Handels- und Gesellschaftsrecht

Voraussetzungen für den Erlass eines Grundurteils beim Anwaltsregress

Aktenzeichen  15 U 161/16 Rae

Datum:
7.6.2017
Fundstelle:
NJOZ – 2017, 1088
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 287, § 304
AUB Ziff. 2.1.1.1

 

Leitsatz

1. Im Anwaltshaftungsprozess gehört die Frage, ob der vom Rechtsanwalt durchzusetzende Anspruch des Mandanten bestand, zum Grund des Anspruchs; ohne Feststellungen zu dieser Frage scheidet der Erlass eines Grundurteils aus (Anschluss an BGH BeckRS 2015, 17441 Rn. 10 mwN). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Haftung des Rechtsanwalts, der es versäumt hat, den Mandanten auf die Ausschlussfrist für die Geltendmachung seiner Ansprüche aus einer privaten Unfallversicherung hinzuweisen, kommt nicht in Betracht, wenn der Mandant den Nachweis eines unfallbedingten Dauerschadens nicht mit dem Beweismaß des § 287 ZPO führen kann. (Rn. 11 – 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

4 O 23828/14 2015-12-15 Grundurteil LGMUENCHENI LG München I

Tenor

I. Auf die Berufung wird das Grundurteil des LG München I vom 15.12.2015 (Az. 4 O 23828/14) aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits sowie die Hälfte der Kosten der Streithelferin des Beklagten.
III. Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des danach vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht der jeweilige Gläubiger Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.

Gründe

I.
Die Klägerin wirft dem Beklagten vor, sie nach Beendigung des Mandats nicht auf die Frist zur Beantragung von Leitungen der Unfallversicherung bei der … Versicherung wegen des Vorfalls vom 01.08.2010 hingewiesen zu haben. Wegen der Einzelheiten wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Grundurteil vom 15.12.2015 nach § 540 ZPO Bezug genommen. Darin stellte das Landgericht München I den Schadensersatzanspruch der Klägerin dem Grunde nach fest. Es hätte zum Gegenstand der konkreten anwaltlichen Vertretung und Beratung gehört, die Klägerin auf die wichtige Ausschlussfrist und ihre Bedeutung hinzuweisen. Solange das Mandat lief, hätte der Beklagte diese Fristenüberwachung übernommen. Mit dem Ende des Mandats hätte er sicherstellen müssen, dass die Klägerin diese Frist nunmehr selbst überwachen konnte. Dies habe er versäumt. Feststellungen zu einem versicherungsvertraglichen Anspruch der Klägerin gegen ihren Versicherer wurden vom Landgericht nicht getroffen.
Der Beklagte wendet sich gegen dieses Urteil insbesondere, weil ihm keine Pflichtverletzung vorzuwerfen sei. Mit Verfügung vom 03.05.2016 (Seite 6 = Bl. 127 d.A.) wies der Senat darauf hin, dass die Voraussetzungen für ein Grundurteil möglicherweise nicht vorliegen.
Der Beklagte und seine Streithelferin beantragen zuletzt, das Urteil des Landgerichts München I, Az. 4 O 23828/14, vom 15.12.2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.
Der Senat hat durch die Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens (Bl. 181 d.A.) und die mündliche Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen (Protokoll vom 17.05.2017 (Bl. 244 d.A.) Beweis darüber erhoben, ob der Klägerin wegen des Geschehens am 01.08.2010 ein unfallbedingter Dauerschaden mit Invalidität entstanden ist (Beweisbeschluss vom 05.10.2016, Bl. 165 d.A.).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachvortrags wird auf die Schriftsätze des Beklagten vom 03.03.2016 (Bl. 94 d.A.), 05.07.2016 (Bl. 147 d.A.) und vom 06.09.2016 (Bl. 160 d.A.) sowie auf die Schriftsätze der Klägerin vom 16.06.2016 (Bl. 137 d.A.) und vom 17.03.2017 (Bl. 232 d.A.) sowie auf den Schriftsatz der Streithelferin vom 19.08.2016 (Bl. 158 d.A.) Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung führt zur Abweisung der Klage.
Es kann dahinstehen, ob den Beklagten nach der Kündigung des Mandats im Mai 2011 eine Hinweispflicht gegenüber der Klägerin auf die am 01.11.2011 ablaufende (Ausschluss-)Frist zur Geltendmachung ihrer Ansprüche aus der Unfallversicherung getroffen hat, da ein dadurch verursachten (Vermögens-)Schaden der Klägerin nicht festgestellt werden kann. Die Klage war daher abzuweisen.
1. Das Grundurteil des Landgerichts München I vom 15.12.2015 erging verfahrensfehlerhaft, da es keine tatsächlichen Feststellungen dazu traf, ob der Klägerin durch die (hier unterstellte) Pflichtverletzung des Beklagten ein Schaden entstanden war oder dieser jedenfalls hinreichend wahrscheinlich ist.
Zum Klagegrund beim Anwaltsregress gehört auch, ob der durchzusetzende Anspruch des Mandanten (hier der Anspruch auf die Versicherungsleistung) überhaupt bestand (BGH, Urt. vom 17.09.2015, IX ZR 263/13). Diese Voraussetzung des Grundurteils ist auch ohne ausdrückliche Berufungsrüge prüfen (Zöller/Vollkommer, 31. Aufl., § 303 Rdnr. 17 und 23). Der Schaden der Klägerin liegt im Verlust von Versicherungsleistungen aus dem Unfallversicherungsvertrag mit der …. Es steht zwar aufgrund der Feststellungen des EU noch hinreichend fest, dass ohne die Pflichtverletzung des Beklagten die Ausschlussfrist erkannt und mit einem eingeholten Attest eingehalten worden wäre. Der hier geltend gemachte Schaden der Klägerin liegt aber im Verlust des Anspruchs aus der Unfallversicherung, der den (bedingungsgemäßen) Eintritt der Invalidität voraussetzt. Dazu hatte das Landgericht jedoch keine Feststellungen getroffen.
2. Die Klägerin hat keinen Vermögensschaden erlitten, da infolge des Geschehens vom 01.08.2010 kein unfallbedingter Dauerschaden mit der Folge der Invalidität im Sinne der Bedingungen der Unfallversicherung festgestellt werden kann (§ 287 ZPO); die Versäumung der Frist hat damit keinen Schaden ausgelöst.
a) Der von der Klägerin gegenüber dem Beklagten geltend gemachte Vermögenschaden liegt im Verlust ihres versicherungsvertraglichen Anspruchs gegen den Unfallversicherer. Diesen Schaden muss die Klägerin im Anwaltsregress mit dem Beweismaß des § 287 ZPO nachweisen (Vollkommer/Greger/Heinemann, Anwaltshaftungsrecht, 3. Aufl., § 25 Rdnr. 20 ff; 33).
b) Die Klägerin konnte den Beweis der unfallbedingten Invalidität weder mit Blick auf den geltend gemachten Bandscheibenvorfall noch mit Blick auf einen Dauerschaden an der Schulter führen.
Der gerichtliche Sachverständige legte seinem Gutachten den zutreffenden, von der Klägerin geschilderten Verletzungshergang vom 01.08.2010 zugrunde. Die von der Klägerin geschilderten Bewegungsabläufe wurden zusammen mit dem Sachverständigen in der Sitzung am 17.05.2017 durchgegangen. Dabei bezog der Sachverständige auch den Vorhalt der Klägerin mit ein, dass einer der Angreifer seinen Arm um ihren Hals gelegt hatte. Dieses Detail ändert aber nichts daran, dass es nach dem von der Klägerin geschilderten Vorgang am 01.08.2010 nicht zu einer axialen Stauchung (Kompression) der Halswirbelsäule kam.
Zur näheren Begründung des Fehlens einer unfallbedingten Invalidität nimmt der Senat auf die schriftlichen und mündlichen Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Bezug. Der Sachverständige führte danach zur Überzeugung des Senats nachvollziehbar und in fachlicher Auseinandersetzung mit den abweichenden Wertungen von Dr. … aus, dass der von der Klägerin geschilderte Verletzungsmechanismus so nicht geeignet war, eine Bandscheibenveränderung in den Bereichen C 5/6 und C 3/4 auszulösen, da diese nach den Erkenntnissen der Literatur nicht allein mit einer ruckartigen Extensions- und Flexionsbewegung entsteht. Abweichende Erkenntnisse zur notwendigen Verletzungsmechanik lassen sich aus den Ausführungen von Dr. …, der für die Klägerin für einen anderen Unfallversicherer eine Invalidität feststellte, nicht ableiten. Die MRT-Bildgebung, die der gerichtliche Sachverständige für sein mündlichen Gutachten auswertete, zeigt auch keine „akute“ Verletzung der Bandscheibe (mit einer Einblutung oder Wassereinlagerung), sondern (nur) eine Veränderung, die wegen fehlender Arthrosezeichen auf einen Zeitraum von Monaten bis zu 1-2 Jahre hindeutet; in diesem Sinne ist der Bandscheibenvorfall „frisch“, was aber eben keinen Rückschluss darauf zulässt, dass er durch das Ereignis vom 01.08.2010 ausgelöst wurde. Der gerichtliche Sachverständige schloss eine Ursächlichkeit des Vorfalls vom 01.08.2010 für den Bandscheibenvorfall in seinen mündlichen Ausführungen sogar „nahezu“ aus, da auch die von der Klägerin geschilderte Symptomatik nach dem 01.08.2010 nicht zu einem (akuten) Bandscheibenvorfall passt. Es lässt sich auch nicht feststellen, dass der Vorfall vom 01.08.2010 einen bis dahin symptomlosen Bandscheibenvorfall erst hat virulent werden lassen. Nach dem Beschwerdebild hatte die Klägerin eine HWS-Distorsion erlitten, die aber innerhalb des (hier relevanten) Ein-Jahreszeitraums wieder abgeklungen ist; erst später traten Beschwerden wegen der degenerativen Veränderung der Bandscheibe auf, die sich aber nicht auf den Vorfall vom 01.08.2010 zurückführen lassen.
Hinsichtlich der Schulter führte der gerichtliche Sachverständige zur Überzeugung des Senats aus, dass die Arthrose und der Sporn am Schulterblatt nicht durch den Vorfall vom 01.08.2010 ausgelöst sein können und auch die von Prof. … durchgeführte Operation („zu 100%“) nicht mit dem Vorfall vom 01.08.2010 im Zusammenhang steht. Die Schultersteife („frozen shoulder“) könnte zwar theoretisch durch ein Unfallereignis erklärt werden, sie entstehe aber auch ohne ein solches, insbesondere bei Frauen zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr. Eine Kapsulitis sei auf der Kernspinaufnahme von März 2011 nicht zu erkennen, so dass ihr späteres Auftreten (Aufnahme von Dezember 2011, auf das sich Dr. … stützt) nicht auf den Unfall vom 01.08.2010 zurückgeführt werden kann, da sich diese innerhalb weniger Wochen zeige.
Ein Ergänzungsgutachten war nicht einzuholen. Die notwendigen diagnostischen Fragen konnte der gerichtliche Sachverständige, an dessen Fachkunde keine Zweifel bestehen, umfassend beantworten. Eine weitere Auseinandersetzung mit den Feststellungen von Dr. … ist ebenfalls nicht veranlasst, da dessen abweichende Bewertungen durch den gerichtlichen Sachverständigen hinreichend erklärt und widerlegt sind.
3. Der Rechtstreit ist entscheidungsreif. Eine Zurückverweisung der Sache an das Landgericht war schon wegen eines fehlenden Antrags einer Partei nicht möglich (§ 538 Abs. 2 Satz 1 ZPO); dies wäre auch nicht sachgerecht gewesen, da dort keine weitergehenden über die hier verfolgten tatsächlichen Feststellungen hinausgehenden Erkenntnisse gewonnen werden könnten. Ein Recht der Parteien auf zwei „volle“ Tatsacheninstanzen, in denen zu derselben Sachfrage jeweils neue Gutachten eingeholt werden müssen, ist der ZPO ohnehin fremd (arg. § 529 ZPO).
4. Die Kostenentscheidung ergeht nach §§ 91, 92, 101 Abs. 1 ZPO. In der Rechtsprechung und Literatur wird überwiegend vertreten, dass bei einem „Seitenwechsel“ des Streithelfers die Kosten der Nebenintervention entsprechend § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO zu quoteln sind (vgl. OLG München, MDR 1989, 73; OLGR Celle 2001, 295; OLG Dresden, JurBüro 2008, 379; Zöller/Herget, ZPO, § 101 Rdnr. 2). Unterliegt die zunächst unterstützte Partei in der (unverändert gebliebenen) Hauptsache und wird sie dementsprechend in die Kosten verurteilt, so hat sie ihrem vormaligen Streithelfer lediglich die Hälfte die Kosten der Nebenintervention zu erstatten. Die Begründung schwankt. Nach einer Auffassung folgt dies aus Billigkeitserwägungen (OLG München, aaO), nach anderer Auffassung löst die den ersten Teilakt des „Seitenwechsels“ bildende Rücknahme des Beitritts die Kostentragung entsprechend § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO aus, so dass der Streithelfer die Kosten der (ursprünglichen) Nebenintervention selbst zu tragen hat (vgl. Zöller/Vollkommer a. a. O., § 66 Rn. 18 m. w. N.). Gleichwertig greife dann aber zugunsten des Streithelfers der Beitritt auf Seiten des Prozessgegners, was die Kostenfolge des § 101 Abs. 1 Halbsatz 1 ZPO auslöst (OLG Dresden, aaO).
Der Schriftsatz der Klägerin vom 02.06.2017 (Bl. 250 d.A.) gibt keinen Anlass, die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen (§ 156 ZPO) oder ein weiteres Gutachten einzuholen. Soweit dort die Darstellungen des gerichtlichen Sachverständigen als dessen „Einzelmeinung“ gewürdigt wird, fehlt jeder Hinweis, dass diese von den einschlägigen medizinischen Veröffentlichungen und/oder dem aktuellen Stand der Forschung, die im schriftlichen Gutachten dargestellt werden, abweichen würde. Dazu wurde schon oben im Zusammenhang mit der Auffassung von Dr. … hingewiesen, der seine abweichende Ansicht aber (weiterhin) nicht ansatzweise begründet. Dieser Punkt und der genaue Verletzungshergang, den die Klägerin jetzt als „Ausübung von Kampfsportgriffen“ wertet, wurde in der mündlichen Verhandlung ausführlich besprochen. Die Klägerin führt selbst in der ergänzenden Stellungnahme aus, dass die MRT-Bilder alleine keine Aussage über den Zeitpunkt eines Bandscheibenvorfalls geben und will darauf einen Nachweis der Ursächlichkeit stützen. Sie übersieht aber, dass der gerichtliche Sachverständige seinen Ausführungen gerade drei Prüfungspunkte (Verletzungsmodus; Symptome; MRT-Bildgebung) zugrundelegte, die alle drei isoliert und in ihrer Gesamtsicht gegen die Ursächlichkeit des Vorfalls für die Bandscheibenproblematik sprechen. Auch mit Blick auf die Schulterverletzung werden die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen nicht ansatzweise erschüttert. Von (jetzt „feinsten“) Knochenabsplitterungen sprach erstmals die Klägerin in der Anhörung vor dem Senat; diese wurden im OP-Bericht nicht erwähnt. Letztlich bringen auch die ergänzenden Ausführungen der von der Klägerin befragten Ärzte nur die Vermutung für eine Ursächlichkeit zum Ausdruck, ohne dass diese die überwiegende Wahrscheinlichkeit bejahen könnten. Die befragten Radiologen sehen zwar einen „direkten“ Zusammenhang, sagen aber gleichzeitig, dass ihre (fachmedizinische) Betrachtung allein gerade nicht aussagekräftig ist.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen. Es liegen keine Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2 ZPO) vor, da es sich um tatsächliche Feststellungen handelt.

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