogen angewandt wird („soll“). (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
3. Einem deutschen Staatsangehörigen kann aufgrund der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen des Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 11 GG – anders als einem im Bundesgebiet lebenden Ausländer – grundsätzlich nicht zugemutet werden, seine Ehe dauerhaft im Ausland zu führen oder auf ein eheliches Zusammenleben zu verzichten (vgl. BVerwG BeckRS 2012, 58531 mwN); dies führt zu einer Ermessensreduzierung auf Null. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheids vom 21. April 2017 verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug zu erteilen.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch den Kläger durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet, denn der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 AufenthG, so dass der inzident angefochtene Bescheid vom 21. April 2017 mit Nebenentscheidungen rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug zu seiner Ehefrau nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 3 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.
a) Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist die Aufenthaltserlaubnis dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Diese Voraussetzung ist bei der Ehefrau des Klägers, einer im Bundesgebiet wohnhaften deutschen Staatsangehörigen, unstreitig erfüllt.
b) Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis setzt allerdings nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist, der Ausländer ihn also nach § 2 Abs. 3 AufenthG einschließlich eines ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Diese Voraussetzung erfüllt der mittellose Kläger unstreitig nicht.
Er bezieht trotz Erreichens des Rentenalters im Bundesgebiet keine Rente, sondern ist auf Sozialhilfe als Grundsicherung im Alter bzw. derzeit auf Leistungen nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG angewiesen. Auch das Erwerbseinkommen seiner ebenfalls rentenlosen Ehefrau genügt hierfür nicht, denn sie kann hieraus nicht einmal ihren eigenen Bedarf decken, sondern bezieht ergänzend Sozialhilfe als Hilfe zum Lebensunterhalt. Auch über den gegenwärtigen Stand hinaus wird sich die Einkommenslage beider Ehegatten nicht verbessern, wenn die Ehefrau in zwei Monaten das Rentenalter erreicht, da sie aus ihrer erst vor Kurzem aufgenommenen und geringfügigen Erwerbstätigkeit voraussichtlich keinen Rentenanspruch in bedarfsdeckender Höhe erworben haben wird. Beide Ehegatten bleiben daher voraussichtlich auf Dauer auf Sozialhilfe angewiesen. Dass der Kläger auf Grund vorgerückten Alters oder alterstypischer Erkrankungen in seiner allgemeinen Leistungsfähigkeit gemindert ist, stellt allerdings keinen gesetzlich anerkannten Grund dar, vom Regelerfordernis abzusehen (vgl. für eine Niederlassungserlaubnis BVerwG, B.v. 22.11.2016 – 1 B 117.16 – InfAuslR 2017, 139/140 Rn. 5).
c) Vom Regelerfordernis des gesicherten Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abweichend soll jedoch nach § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel die Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug erteilt werden.
§ 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG koppelt einen unbestimmten Rechtsbegriff auf der Tatbestandsseite (in der Regel) mit einem gesetzlich intendierten behördlichen Ermessen auf der Rechtsfolgenseite (soll). Der unbestimmte Rechtsbegriff „in der Regel“ bezieht sich im System der Rechtsgrundlagen für Aufenthaltstitel auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheiden. Ausnahmefälle sind demgegenüber durch atypische Umstände gekennzeichnet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigen. Bei der uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle unterliegenden Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, sind alle Umstände auch in den Verhältnissen des Betroffenen zu berücksichtigen (vgl. zum Ganzen VG Berlin, U.v. 27.5.2010 – 5 K 260.09 V – juris Rn. 15 unter Bezugnahme auf BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 3.08 – juris Rn. 13 f.). Wird ein Ausnahmefall bejaht, entscheidet die Behörde nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen, weil selbst im Regelfall von der Sicherung des Lebensunterhalts lediglich abgesehen werden „soll“, nicht etwa abgesehen werden muss. Die Vorschrift räumt der Behörde für den Regelfall ein in Richtung der Erlaubniserteilung gesteuertes Ermessen ein. Im Ausnahmefall entfällt lediglich die nur für den Regelfall erklärte Intention des Gesetzgebers, dass eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden solle. Der Ausnahmefall räumt der Behörde mithin ein freies Ermessen ein (vgl. VG Berlin, U.v. 27.5.2010 – 5 K 260.09 V – juris Rn. 15 m.w.N.).
