Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot für afghanische Familie mit kleinen Kindern

Aktenzeichen  Au 5 K 17.31330

Datum:
12.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK EMRK Art. 3
GG GG Art. 6

 

Leitsatz

Die Abschiebung einer sechsköpfigen Familie mit kleinen Kindern und dem Vater als allein Erwerbstätigem ohne Schulausbildung oder abgeschlossene Berufsausbildung nach Afghanistan erscheint verfassungsrechtlich unzumutbar. Die bestehenden Rückkehrbeihilfen ändern an dieser Einschätzung nichts.  (Rn. 26 – 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. Februar 2017 (Gz.: …) wird in Nr. 4 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Kläger ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten übereinstimmend auf die Durchführung einer solchen verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistans beschränkte Klage ist zulässig und in diesem Umfang begründet.
Soweit der Bescheid des Bundesamtes mit der Klage angegriffen ist, ist dieser rechtswidrig und verletzt die Kläger insoweit in ihren Rechten. Die Kläger haben einen Anspruch auf Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistan besteht (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der insoweit entgegenstehende Bescheid des Bundesamtes vom 21. Februar 2017 war daher antragsgemäß in dessen Nr. 4 aufzuheben. Maßgeblich für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistans ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG).
Wegen des unteilbaren Streitgegenstandes bezieht sich die Klage der Kläger auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG.
Die Kläger haben einen Anspruch auf Feststellung des Bestehens eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG. Nach dieser Bestimmung darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl 1952 II Seite 658) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes können schlechte humanitäre Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt. Bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern ist dies angesichts der in Afghanistan derzeit herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen der Fall, so dass für diese ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht (vgl. BayVGH, B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn. 5; U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – Asylmagazin 2015, 197; U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – InfAuslR 2015, 212).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. z.B. B.v. 14.1.2015 – 13a ZB 14.30410 – juris Rn. 5; B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn.6) ist weiter aufgrund der Auskunftslage und der ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon auszugehen, dass ein alleinstehender, arbeitsfähiger männlicher afghanischer Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht, jedoch ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald und als sichere Folge der Tod drohen würde oder eine ernste Gesundheitsbeeinträchtigung zu erwarten wäre.
Dies zugrunde gelegt, ist es ausgeschlossen, hinsichtlich des Bestehens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG ausschließlich auf den Kläger zu 1 abzustellen. Dies gilt ungeachtet von dessen Alter und seiner bisheriger beruflichen Tätigkeit. Eine extreme Gefahrenlage in Kabul kann sich nämlich für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie minderjährige, alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien mit Kleinkindern und Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, ergeben.
Bei der Beurteilung, ob eine extreme Gefahrenlage insbesondere bei einer Rückkehr nach Kabul besteht, ist zu beachten, dass Familienangehörige wegen des Schutzes von Ehe und Familien nach Art. 6 Grundgesetz (GG) nur gemeinsam mit ihren Kindern und ihrem Ehepartner nach Afghanistan zurückkehren können (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris). Ihre einzelne und isolierte Rückkehr ist weder realistisch noch von Rechts wegen einzufordern. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan geht es damit nicht nur um die Sicherstellung des Lebensunterhalts des Klägers zu 1. Bei der Beantwortung der Frage, ob das Existenzminimum am Zufluchtsort gesichert sein wird, sind alle Familienmitglieder bzw. der Familienverband zu berücksichtigen (VG Augsburg, U.v. 24.5.2012 – Au 6 K 11.30369 – juris Rn. 29) Damit können auch bestehende Unterhaltspflichten des erwerbstätigen Klägers nicht unberücksichtigt bleiben (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 21). Bei der anzustellenden Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle einer Abschiebung in dessen Heimatstaat drohen, ist regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr aller Familienangehörigen auszugehen. Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen, wie bei Angehörigen, die als politisch Verfolgte Abschiebungsschutz genießen, kann eine andere Betrachtung geboten sein (BVerwG, U.v. 21.9.1999 – 9 C 12/99 – juris Rn. 11). Ein derartiger Ausnahmefall ist hier nicht zu erkennen.
Es ist davon auszugehen, dass die sechsköpfige Familie mit vier Klein- bzw. Kleinstkindern im Alter zwischen gerade einmal 11 und knapp 1 Jahr als Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach der Rückkehr in eine extreme Gefahrenlage geraten würden, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen lässt. Aufgrund der Gesamtumstände ist gerade nicht sichergestellt, dass der Kläger zu 1 als allein Erwerbstätiger bei Rückkehr nach Afghanistan den Lebensunterhalt für sich, seine Ehefrau und die vier Klein- bzw. Kleinstkinder wird erwirtschaften können. Beim Kläger zu 1 kommt erschwerend hinzu, dass er über keine Schulausbildung und keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt. Nach dem eigenen Vortrag der Kläger zu 1 und 2 hat sich der Kläger zu 1 im Iran lediglich als Tagelöhner betätigt. Er habe dabei morgens eine gewisse Anlaufstelle aufgesucht, um dort seine Dienste anzubieten. Einer regelmäßigen beruflichen Betätigung ist der Kläger zu 1 auch im Iran nicht nachgegangen. Die Klägerin zu 2 war bislang lediglich als Hausfrau tätig. Ihre Aufgabe besteht im Wesentlichen in der Kindebetreuung. Hieran wird sich auch in nächster Zeit nichts ändern, da gerade die Kläger zu 5 und 6 lediglich sieben Jahre bzw. knapp ein Jahr alt sind. Weiter kommt hinzu, dass die Kläger zu 1 und 2 glaubhaft vorgetragen haben, dass sie nahezu ihr gesamtes Leben im Iran und nicht in Afghanistan verbracht haben. Hierfür spricht auch die Geburt der Kläger zu 3 bis 5 in Teheran. Damit verfügen die Kläger aber auch nicht über Grundbesitz in Afghanistan, so dass die Problematik adäquater Wohnraumversorgung hinzutritt. Weiter verweist das Gericht auf die extrem hohe Kindersterblichkeit in Afghanistan (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19. Oktober 2016 – Lagebericht Seite 13, 21). Auch der Familienrückhalt für die Kläger dürfte bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht besonders stark ausgeprägt sein, da sich lediglich nur noch wenige Familienangehörige der Kläger in Afghanistan aufhalten. Insoweit geht die im Bescheid des Bundesamtes vom 21. Februar 2017 dargelegte Auffassung zum Vorliegen von Abschiebungsverboten fehl. Sie erschöpft sich im Wesentlichen in Allgemeinplätzen, die auf die Sondersituation der sechsköpfigen Familie nicht eingehen und deren Besonderheiten nicht berücksichtigen.
Ein anderes rechtliches Ergebnis können auch nicht eventuelle Hilfen für die Kläger aus den Rückkehrprogrammen REAG/GARP bzw. ERIN begründen. Beim humanitären Rückkehrprogramm REAG handelt es sich lediglich um eine Reisebeihilfe. Das GARP-Programm sieht Starthilfen im Umfang von 500,00 EUR für Erwachsene und von 250,00 EUR für Kinder unter 12 Jahren vor. Nach dem ERIN-Programm wird freiwilligen Rückkehrern eine Sachleistungsbeihilfe im Umfang von bis zu 2.000,00 EUR gewährt. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die der Kläger zu 1 haben dürfte, als ungelernte Kraft auf dem hart umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und der wohl über Jahre fortdauernden Erwerbssituation seiner Familie mit lediglich einem nicht qualifiziert Erwerbstätigen und vier Kleinstkindern, lassen auch diese Rückkehrbeihilfen, auf die überdies kein Rechtsanspruch besteht (Bundesamt, Auskunft gegenüber VG Augsburg vom 12.8.2016) als nicht ausreichend erscheinen, um dauerhaft ein Überleben der Familie der Kläger in Afghanistan zu gewährleisten.
Im Rahmen einer Gesamtschau würde die Familie der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten, die ihnen nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt daher vor. Wegen des einheitlichen Streitgegenstandes war über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat die Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.

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