Verwaltungsrecht

Zuerkennung des subsidiären Schutzes wegen Gefahr der Verfolgung durch die Taliban in Afghanistan

Aktenzeichen  M 17 K 17.32802

Datum:
7.6.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 3 EMRK
RL 2004/83 EG Art. 4 Abs. 4
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5 u Abs. 7
AsylG AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3e Abs. 2, § 4 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Hinsichtlich der Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban besteht nicht eine solche Verfolgungsdichte für alle jungen männlichen afghanischen Staatsangehörigen, dass insoweit von einer “bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gesprochen werden könnte (vgl. VG Lüneburg BeckRS 2017, 102918).(Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die glaubwürdige Schilderung einer Entführung durch die Taliban zur Zwangsrekrutierung und einer gelungenen Flucht begründet einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG, da der Schutzsuchende vorverfolgt ausgereist ist und ihm erneut bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden durch die Taliban droht.(Rn. 29 – 30) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es besteht keine inländische Fluchtalternative iSv § 3e AsylG iVm § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG in Afghanistan für einen Minderjährigen, der unter psychischen Problemen leidet, da nicht zu erwarten ist, dass der Rückkehrer den Lebensunterhalt für sich verdienen könnte.(Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 2. Februar 2017 wird in den Nrn. 3 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) zuzuerkennen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Parteien tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 2. Juni 2017 trotz Ausbleibens der Beklagtenseite entschieden werden. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig, und insoweit begründet, als die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) zuzuerkennen. Im Übrigen ist die Klage unbegründet, da der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (vgl. § 113 Abs. 1 und 5 VwGO).
1. Ein Verfolgungs- oder Lebensschicksal, das die Zuerkennung einer Rechtsstellung als Flüchtling rechtfertigen würde, ist vorliegend aus dem Vortrag des Klägers nicht erkennbar.
Das Gericht nimmt insoweit vollumfänglich auf die Ausführungen im Bescheid vom 2. Februar 2017 Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend wird Folgendes ausgeführt:
1.1 Gemäß § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Die Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d Richtlinie 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. VG Ansbach, U.v. 28.4.2015 – AN 1 K 14.30761 – juris Rn. 65ff. m.V. auf: BVerwG, U.v. 18.4.1996 – 9 C 77.95, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07, ZAR 2008, 192; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377; U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162).
1.2 Ein Merkmal im Sinne von § 3 AsylG ist hier jedoch nicht gegeben. Insbesondere kann nicht davon ausgegangen werden, dass hinsichtlich der Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban eine solche Verfolgungsdichte für alle jungen männlichen afghanischen Staatsangehörigen besteht, dass insoweit von einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gesprochen werden könnte (vgl. a. VG Lüneburg, U.v. 6.2.2017 – 3 A 140/16 – juris Rn. 18 f. m.w.N).
2. Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
2.1 Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:
1. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
2.2 Es ist davon auszugehen, dass dem Kläger in Afghanistan eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bzw. Bestrafung droht.
a) Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen. Kriterien hierfür sind etwa die Art der Behandlung oder Bestrafung und der Zusammenhang, in dem sie erfolgt, die Art und Weise der Vollstreckung, ihre zeitliche Dauer, ihre physischen und geistigen Wirkungen sowie gegebenenfalls Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Abstrakt formuliert sind darunter Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (vgl. VGH BA, U.v. 6.3.2012 – A 11 S 3070/1 – juris Rn. 16; Hailbronner, Ausländerrecht, § 4 AsylG Rn. 21-27 m.w.N.).
Der Ausländer hat stichhaltige Gründe für die Annahme darzulegen, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Der Maßstab der stichhaltigen Gründe entspricht dabei dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, wobei das Element der Konkretheit der Gefahr das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation kennzeichnet. Bei qualifizierender Betrachtungsweise, d.h. bei einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung, müssen die für die Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht haben und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Die in diesem Sinne erforderliche Abwägung bezieht sich nicht allein auf das Element der Eintrittswahrscheinlichkeit, sondern auch auf das Element der zeitlichen Nähe der befürchteten Ereignisse und auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs ist in die Betrachtung einzubeziehen (vgl. VGH BW, U.v. 6.3.2012 – A 11 S 3070/11 – juris Rn. 17 m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, § 4 AsylG Rn. 61 ff. m.w.N.).
b) Diese Kriterien für die Zuerkennung subsidiären Schutzes sind vorliegend erfüllt.
