Aktenzeichen AN 3 S 17.34810
VwGO VwGO § 80 Abs. 5 S. 1, § 88
Leitsatz
1 Hat ein Betroffener ein zulässiges Rechtsmittel gegen einen Verwaltungsakt eingelegt, der von der erlassenden bzw. zuständigen Behörde nicht mit einer Anordnung des Sofortvollzuges versehen wurde und der auch nicht kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist, so verfügt der Betroffene über ein rechtlich schützenswertes Interesse an der gerichtlichen Feststellung, dass das Rechtsmittel aufschiebende Wirkung entfaltet, wenn der Verwaltungsakt ungeachtet der Einlegung des Rechtsmittels von Behörden oder Dritten einfach vollzogen wird (VG Weimar BeckRS 2014, 49832). (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Fiktion der wirksamen Zustellung nach § 10 Abs. 2 S. 4 AsylG greift nach dem Sinn der Regelung nicht ein, wenn sich der Asylbewerber unter der maßgeblichen Anschrift aufhält, eine Zustellung entsprechend den Bestimmungen des Verwaltungszustellungsgesetzes jedoch infolge eines Umstands unterbleibt, der in der Sphäre der damit befassten Stelle, insbesondere der Post liegt (VGH BW BeckRS 2005, 27100). (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass die Klage des Antragstellers vom 18. Juli 2017 gegen den Bescheid vom 11. Mai 2017 aufschiebende Wirkung hat.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Gegenstandswert beträgt 2.500,00 EUR.
Gründe
I.
Der Antragsteller, äthiopischer Staatsangehöriger oromischer Volkszugehörigkeit und islamischer Religionszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben am 25. April 2016 auf dem Landweg über Sudan, Libyen, Italien und ein ihm unbekanntes Land in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 13. Juli 2016 einen Asylantrag.
Mit Bescheid der Regierung von Mittelfranken vom 12. Dezember 2016 wurde dem Antragsteller als künftiger Wohnsitz die … zugewiesen. Mit Schreiben vom 4. November 2016 wurde der Antragsgegnerin der neue Wohnsitz mitgeteilt.
Der Antragsteller wurde mit Schreiben vom 27. Februar 2017 unter dieser Adresse zur persönlichen Anhörung geladen. Die Ladung wurde dem Antragsteller ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 28. Februar 2017 in der Weise zugestellt, dass sie in dem zur Wohnung gehörenden Briefkasten des Antragstellers eingelegt wurde. Mittels Empfangsbestätigung vom 27. März 2017 bestätigte der Antragsteller den Erhalt der Ladung.
Mit Bescheid vom 11. Mai 2017 erkannte das Bundesamt dem Antragsteller weder die Flüchtlingseigenschaft noch einen subsidiären Schutzstatus zu, lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen.
Dieser Bescheid wurde versucht, dem Antragsteller unter oben genannter Anschrift am 16. Mai 2017 zuzustellen. Ausweislich der PZU sei der Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln gewesen.
Mit Schreiben vom 12. Juni 2017 teilte die Antragsgegnerin der Ausländerbehörde der Stadt … mit, dass der Bescheid dem Antragsteller am 12. Mai 2017 zugestellt worden sei und Bestandskraft am 27. Mai 2017 eingetreten sei.
Mit Schreiben vom 14. Juni 2017 teilte die Ausländerbehörde der Stadt … dem Antragsteller mit, dass sein Asylantrag bestandskräftig abgelehnt worden sei und er deshalb unverzüglich zur Ausreise verpflichtet sei. Seine Aufenthaltsgestattung sei erloschen.
Gegen den Bescheid hat der Antragsteller am 18. Juli 2017 durch seinen Bevollmächtigten Klage erhoben (AN 3 K 17.34781) und Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt.
Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags wird ausgeführt, der Antragsteller sei weiterhin wohnhaft in der Gemeinschaftsunterkunft … Dort sei er von der Antragsgegnerin zu seinem Anhörungstermin in Zirndorf am 28. April 2017 geladen worden. Seitdem habe er von der Antragsgegnerin dort keine Zustellungen mehr erhalten. Durch das Schreiben der Ausländerbehörde vom 14. Juni 2017 habe er erfahren, dass sein Asylantrag durch Bescheid vom 27. Mai 2017 bereits bestandskräftig abgelehnt worden sei. Entsprechend sei seine ihm zur Durchführung des Asylverfahrens erteilte Aufenthaltsgestaltung erloschen. Ausweislich der Postzustellungsurkunde sei der Antragsteller unter der angegebenen Adresse nicht zu ermitteln gewesen. Dies habe der Postzusteller ausweislich des Datums auf der Zustellungsurkunde am 16. Mai 2017 festgestellt. Laut entsprechendem Vermerk des Bundesamtes vom 31. Mai 2017 ergebe sich, dass der Antragsteller keine neue Adresse habe. Die Zustellung des Bescheids werde mit der Aufgabe zur Post am 12. Mai 2017 als bewirkt angesehen. Dass die in der Postzustellungsurkunde enthaltene Feststellung unrichtig sei, ergebe sich allein schon aus dem Umstand, dass das Schreiben der Ausländerbehörde der Stadt … vom 14. Juni 2017 dem Antragsteller unter seiner nach wie vor unveränderten Anschrift zugestellt worden sei.
Mit weiterem Schriftsatz vom 19. Juli 2017 beantragte der Antragsteller,
die aufschiebende Wirkung der in der Klage vom 18. Juli 2017 gegen die im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Gesch.-Z.: …vom 11. Mai 2017, zugegangen am 17. Juli 2017 enthalten Abschiebungsandrohung anzuordnen.
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, die Ausländerbehörde habe mit Telefax vom 19. Juli 2017 mitgeteilt, dass der Kläger bis zur eventuellen Aufhebung der Bestandskraft des angefochtenen Bescheids vollziehbar ausreisepflichtig sei. Es bestehe somit die Gefahr, dass der Kläger abgeschoben werde, bevor über seine Klage entschieden sei. Dies rechtfertige den Eilantrag.
Die Antragsgegnerin hat bislang keinen Antrag gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die von der Antragsgegnerin vorgelegte Verfahrensakte verwiesen.
II.
Der Antrag hat nach entsprechender Auslegung Erfolg.
1. Der Antrag des Antragstellers ist zunächst dahingehend auszulegen, dass er begehrt festzustellen, dass die Klage vom 18. Juli 2017 aufschiebende Wirkung hat.
Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden.
Mit der Klage bringt der Antragsteller zum Ausdruck, was er von wem weswegen begehrt. Das Gericht hat zunächst die Aufgabe, dieses im Antrag und im gesamten Klagevorbringen zum Ausdruck kommende Rechtsschutzziel (Klagebegehren) zu ermitteln (BVerfGE NVwZ 2016, 238; BVerwG Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 3). Entscheidend ist dabei das materielle Rechtsschutzbegehren und nicht der Wortlaut der Anträge. Bei anwaltlich vertretenen Antragstellern darf kein strengerer Maßstab angelegt werden (BVerwG NVwZ 2012, 375).
Ziel des Antragstellers ist es vorliegend zu verhindern, dass er vollziehbar ausreisepflichtig ist. Dies erreicht er dadurch, dass festgestellt wird, dass der ablehnende Bescheid noch nicht bestandskräftig geworden ist, mithin die Klage dagegen aufschiebende Wirkung hat. Der Antrag seines Prozessbevollmächtigten würde dem Antragsteller nicht zum begehrten Ziel verhelfen, da nach §§ 75 Abs. 1 i.V.m. 38 Abs. 1 AsylG Klagen gegen einen einfach begründeten Bescheid (Abschiebungsandrohung) aufschiebende Wirkung haben. Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO wäre unstatthaft.
Der Antrag war daher dahingehend auszulegen, dass begehrt wird festzustellen, dass die Klage vom 18. Juli 2017 aufschiebende Wirkung hat.
2. Ein solcher Antrag ist in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO statthaft und hat Erfolg.
Hat ein Betroffener ein zulässiges Rechtsmittel gegen einen Verwaltungsakt eingelegt, der von der erlassenden bzw. zuständigen Behörde nicht mit einer Anordnung des Sofortvollzuges versehen wurde und der auch nicht kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist, so verfügt der Betroffene über ein rechtlich schützenswertes Interesse an der gerichtlichen Feststellung, dass das Rechtsmittel aufschiebende Wirkung entfaltet, wenn der Verwaltungsakt ungeachtet der Einlegung des Rechtsmittels von Behörden oder Dritten einfach vollzogen wird (vgl. VG Weimar, B. v. 22.01.2014 – 7 E 390/13 We; vgl. Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung 32. EL Oktober 2016, Rdnr. 352ff.). Dem gleichgestellt sind die Fälle einer erst drohenden faktischen Vollziehung, d. h. wenn sich die Behörde oder ein Dritter (irrig) eines Vollziehungsrechts rühmt, weil sie dem Rechtsbehelf z. B. zu Unrecht die aufschiebende Wirkung aberkennt (VGH Baden-Württemberg, NVwZ-RR 1991, 176).
