Verwaltungsrecht

Einreise bei Kontrollen im fahrenden Zug

Aktenzeichen  4 T 939/17

Datum:
28.4.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 136238
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Traunstein
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 2 Abs. 14 Nr. 5, Abs. 15, § 13 Abs. 2 S. 1, S. 2, § 15 Abs. 5 S. 1, § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5, § 62a Abs. 1, § 72 Abs. 4, § 106 Abs. 2
FamFG § 23 Abs. 2, § 58 Abs. 1, § 62 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, § 63 Abs. 1, § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 3-5
SGK Art. 14, Art. 29
FamFG § 76 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Bei Kontrollen im fahrenden Zug ist eine Einreise erst dann erfolgt, wenn sich der Zug auf deutschem Hoheitsgebiet befindet, die grenzpolizeiliche Kontrolle im Zug beendet wurde und die Kontrollbeamten den Zug verlassen haben. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die nationale Zurückweisungsentscheidung wird durch die Einreiseverweigerung nach Art. 14 iVm Anhang V Teil A SGK verdrängt. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die begründete Entscheidung mit genauer Angabe der Gründe für die Einreiseverweigerung wird gemäß Art. 14 Abs. 2 SGK mit dem Standardformular nach Anhang V Teil B SGK erteilt und dem Drittstaatenangehörigen ausgehändigt. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