aa) Nach Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie (QualRL) ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bedroht werden. Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Ob die Vermutung durch „stichhaltige Gründe“ widerlegt ist, obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377 – in Bezug auf den wortgleichen Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83 EG [QualRL alt]). Die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 QualRL kommt dem von ernsthaftem Schaden bedrohten Antragsteller auch bei der Prüfung zugute, ob für ihn im Gebiet einer internen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht (vgl. BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – NVwZ 2009, 1308 in Bezug auf Art. 8 Abs. 1 QualRL alt). Mit Blick auf den Normzweck der Beweiserleichterung erscheint es nicht nachvollziehbar, der Prüfung internen Schutzes als Ausdruck der Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes einen strengeren Maßstab zugrunde zu legen als der systematisch vorgelagerten Stellung der Verfolgungsprognose. Die hinter der Beweiserleichterung stehende Teleologie – der humanitäre Charakter des Asyls – verbietet es, einem Schutzsuchenden, der das Schicksal der Verfolgung bereits einmal erlitten hat, das Risiko einer Wiederholung solcher Verfolgung aufzubürden (BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – NVwZ 2009, 1308).
Bei der individuellen Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz sind alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen zu berücksichtigen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslands und der Weise, in der sie angewandt werden, sowie die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er einen ernsthaften Schaden erlitten bzw. erleiden könnte (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. a und b QualRL). Weiterhin sind zu berücksichtigen die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind (vgl. Art. 4 Abs. 3 Buchst. c QualRL).
bb) Der Kläger hat sowohl beim Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung am 2. Juni 2017 sehr ausführlich, detailliert und widerspruchsfrei geschildert, dass er von den Taliban entführt wurde, um zwangsrekrutiert zu werden. Als er geflohen sei, hätten die Taliban ihn gesucht, den Vater entführt und später dessen Laden angezündet. Diese Schilderungen sind – auch nach dem Gesamteindruck, den das Gericht in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat – glaubwürdig.
Der Kläger ist somit vorverfolgt ausgereist, stichhaltige Gründe, die dagegen sprechen, dass dem Kläger erneut ernsthafter Schaden durch die Taliban droht, sind nicht ersichtlich. Es ist daher davon auszugehen, dass die Taliban ihn bei einer etwaigen Rückkehr nach Afghanistan suchen und erneut versuchen würden, ihn zwangsweise zu rekrutieren. Die Aktualität und Ernsthaftigkeit der Bedrohung durch die Taliban wird zudem durch deren Erstarken untermauert (vgl. UNAMA, Jahresbericht 2016).
dd) Für den Kläger besteht insoweit auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne von § 3e AsylG i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG:
Nach dieser Vorschrift wird dem Ausländer subsidiärer Schutz nicht gewährt, wenn ihm in einem Teil seines Herkunftslandes kein ernsthafter Schaden droht und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Gemäß § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3e Abs. 2 AsylG, Art. 8 Abs. 2 QualRL sind die allgemeinen Gegebenheiten in diesem Landesteil und die persönlichen Umstände des Ausländers zu berücksichtigen. Dem Ausländer dürfen in dem in Betracht kommenden Gebiet keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Beeinträchtigung gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (BVerfG, B.v. 10.11.1989 – 2 BvR 403/84 – juris; Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 4. Aufl. 2017, § 3e AsylG Rn. 1325). Der Flüchtling muss für eine gewisse Dauerhaftigkeit Schutz erhalten und sich dort „niederlassen“ können. Die Verweisung auf eine interne Fluchtalternative ist nur zumutbar, wenn dort nicht andere, unzumutbare Nachteile drohen. Eine drohende konkrete Beeinträchtigung elementarer Menschenrechte kann eine Unzumutbarkeit begründen. Zumutbar sei eine Rückkehr nur dann, wenn der Ort der inländischen Schutzalternative ein wirtschaftliches Existenzminimum ermöglicht, zum Beispiel durch zumutbare Beschäftigung oder durch Mittel der Existenzsicherung aufgrund von Leistungen humanitärer Organisationen. Diese Voraussetzung ist nicht gegeben, wenn den Asylsuchenden am Ort der internen Schutzalternative ein Leben erwartet, dass