Der Gesetzesbegründung (Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 23.4.2007, BT-Drs. 16/5065, S. 171) ist zu entnehmen:
„Durch den neu eingefügten Satz 3 kann der Ehegattennachzug zu Deutschen bei Vorliegen besonderer Umstände von der Sicherung des Lebensunterhalts abhängig gemacht werden. Besondere Umstände liegen bei Personen vor, denen die Begründung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Ausland zumutbar ist. Dies kommt insbesondere bei Doppelstaatlern in Bezug auf das Land in Betracht, dessen Staatsangehörigkeit sie neben der deutschen besitzen, oder bei Deutschen, die geraume Zeit im Herkunftsland des Ehegatten gelebt und gearbeitet haben und die Sprache dieses Staates sprechen. Bei Ausländern, die mit der Perspektive eines dauerhaften Aufenthalts nach Deutschland zuwandern, findet in einem nicht unerheblichen Maße ein direkter Zuzug in die sozialen Sicherungssysteme statt. […] Die Neuregelung ist zugleich aus integrationspolitischen Gründen geboten. Die Pflicht zum Nachweis der Lebensunterhaltssicherung bietet für Ausländer, die die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben und ihren Ehepartner nachziehen lassen bzw. die sich diese Möglichkeit offen halten wollen, einen Anreiz zur Integration. Die bisherige Privilegierung des Ehegattennachzugs zu Deutschen ermöglichte es zudem, allein durch Vortäuschen einer ehelichen Lebensgemeinschaft einen Aufenthaltstitel zu verschaffen. Die Neuregelung dient somit auch dazu, die Missbrauchsmöglichkeiten einzuschränken.“
Nach Überzeugung des Verwaltungsgerichts liegt zwar gegenüber dem Tatbestandsmerkmal „in der Regel“ ein Ausnahmefall für ein Festhalten am Regelerfordernis des gesicherten Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor, dennoch ist der Beklagte ausnahmsweise auf der Rechtsfolgenseite („soll“) zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verpflichtet, weil dem Kläger wie auch seiner Ehefrau die dauerhafte Trennung oder Fortführung ihrer ehelichen Lebensgemeinschaft in der Ukraine unzumutbar ist und sich das behördliche Ermessen deswegen auf Null reduziert.
aa) Hier liegt zunächst ein Ausnahmefall gegenüber dem Tatbestandsmerkmal „in der Regel“ und für ein Festhalten am Regelerfordernis des gesicherten Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor.
Dabei ist dem Beklagten darin zuzustimmen, dass der Kläger wie auch seine Ehefrau als in der Ukraine aufgewachsene und jahrzehntelang dort lebende ukrainische Staatsbürger ohne Zweifel dort verwurzelt sind; weit stärker, als nach ihrem ein- bzw. knapp zweijährigen Aufenthalt im Bundesgebiet. Sie ist Doppelstaaterin; beide sprechen (nur) die am Herkunftsort gebräuchliche russische Sprache und haben dort ihre wirtschaftliche und soziale Integration erzielt sowie ihre eheliche Lebensgemeinschaft über vier Jahrzehnte geführt und ihre Familie gegründet. Im Bundesgebiet hingegen haben sie soziale Kontakte zu ihren Kindern erst seit ihrem bzw. deren Zuzug. Die Ehefrau hat über ihre geringfügige Erwerbstätigkeit zwar erste wirtschaftliche Bindungen aufgebaut, die jedoch sowohl wegen der unstreitigen Sprachbarriere – sie spricht kaum Deutsch, der Kläger gar nicht – als auch des baldigen Erreichens des Rentenalters nicht nachhaltig sein werden. Bei beiden liegt ein direkter Zuzug in die sozialen Sicherungssysteme vor, wie ihn der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG verhindern will. Dies zusammengenommen rechtfertigt die Annahme eines Ausnahmefalles.
bb) Allerdings ist der Beklagte ausnahmsweise auf der Rechtsfolgenseite („soll“) zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verpflichtet, weil dem Kläger wie auch seiner Ehefrau die dauerhafte Trennung oder Fortführung ihrer ehelichen Lebensgemeinschaft in der Ukraine unzumutbar ist.
Das Verwaltungsgericht ist von der Verfassungsmäßigkeit des in § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG lediglich als Regelabsehen ausgestalteten Regelerfordernisses des gesicherten Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG überzeugt, da sich dieses verfassungskonform unter Berücksichtigung der berührten Grundrechte der Betroffenen auslegen und anwenden lässt:
Der Kläger kann sich nicht auf die deutschen Staatsangehörigen wie seiner Ehefrau vorbehaltene Freizügigkeitsregelung des Art. 11 Abs. 1 GG berufen (vgl. BVerfG, U.v. 16.1.1957 – 1 BvR 253/56 – BVerfGE 6, 32/34 ff.) und daher auch nicht auf ein vergleichbares Recht auf Einreise und Aufenthalt (vgl. BVerwG, U.v. 10.4.1956 – I C 31.55 – BVerwGE 3, 235/236), sondern lediglich auf die Gewährleistung aus der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, B.v. 26.9.1978 – 1 BvR 525/77 – BVerfGE 49, 168/180 f.) und auf den Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. BVerwG, U.v. 27.9.1978 – 1 C 48.77 – BVerwGE 56, 254/260).
Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG verpflichtet die Ausländerbehörde bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren, die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers zu Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und angemessen zur Geltung zu bringen. Eingriffe in die Freiheit des betroffenen Ausländers, bei seinem im Bundesgebiet lebenden Ehepartner ständigen Aufenthalt zu nehmen, sind nur dann zulässig, als sie unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich sind (vgl. BVerfG, B.v. 17.5.2011 – 2 BvR 1367/10 – juris Rn. 14 m.w.N.).
Hier ist der Schutzbereich von Ehe und Familie eröffnet, weil der Kläger und seine sich als deutsche Staatsangehörige nach Art. 11 Abs. 1 GG berechtigterweise im Bundesgebiet aufhaltende Ehefrau in ehelicher Lebensgemeinschaft miteinander leben. In diesen Schutz wird durch das Regelerfordernis des gesicherten Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zwar nicht unmittelbar eingegriffen, soweit ein gesicherter Lebensunterhalt – wie hier – zur Voraussetzung für einen Ehegattennachzug nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG gemacht wird, weil aus Art. 6 Abs. 1 GG kein Recht auf Einreise und Aufenthalt erwächst. Das Erfordernis ist jedoch an Art. 6 Abs. 1 GG als wertentscheidender Grundsatznorm zu messen (vgl. BVerwG, U.v. 4.9.2012 – 10 C 12.12 – NVwZ 2013, 515/516 Rn. 20 m.w.N.), da dem Regelerfordernis eine Schrankenwirkung zukommt.
Stehen dem Familiennachzug eines Ausländers – wie hier – öffentliche Belange entgegen, sind diese und seine ehelichen und familiären Belange sodann mit dem Ziel eines schonenden Ausgleichs gegeneinander abzuwägen und die sich von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützten ehelichen und familiären Bindungen des Ausländers an seine im Bundesgebiet lebenden Angehörigen angemessen zu berücksichtigen. Die Regelungen müssen insbesondere den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots entsprechen. Dabei steht dem Gesetzgeber auf dem Gebiet des Ausländerrechts allerdings ein weiter Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerwG, U.v. 4.9.2012 – 10 C 12.12 – NVwZ 2013, 515/517 Rn. 20 m.w.N.). Gleiches gilt für den ebenfalls hier zu berücksichtigenden Schutz nach Art. 8 Abs. 1 EMRK, der ebenfalls kein Recht auf Einreise und Aufenthalt gewährleistet, aber ebenfalls eine Interessenabwägung mit Verhältnismäßigkeitsprüfung erfordert (vgl. BVerwG, U.v. 4.9.2012 – 10 C 12.12 – NVwZ 2013, 515/517 Rn. 21 m.w.N.).
Das Regelerfordernis des gesicherten Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG liegt im öffentlichen Interesse. Es dient einem legitimen Zweck, da es einen unkontrollierten Zuzug ausländischer Staatsangehöriger in die im Bundesgebiet von deutschen und bereits hier lebenden ausländischen Staatsangehörigen aus Steuern getragene Solidargemeinschaft verhindern will. Das Regelerfordernis ist auch geeignet, dieses Ziel zu fördern; es ist erforderlich, weil ein milderes Mittel als die vorab erfolgte Prüfung der Fähigkeit des Zuzüglers zur eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts nicht zur Verfügung steht. Am Beispiel des Klägers, der angegeben hatte, aus dem Einkommen seiner Ehefrau seinen Lebensunterhalt bestreiten zu wollen, zeigt sich die Notwendigkeit einer solchen Prüfung, selbst wenn sie – wie hier – im Einzelfall auch fehlschlägt.
Das Regelerfordernis ist unter Berücksichtigung der widerstreitenden Interessen aber nur verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn es nicht schematisch sondern einzelfallbezogen angewandt wird („soll“):
Hierbei ist – auch unter dem Blickwinkel des Gleichheitsgebots nach Art. 3 Abs. 1 GG – die differenzierte Regelungstechnik des Gesetzgebers zu berücksichtigen: Zum Einen stellt er in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG das Regelerfordernis des gesicherten Lebensunterhalts für alle Aufenthaltstitel auf, macht hiervon jedoch bereits in § 5 Abs. 3 AufenthG Abstriche für die Gruppe von Aufenthaltstiteln zu humanitären Aufenthaltszwecken, da er davon ausgeht, dass Schutzberechtigte zunächst außer Stande sein dürften, ihren Lebensunterhalt selbst zu sichern, mithin das Festhalten am Regelerfordernis einer Titelerteilungssperre nahekäme. Zum Anderen kehrt er das Regelerfordernis des gesicherten Lebensunterhalts für Aufenthaltstitel zum Ehegattennachzug in § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 3 AufenthG in eine Regelabweichung um, nimmt ihm aber für den Kindes- und Elternnachzug in § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 und Satz 2 AufenthG gänzlich die Anwendbarkeit. Für den Ehegattennachzug Erwachsener und damit grundsätzlich erwerbsfähiger Personen soll nur in der Regel abgewichen werden; für den Kindes- und Elternnachzug hingegen wird der Familienzusammenführung minderjähriger betreuungsbedürftiger und regelmäßig noch nicht erwerbsfähiger Personen der uneingeschränkte Vorrang eingeräumt. Der Gesetzgeber hat damit bereits das Regelerfordernis für den Ehegattennachzug deutlich entschärft und über die Regelabweichung nur für einen kleinen Bereich an Ausnahmefällen noch anwendbar gelassen.
Solche Anwendungsfälle sieht der Gesetzgeber bei Personen, denen auf Grund besonderer Umstände die Begründung bzw. Fortführung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Ausland zumutbar ist, insbesondere bei Doppelstaatlern in Bezug auf das Land, dessen Staatsangehörigkeit sie neben der deutschen besitzen, oder bei Deutschen, die geraume Zeit im Herkunftsland des Ehegatten gelebt und gearbeitet haben und die Sprache dieses Staates sprechen (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 171). Er betont dabei das öffentliche Interesse, einen direkten Zuzug in die sozialen Sicherungssysteme zu unterbinden, was ein legitimes öffentliches Interesse darstellt.
Dies zu Grunde gelegt, erfüllen der Kläger und seine Ehefrau als in der Ukraine beide aufenthaltsberechtigte und dort über Jahrzehnte sprachlich, sozial, beruflich und wirtschaftlich integrierte Personen die Anforderungen an einen solchen Ausnahmefall.
Demgegenüber stehen die privaten Interessen des Klägers und seiner Ehefrau: Ein Deutscher kann – anders als ein im Bundesgebiet lebender Ausländer – grundsätzlich nicht darauf verwiesen werden, seine Ehe im Ausland zu führen oder auf ein eheliches Zusammenleben zu verzichten (vgl. BVerwG, U.v. 4.9.2012 – 10 C 12.12 – NVwZ 2013, 515/517 f. Rn. 26 m.w.N.), denn das Grundrecht des Art. 11 GG gewährt ihm das Recht zum Aufenthalt in Deutschland und erhöht deutlich das Gewicht der privaten Interessen am Ehegattennachzug zur Führung der ehelichen Gemeinschaft im Bundesgebiet. Einem deutschen Staatsangehörigen kann nur bei gewichtigen öffentlichen Belangen zugemutet werden, die Ehe für einige Zeit gar nicht oder nur im Ausland führen zu können. Sie dauerhaft im Ausland führen zu müssen, ist für ihn in jedem Fall unangemessen und unzumutbar (vgl. BVerwG, U.v. 4.9.2012 – 10 C 12.12 – NVwZ 2013, 515/518 Rn. 26 m.w.N.).
Dies zu Grunde gelegt, würde ein Verweis des Klägers auf seine Rückkehr in die Ukraine bis zur anderweitigen Sicherung seines Lebensunterhalts im Bundesgebiet eine dauerhafte Trennung der Ehegatten oder die Ausreise der Ehefrau in die Ukraine nach sich ziehen:
Da weder die Ehefrau des Klägers noch der Kläger selbst über nennenswertes bedarfsdeckendes Einkommen verfügen, ihre erworbenen ukrainischen Rentenansprüche in Deutschland nicht gezahlt werden und sie beide das Rentenbezugsalter bereits erreicht bzw. demnächst erreicht haben werden, ist davon auszugehen, dass sie auch nach einer gewissen zeitlichen Trennung ebenso wenig wie heute in der Lage sein werden, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu sichern. Auch ihre Kinder mögen gesetzlich zur Unterhaltsleistung verpflichtet sein, dass sie leistungsfähig wären, konnte auch in der mündlichen Verhandlung nicht bestätigt werden. Dem Kläger im Ermessens Weg wegen des Ausnahmefalls – beide Ehegatten haben jahrzehntelang in der Ukraine gelebt, sind dort aufgewachsen und persönlich sowie wirtschaftlich integriert und durch Rentenansprüche zur eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts in der Lage (vgl. oben) – den Ehegattennachzug auf Dauer zu verwehren, hieße, seiner Ehefrau entweder die dauerhafte Trennung von ihm oder die dauerhafte Rückkehr in die Ukraine unter Aufgabe ihrer – derzeit geringen – Integration im Bundesgebiet zuzumuten. Dies ist nach Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht verhältnismäßig, da keinem deutschen Staatsangehörigen zugemutet werden kann, seine Ehe dauerhaft im Ausland führen zu müssen (vgl. BVerwG, U.v. 4.9.2012 – 10 C 12.12 – NVwZ 2013, 515/518 Rn. 26 m.w.N.). Diese zum Spracherfordernis entwickelte Rechtsprechung ist nach Auffassung des Verwaltungsgerichts auch auf das Regelerfordernis eines gesicherten Lebensunterhalts übertragbar, da die Interessenlage mit einem öffentlichen Interesse an einer sprachlichen bzw. wirtschaftlichen Integration und Selbstständigkeit des nachziehenden Ehegatten einerseits und einem privaten Interesse des deutschen Ehegatten andererseits, nicht auf eine längere oder gar dauerhafte Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Ausland verwiesen zu werden, vergleichbar ist.
Auf die weiteren, vom Kläger angeführten und vom Beklagten bestrittenen Aspekte einer Unzumutbarkeit einer Rückkehr in die Ukraine (vgl. VG Augsburg, B.v. 31.7.2017 – Au 6 K 17.637, Au 6 S. 17.811 – Rn. 35 –38) kommt es wegen der hier wesentlich zu berücksichtigenden grundrechtlich geschützten Rechtsposition seiner Ehefrau nicht mehr an.
dd) Diese Bewertung zu Grunde gelegt, ist zwar tatbestandlich ein Ausnahmefall nach § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gegeben, verdichtet sich aber umgekehrt das Ermessen des Beklagten als verfassungsrechtliches Korrektiv auf Null und so zu einem Anspruch des Klägers auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis.
Der Ausnahmefall räumt der Behörde zwar nicht lediglich ein intendiertes Ermessen, sondern ein freies Ermessen ein (vgl. VG Berlin, U.v. 27.5.2010 – 5 K 260.09 V – juris Rn. 15 m.w.N.), doch die Ermessensreduzierung auf Null ergibt sich hier daraus, dass unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen des Art. 6 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1 GG keinem deutschen Staatsangehörigen zugemutet werden kann, seine Ehe dauerhaft im Ausland führen zu müssen (vgl. BVerwG, U.v. 4.9.2012 – 10 C 12.12 – NVwZ 2013, 515/518 Rn. 26 m.w.N.), dies aber beim Verweis des Klägers auf eine Rückkehr in die Ukraine gerade zu Lasten seiner deutschen Ehefrau der Fall wäre, da der Kläger auf absehbare Zeit außer Stande sein und bleiben wird, seinen Lebensunterhalt im Bundesgebiet anders als aus Sozialleistungen zu bestreiten. Jede andere Ermessensentscheidung als die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis wäre daher rechtswidrig.
2. Die Rechtswidrigkeit der in Ziffern 2 und 3 des angefochtenen Bescheids enthaltenen Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung ergibt sich aus dem Anspruch des Klägers auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis, so dass er nicht zur Ausreise verpflichtet ist (vgl. § 50 Abs. 1 AufenthG).
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO; die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
4. Die Berufung war nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO zuzulassen, weil die Übertragbarkeit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Spracherfordernis beim Ehegattennachzug auf das Erfordernis des gesicherten Lebensunterhalts grundsätzliche Bedeutung hat.

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