1 XIV 46/17 2017-03-17 Bes AGROSENHEIM AG Rosenheim

Tenor

1. Der Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Vollzugs der mit Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 17.03.2017 angeordneten und bis 30.03.2017 vollzogenen Haft wird zurückgewiesen.
2. Der Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird zurückgewiesen.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Betroffene.
4. Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
Der Betroffene, ein afghanischer Staatsangehöriger, wollte am 16.03.2017 gegen 08.10 Uhr mit dem Zug EC 228 von Kufstein/Österreich aus nach Deutschland einreisen. Bei einer grenzpolizeilichen Kontrolle im Zug im Bereich der Gemeinde Kiefersfelden konnte er keine seine Einreise legitimierenden Dokumente vorlegen (vgl. Aufgriffsbericht Anl. zu Bl. 1/8). Dem Betroffenen wurde daraufhin schriftlich die Einreise verweigert (vgl. Einreiseverweigerung, Anl. zu Bl. 1/8). Auf die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung vom 16.03.2017 (Anl. zu Bl. 1/8) wird verwiesen. Eine Eurodac-Recherche für den Betroffenen ergab zwei Treffer für Ungarn (22.05.2016 und 30.11.2016) und einen für Österreich (30.05.2016).
Mit Schreiben vom 17.03.2017 (Bl. 1/8) beantragte die beteiligte Ausländerbehörde beim Amtsgericht Rosenheim Haft zur Sicherung der Zurückweisung für die Dauer von sechs Wochen bis zum 26.04.2017. Zur Begründung führte sie aus, dass nach der erfolgten Zuständigkeitsbestimmung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) der Betroffene nach Ungarn zurückzuweisen sei.
Nach persönlicher Anhörung vom 17.03.2017 (Bl. 9/10) ordnete das Amtsgericht Rosenheim mit Beschluss vom gleichen Tage (Bl. 11/17) gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Zurückweisung an (Ziffer I), die mit der Festnahme am 16.03.2017 beginnt und spätestens nach Ablauf von 6 Wochen am 25.04.2017 endet (Ziffer II). Die sofortige Wirksamkeit wurde angeordnet (Ziffer III).
Gegen den Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 17.03.2017 legte der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen mit Schriftsatz vom 23.03.2017, beim Amtsgericht Rosenheim eingegangen am gleichen Tag, Beschwerde ein. Das Amtsgericht Rosenheim half mit Beschluss vom 23.03.2017 der Beschwerde nicht ab. Der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen beantragte mit Schriftsatz vom 28.03.2017 die Gewährung von Verfahrenskostenhilfe (Bl. 31).
Am 30.03.2017 entließ die beteiligte Behörde den Betroffenen aus der Haft, da nach Auskunft des BAMF aufgrund der Änderung der zum 28.03.2017 in Kraft getretenen ungarischen Asylgesetze bis auf weiteres nicht mehr nach Ungarn überstellt werde (vgl. Haftaufhebungsantrag der beteiligten Behörde vom 30.03.2017, Bl. 39/40, und Schreiben der beteiligten Behörde vom 10.04.2017, Bl. 477/48). Der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen beantragte mit Schriftsatz vom 01.04.2017 (Bl. 41), begründet mit Schriftsatz vom 24.04.2017 (Bl. 49), die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft.
II.
1. Gegen die Anordnung der Haft zur Sicherung der Zurückweisung des Betroffenen durch Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 17.03.2017 ist gemäß § 106 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 58 Abs. 1 FamFG das Rechtsmittel der Beschwerde gegeben. Diese wurde fristgerecht innerhalb der einmonatigen Beschwerdefrist (§ 63 Abs. 1 FamFG) eingelegt und ist zulässig. Da sich das Beschwerdeverfahren wegen der Haftentlassung am 30.03.2017 erledigt hat, kann nach § 62 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 FamFG die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft begehrt werden.
2. Der Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft ist unbegründet.
Die Anordnung von Zurückweisungshaft beruht auf § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG. Danach soll der Ausländer zur Sicherung der Zurückweisung auf richterliche Anordnung in Haft (Zurückweisungshaft) genommen werden, wenn eine Zurückweisungsentscheidung ergangen ist und diese nicht unmittelbar vollzogen werden kann.
a) Der Betroffene ist am 17.03.2017 nicht in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, so dass sich die Haft zur Zurückweisung des Betroffenen nach § 15 Abs. 5 AufenthG bestimmt.
Gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist ein Ausländer an einer zugelassenen Grenzübergangsstelle erst eingereist, wenn er die Grenze überschritten und die Grenzübergangsstelle passiert hat. An der deutsch-österreichischen Grenze finden derzeit aufgrund einer Entscheidung des Bundesministeriums des Inneren auf Basis des Art. 29 Schengener Grenzkodex (SGK) Grenzkontrollen statt. Diese finden nach Überfahren der Grenzlinie bis zum ersten Bahnhof (hier: Rosenheim) statt. Bei Kontrollen im fahrenden Zug ist eine Einreise erst dann erfolgt, wenn sich der Zug auf deutschem Hoheitsgebiet befindet, die grenzpolizeiliche Kontrolle im Zug beendet wurde und die Kontrollbeamten den Zug verlassen haben (vgl. Renner, Ausländerrecht, 9. Auflage 2011, § 13, Rn. 13.2.7). Die Verbringung des Betroffenen zur Beschuldigtenvernehmung zur Polizeidienststelle und anschließend zur gerichtlichen Anhörung stellt gemäß § 13 Abs. 2 Satz 2 AufenthG keine Einreise im Sinne von § 13 Abs. 2 Satz 1 AufenthG dar.
Der Betroffene reiste mit dem Fernreisezug EC 288 von Österreich aus kommend nach Deutschland. Er wurde in örtlichem und zeitlichem Zusammenhang zu dem Überfahren der Grenzlinie grenzpolizeilich kontrolliert. Ausweislich des Aufgriffsberichts war dies gegen 08.10 Uhr in Höhe von Kiefersfelden.
b) Der Anordnung der Zurückweisungshaft lag ein zulässiger und ausreichend begründeter Haftantrag der beteiligten Ausländerbehörde vom 17.03.2017 zugrunde. Für Zurückweisungshaftanträge werden insbesondere Darlegungen zu den Zurückweisungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Zurückweisung und zu der notwendigen Haftdauer verlangt (vgl. § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 – 5 FamFG). Inhalt und Umfang der erforderlichen Darlegung bestimmen sich nach dem Zweck des Begründungserfordernisses. Es soll gewährleisten, dass das Gericht die Grundlagen erkennt, auf welche die Behörde ihren Antrag stützt, und dass das rechtliche Gehör des Betroffenen durch die Übermittlung des Haftantrags nach § 23 Abs. 2 FamFG gewahrt wird (BGH vom 22. Juli 2010, V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511). Die Darlegungen dürfen knapp gehalten sein, müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falles ansprechen (BGH vom 15.09.2011, FGPrax 2011, 317).