zu Hunger, Verelendung und zum Tod führt oder wenn er dort nichts anderes zu erwarten hat als ein „Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums“ (BverwG, B.v. 17.5.2006 – 1 B 100/05 – juris; B.v. 21.5.2003 – 1 B 298/02 – juris). Im Hinblick auf den internen Schutz gemäß § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG muss für den Rückkehrer in dem schutzgewährenden Landesteil die Existenzgrundlage soweit gesichert sein, dass von ihm erwartet werden kann, dass er sich vernünftigerweise dort aufhält. Dies geht als Zumutbarkeitsmaßstab über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 5 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus, wobei des Bundesverwaltungsgericht bislang offen gelassen hat, welche darüber hinausgehenden wirtschaftlichen und sozialen Standards erfüllt sein müssen (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 20; U.v. 29.5.2008 – 10 C 11.07 – juris Rn. 35, jeweils zu § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 3 AufenthG a.F.; NdsOVG, U.v. 19.9.2016 – 9 LB 100/15 – juris; OVG NW, B.v. 6.6.2016 – 13 A 1882/15.A – juris Rn. 14). Der UNHCR hält in seinen Richtlinien vom 19. April 2016 eine innerstaatliche Fluchtalternative in Afghanistan nur für zumutbar, wenn der betreffende Ausländer dort Zugang zu Obdach, Grundleistungen wie Trinkwasser, sanitären Einrichtungen, Gesundheitsfürsorge und Bildung, sowie die Möglichkeit, sich eine Existenzgrundlage zu schaffen, hat. Als Ausnahme vom Erfordernis einer externen Unterstützung sieht er alleinstehende, leistungsfähige Männer und Ehepaare im Arbeitsalter an, die nicht aufgrund persönlicher Umstände auf eine besondere Unterstützung angewiesen sind. Solche Personen können dazu in der Lage sein, ohne die Unterstützung durch die Familie oder durch eine Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten zu leben, die unter staatlicher Kontrolle sind und die nötige Infrastruktur und die Möglichkeit bieten, die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Außerdem muss das Zufluchtsgebiet für den Betroffenen sicher und legal erreichbar sein (Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 4. Aufl. 2017, § 3e AsylG Rn. 1325).
Gemessen daran ist vorliegend keine inländische Fluchtalternative zu bejahen. Zwar ist davon auszugehen, dass der Kläger zum Beispiel in … und … aufgrund der Anonymität dieser Großstädte von den Taliban nicht gefunden werden kann, zumal die Gebietsgewalt dort beim afghanischen Staat und nicht bei den Taliban liegt (vgl. a. VG Ansbach, U.v. 13.1.2017 – AN 11 K 15.31065 – juris Rn. 29; Lagebericht des Auswärtigen Amts v. 19.10.2016). Eine Meldepflicht besteht in Afghanistan nicht (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan der Bundesrepublik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Stand 19.12.2016, S. 188; BayVGH, U.v. 20.1.2012 – 13a B 11.30427 – juris Rn. 28; VG Würzburg, U.v. 15.6.2016 – W 2 K 15.30769 – juris Rn. 25; VG Köln, U.v. 6.6.2014 – 14 K 6276/13.A – juris Rn. 42), so dass die Gefahr, dass der Kläger von den Taliban aufgespürt werden könnte, nicht beachtlich wahrscheinlich ist. Es ist nicht anzunehmen, dass sein Aufenthalt in … oder … bekannt werden würde.
Allerdings ist nicht zu erwarten, dass der Kläger dort den Lebensunterhalt für sich verdienen könnte. Zwar ist dieser jung und alleinstehend, d.h. er hat keine Unterhaltsverpflichtungen, er ist jedoch minderjährig und leidet unter psychischen Problemen. Dass er sich unter diesen Umständen in … oder … gegen die anderen arbeitssuchenden Rückkehrer bzw. Binnenflüchtlinge durchsetzen und Arbeit sowie Wohnung finden könnte, ist sehr unwahrscheinlich.
Dem Kläger wäre es zwar grundsätzlich möglich, sich in … niederzulassen, wo seine Eltern und Geschwister leben. Selbst wenn man insoweit davon ausginge, dass diese auch für den Lebensunterhalt des Klägers sorgen könnten, ist jedoch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Taliban, vor denen der Kläger geflohen ist, diesen dort finden könnten. Denn das Dorf, aus dem er damals von den Taliban entführt worden war, ist nur 3 km von … entfernt.
Nach alledem war der Klage somit hinsichtlich § 4 AsylG (Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids) stattzugeben. Dementsprechend waren auch die Feststellung zu Abschiebungsverboten, die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben (Nrn. 4 bis 6 des Bescheids; vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG).
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris); Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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