Das Gericht geht nach Aktenlage davon aus, dass die Klage vom 18. Juli 2017 gegen den Bescheid fristgerecht erhoben wurde und somit aufschiebende Wirkung hat, da die zweiwöchige Klagefrist aufgrund nicht ordnungsgemäßer Zustellung des Bescheides nicht zu laufen begann. Erst durch Übermittlung des Bescheids am 12. Juli 2017, eingegangen beim Prozessbevollmächtigten am 17. Juli 2017, begann die Klagefrist zu laufen.
Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Klage gegen Entscheidungen nach dem AsylG innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung erhoben werden.
Im Rahmen des Asylverfahrens gelten besondere Vorschriften für die Zustellung, § 10 AsylG.
Nach § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG muss der Ausländer Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle aufgrund seines Asylantrags oder seiner Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen, wenn er für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt hat oder diesen nicht zugestellt werden kann. Das Gleiche gilt, wenn die letzte bekannte Anschrift, unter der der Ausländer wohnt oder zu wohnen verpflichtet ist, durch eine öffentliche Stelle mitgeteilt worden ist (§ 10 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
Kann die Sendung dem Ausländer nicht zugestellt werden, so gilt die Zustellung mit der Aufgabe zur Post als bewirkt, selbst wenn die Sendung als unzustellbar zurückkommt (§ 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG).
Die Fiktion der wirksamen Zustellung nach § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG setzt voraus, dass ein ordnungsgemäßer Zustellungsversuch erfolgt ist. Sie greift nach dem Sinn der Regelung nicht ein, wenn sich der Asylbewerber unter der maßgeblichen Anschrift aufhält, eine Zustellung entsprechend den Bestimmungen des Verwaltungszustellungsgesetzes jedoch infolge eines Umstands unterbleibt, der in der Sphäre der damit befassten Stelle, insbesondere der Post liegt (vgl. VGH BW, B.v. 15.11.1995 – A14 S 2542/95).
Ausweislich der Akten wurde dem Antragsteller eine Unterkunft in der …in … zugewiesen. Es ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass er diese zwischenzeitlich verlassen hat. Ebenso ergibt sich aus den Akten, dass sämtliche Zustellungen, sei es die Ladung zur persönlichen Anhörung oder Schreiben der Ausländerbehörde, dem Antragsteller zugingen. Nach Informationen der Ausländerbehörde der Stadt … hat jeder Asylbewerber sein Namensschild an den Briefkästen der Gemeinschaftsunterkunft. Dieser Umstand und die Angaben in der PZU vom 28. Februar 2017, dass eine Zustellung mittels Einwurf in den Briefkasten des Antragstellers nicht möglich ist, lassen nur den Schluss zu, dass die Zustellung des Bescheids am 16. Mai 2017 infolge eines Umstands, der in der Sphäre der Post liegt, nicht ordnungsgemäß erfolgte. Die Fiktion des § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG greift nicht ein. Eine wirksame Zustellung an den Antragsteller fand jedenfalls am 16. Mai 2017 nicht statt, es fehlte damit an einem fristauslösenden Ereignis nach § 74 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
Mit Schreiben vom 12. Juli 2017, eingegangen beim Prozessbevollmächtigten des Antragstellers am 17. Juli 2017, übermittelte die Antragsgegnerin erstmals den Bescheid. Die Klage vom 18. Juli 2017 lag damit innerhalb der zweiwöchigen Frist und entfaltet aufschiebende Wirkung, §§ 75 Abs. 1 i.V.m. § 38 Abs. 1 AsylG. Dementsprechend ist der ablehnende Bescheid noch nicht bestandskräftig (ohne dass es eine Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag bedürfte).
Nachdem die Ausländerbehörde der Stadt … die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers derzeit nicht beachtet, hat das Gericht festzustellen, dass der Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat. Da die drohende faktische Vollziehung wegen der Missachtung des Suspensiveffekt ohne weiteres rechtswidrig wäre, wägt das Gericht in diesem Fall nicht zwischen öffentlichem Vollzugsinteresse und individuellem Aussetzungsinteresse wie sonst im Anwendungsbereich des § 80 Abs. 5 VwGO ab (VGH Mannheim, B. v. 22.02.2010 – 10 S 2702/09).
Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.