(1) Die nach § 15 Abs. 5 Satz 1 AufenthG erforderliche Zurückweisungsentscheidung liegt vor. Die nationale Zurückweisungsentscheidung wird durch die Einreiseverweigerung nach Art. 14 i.V.m. Anhang V Teil A SGK verdrängt (vgl. Bergmann/Dienelt/Winkelmann, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 15 AufenthG Rn. 9). Die begründete Entscheidung mit genauer Angabe der Gründe für die Einreiseverweigerung wird gemäß Art. 14 Abs. 2 SGK mit dem Standardformular nach Anhang V Teil B SGK erteilt und dem Drittstaatenangehörigen ausgehändigt (Bergmann a.a.O.). Durch die beteiligte Ausländerbehörde wurde am 17.03.2017 die Einreiseverweigerung angeordnet. Diese Einreiseverweigerung wurde dem Betroffenen mittels Dolmetscher übersetzt. Sie entspricht dem o.g. Standardformular. Die Einreiseverweigerung erfolgte zu Recht, da der Betroffene nicht über den für eine Einreise erforderlichen Titel (§ 4 AufenthG) verfügte.
(2) Aus dem Haftantrag der beteiligten Behörde vom 17.03.2017 geht hervor, dass der Betroffene gemäß der Dublin – III – Verordnung nach Ungarn zurückgewiesen werden sollte. Soweit der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen die Unzulässigkeit der Zurückweisung nach Ungarn wegen fehlender Rechtstaatlichkeit des Verfahrens in Ungarn rügt, führt dies nicht zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft. Ob die zunächst beabsichtigte Zurückweisung des Betroffenen nach Ungarn zulässig war, unterliegt grundsätzlich nicht dem Prüfungsmaßstab im Beschwerdeverfahren, sondern ist von dem zuständigen Verwaltungsgericht zu entscheiden (vgl. Bergmann a.a.O., § 15 AufenthG Rn. 70). Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass die beteiligte Behörde aufgrund einer Empfehlung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Haftentlassung veranlasste, da dieses wegen der zum 28.03.2017 in Kraft getretenen Änderung der ungarischen Asylgesetze dort die Einhaltung der Aufnahmerichtlinie der EU (RL 2013/33) als nicht mehr gewährleitet ansieht.
(3) Der Antrag enthält eine Begründung, dass die beteiligte Behörde bei Antragstellung von einem Zeitbedarf von sechs Wochen für die beabsichtigte Zurückweisung ausging. Dieser Zeitansatz ist aufgrund der bisherigen Erfahrungen für die Dauer der Überstellung nach Ungarn nicht zu beanstanden.
c) Der Haftantrag enthält das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft Traunstein für die geplante Zurückweisung (Ziffer IV. i). Im Übrigen ist dieses Einvernehmen nach der aktuellen Fassung des § 72 Abs. 4 AufenthG nicht mehr erforderlich.
d) Die nach Art. 15 der Rückführungsrichtlinie erforderliche Fluchtgefahr lag vor. Da vorliegend die Haft zur Sicherung der Zurückweisung des Betroffenen im Dublin-III-Verfahren angeordnet wurde, sind für das Vorliegens einer erheblichen Fluchtgefahr die in § 2 Abs. 15 AufenthG und durch die Verweisung in Satz 1 die in § 2 Abs. 14 AufenthG festgelegten Kriterien maßgeblich.
Es lagen Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr nach § 2 Abs. 14 Ziffer 4 AufenthG vor. Danach kann ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr sein, wenn der Ausländer zu seiner unerlaubten Einreise erhebliche Geldbeträge an einen Dritten für dessen Handlung nach § 96 AufenthG aufgewandt hat, die für ihn nach den Umständen derart maßgeblich sind, dass daraus geschlossen werden kann, dass er die Abschiebung verhindern wird, damit die Aufwendungen nicht vergeblich waren. Der mittellose Betroffene (vgl. Erklärung über die wirtschaftlichen Verhältnisse, Bl. 42/45) hat nach seinen Angaben bei der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung für die Schleusung von Afghanistan nach Griechenland 6.000,00 € bezahlt. Nach seinen Angaben war sein eigentliches Reiseziel Deutschland. Im Falle einer Zurückweisung nach Ungarn wäre der für den Reiseabschnitt von Afghanistan nach Griechenland bezahlte Schleuserlohn vergeblich aufgewendet worden. Da der Betroffene ausweislich seiner Angaben vor dem Amtsgericht Rosenheim fürchtete, von Ungarn nach Afghanistan abgeschoben zu werden, wäre auch deshalb der Schleuserlohn vergeblich aufgewendet gewesen (vgl. BGH vom 16.02.2017, V ZB 115/16).
Es bestand auch der Haftgrund der Fluchtgefahr im Sinne von § 62 Abs. 3 Satz 1 Ziffer 5, § 2 Abs. 14 Ziffer 5 AufenthG. Danach kann ein konkreter Anhaltspunkt für eine erhebliche Fluchtgefahr sein, wenn der Ausländer ausdrücklich erklärt hat, dass er sich der Abschiebung entziehen will. Diese Voraussetzungen lagen vor. Der Betroffene verneinte bei der polizeilichen Vernehmung die Frage, ob er sich für eine Abschiebung nach Afghanistan oder Ungarn oder Österreich bereithalten würde und gab an, dass er in keines dieser Länder wolle. Vor dem Amtsgericht Rosenheim gab er erneut an, dass er keinesfalls nach Ungarn wolle.
e) Die Haft wurde in der zentralen Abschiebehafteinrichtung in Mühldorf am Inn vollzogen (§ 62a Abs. 1 AufenthG).
3. Der Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren war zurückzuweisen, da die Beschwerde keine Aussicht auf Erfolg hatte (§ 76 Abs. 1 FamFG, § 114 Satz 1 ZPO). Die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe setzt neben der Bedürftigkeit des Betroffenen voraus, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (vgl. BGH vom 20.05.2016, V ZB 140/15). Die Beschwerde war nicht erfolgreich.
Die Verfahrenskostenhilfe war auch nicht wegen der Schwierigkeit der Rechtslage zu gewähren. Da das Verfahrenskostenhilfeverfahren nicht dem Zweck dient, über zweifelhafte Rechtsfragen abschließend vorweg zu entscheiden, darf ein Gericht die Erfolgsaussicht nicht verneinen, wenn eine solche Rechtsfrage zu klären ist, auch wenn das Gericht in der Sache zu Ungunsten des Antragstellers entscheiden möchte. Entsprechendes muss dann gelten, wenn sich in tatsächlicher Hinsicht schwierige und komplexe Fragen stellen. (vgl. BGH a.a.O.). Solche schwierigen Rechtsfragen waren hier nicht zu klären.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG.
5. Die Festsetzung des Geschäftswerts der Beschwerde beruht auf §§ 61 Abs. 1 Satz 1, 36 Abs. 3 GNotKG.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen