Aktenzeichen 3 S 88/16
StVG § 7 Abs. 1, § 17
VVG § 115 Abs. 1 Nr. 1
Leitsatz
1 Holt der Geschädigte nach einem Verkehrsunfall ein Schadensgutachten (“Zweitgutachten”) ein, obwohl bereits ein vom Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherer erholtes Gutachten (“Erstgutachten”) vorliegt, so gehören die für das Zweitgutachten erforderlichen Kosten jedenfalls dann zum nach § 249 BGB ersatzfähigen Schaden, wenn die Umstände des Einzelfalls aus der ex-ante-Betrachtung des Geschädigten konkrete Zweifel an der Objektivität und Richtigkeit des Erstgutachtens begründen. (redaktioneller Leitsatz)
2 Ob der Geschädigte die Einholung eines Zweitgutachtens unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit auch unabhängig vom Bestehen konkreter Zweifel an der Objektivität und Richtigkeit des vom Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherer erholten Erstgutachtens für erforderlich halten darf (so OLG Stuttgart BeckRS 9998, 60550), kann offen bleiben. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
101 C 888/16 2016-09-15 Endurteil AGBAMBERG AG Bamberg
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Endurteil des Amtsgerichts Bamberg vom 15.09.2016, Az. 101 C 888/16, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 751,78 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 21.05.2016 zu bezahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen der Kläger zu 15% und die Beklagte zu 85%. Die Kosten des Rechtsstreits zweiter Instanz trägt die Beklagte.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 668,78 € festgesetzt.
Gründe
Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß §§ 525, 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO abgesehen, da ein Rechtsmittel (Revision) gegen das Urteil unzweifelhaft nicht zulässig ist und auch die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 544 ZPO dagegen nicht erhoben werden kann.
B. Die statthafte (§ 511 Abs. 1, 2 Nr. 1 ZPO) und zulässige (§§ 517, 519, 520 Abs. 1, 2, 3 ZPO) Berufung des Klägers hat auch in der Sache Erfolg. Der Kläger kann von der Beklagten über die erstinstanzlich bereits zugesprochenen 83,00 EUR hinaus in Anbetracht der unstreitigen Haftungsquote von 100% gemäß §§ §§ 7 Abs. 1, 17 StVG, 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG die Zahlung von weiteren 688,78 EUR (Kosten für das von ihm am 18.04.2016 beauftragte und am 25.04.2016 vom Sachverständigen H. erstattete Schadensgutachten) verlangen. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts sind die Kosten dieses sog. Zweitgutachtens erstattungsfähig.
Ist wegen der Beschädigung einer Sache Schadensersatz zu leisten, so kann der Geschädigte gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen. Der Geschädigte ist nach schadensrechtlichen Grundsätzen in der Wahl der Mittel zur Schadensbehebung frei. Er darf zur Schadensbeseitigung grundsätzlich den Weg einschlagen, der aus seiner Sicht seinen Interessen am besten zu entsprechen scheint. Denn Ziel der Schadensrestitution ist es, den Zustand wiederherzustellen, der wirtschaftlich gesehen der hypothetischen Lage ohne das Schadensereignis entspricht. Der Geschädigte ist deshalb grundsätzlich berechtigt, einen qualifizierten Gutachter seiner Wahl mit der Erstellung des Schadensgutachtens zu beauftragen. Der Geschädigte kann jedoch vom Schädiger nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB als erforderlichen Herstellungsaufwand nur die Kosten erstattet verlangen, 3 s 88/16 – Seite 3 die vom Standpunkt eines verständigen, wirtschaftlich denkenden Menschen in der Lage des Geschädigten zur Behebung des Schadens zweckmäßig und notwendig erscheinen. Er ist nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot gehalten, im Rahmen des ihm Zumutbaren den wirtschaftlicheren Weg der Schadensbehebung zu wählen, sofern er die Höhe der für die Schadensbeseitigung aufzuwendenden Kosten beeinflussen kann. Allerdings ist bei der Beurteilung, welcher Herstellungsaufwand erforderlich ist, auch Rücksicht auf die spezielle Situation des Geschädigten, insbesondere auf seine Erkenntnis- und Einflussmöglichkeiten sowie auf die möglicherweise gerade für ihn bestehenden Schwierigkeiten zu nehmen (sog. subjektbezogene Schadensbetrachtung). Auch ist der Geschädigte grundsätzlich nicht zu einer Erforschung des ihm zugänglichen Markts verpflichtet, um einen möglichst preisgünstigen Sachverständigen ausfindig zu machen (vgl. Zum Ganzen zusammenfassend BGH, Urteil vom 19. Juli 2016, Az. VI ZR 491/15, NJW 2016, 3363, bei juris Rn. 15 f. m. w. N., Hervorhebung nicht im Original).
Für die Frage der Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit der Beauftragung eines Sachverständigen ist auf die Sicht des Geschädigten zum Zeitpunkt der Beauftragung abzustellen. Demnach kommt es darauf an, ob ein verständig und wirtschaftlich denkender Geschädigter nach seinen Erkenntnissen und Möglichkeiten die Einschaltung eines Sachverständigen für geboten erachten durfte. Diese Voraussetzungen ergeben sie sich bereits aus § 249 BGB, so daß die Darlegungs- und Beweislast hierfür beim Geschädigten liegt (BGH, Urteil vom 30. November 2004, Az. VI ZR 365/03, NJW 2005, 356, bei juris Rn. 17 m. w. N., Hervorhebung nicht im Original).
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten, unter welchen Umständen die Erforderlichkeit der Kosten eines vom Geschädigten erholten Zweitgutachtens eines anderen Sachverständigen zu bejahen ist. Zum Teil wird davon ausgegangen, die Kosten des Zweitgutachtens seien lediglich dann vom Schädiger zu ersetzen, wenn das Erstgutachten von ihm oder seinem Haftpflichtversicherer in Auftrag gegeben worden ist und aus der Sicht des Geschädigten begründete Zweifel an seiner Richtigkeit bestehen (so z. B. Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Auflage 2014, § 26 Rn. 8). Wohl überwiegend wird hingegen vertreten, der Geschädigte dürfe die Einholung eines zweiten -„eigenen“ – Gutachtens selbst dann für erforderlich halten, wenn Zweifel an der Objektivität oder Richtigkeit des vom Schädiger beauftragten Gutachtens nicht bestehen (z. B. OLG Stuttgart, NJW 1974, 951; KG, DAR 1976, 241; LG Mannheim, zfs 1980, 266; AG Oldenburg in Holstein, BeckRS 2008, 09416; Vuia, NJW 2013, 1197, 1199 m.w. N., auch zur Gegenauffassung). Verwiesen wird insoweit auf den Grundsatz der Waffengleichheit; bei der Beauftragung eines Sachverständigen durch den Unfallgegner bzw. dessen Versicherung müsse der Geschädigte das Recht behalten, das Gutachten eines Sachverständigen „seines Vertrauens“ einzuholen (so z. B. OLG Stuttgart, NJW 1974, 951, bei juris Rn. 37 a.E.).
Es bedarf im vorliegenden Fall keiner endgültigen Entscheidung, welcher der vorstehenden Auffassungen der Vorzug zu geben ist. Der Kläger durfte hier auch bei Anlegung des strengeren Maßstabs die Beauftragung des Sachverständigen als Zweitgutachter für erforderlich halten. Denn nach den konkreten Umständen des Einzelfalls konnte und durfte der Kläger zum Zeitpunkt der Auftragserteilung an den Sachverständigen berechtigte Zweifel sowohl an Sachkunde und Neutralität des beklagtenseits beauftragten Sachverständigen als auch an der Richtigkeit seiner Feststellungen haben: So war der Kläger am 12.04.2016 bei der Besichtigung seines beschädigten Pkw durch den Sachverständigen (von dem er wusste, dass er von der Beklagten beauftragt worden war) anwesend und bekam unmittelbar mit, dass dieser von einer zumindest nahe liegenden Untersuchung des Pkw auf der Hebebühne und einer Vermessung der Achsen absah, obgleich eine Beschädigung der Hinterachse im Raum stand. Nach Erhalt des schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen vom 13.04.2016 (Anlage K 5, Bl. 18 ff. d.A.) musste der Kläger feststellen, dass ein falscher Fahrzeugtyp zugrunde gelegt worden war (wenn auch möglicherweise zu seinem Vorteil). Nachdem er bei seiner Werkstatt in Leesten vorstellig geworden war, teilte man ihm dort ferner mit, dass der Sachverständige die voraussichtlichen Reparaturkosten deutlich zu niedrig veranschlagt habe (wie es im weiteren Verlauf ja auch vom Sachverständigen in seinem schriftlichen Gutachten vom 25.04.2016, Anlage K 1, Bl. 6 ff. d.A., bestätigt wurde). Schließlich stellte es sich aus der Sicht des (anwaltlich beratenen) Klägers so dar, dass der Sachverständige den Restwert des verunfallten Pkw nicht unter Berücksichtigung der Vorgaben des BGH ermittelt hatte. All dies Umstände begründeten aus der Sicht des Klägers konkrete Zweifel an der Objektivität und Richtigkeit des von der Beklagten beauftragten Gutachtens, weshalb er die Einholung eines Zweitgutachtens für erforderlich erachten durfte.
Die Erwägung des Amtsgerichts, es sei nicht erkennbar, welches berechtigte Interesse der Kläger gehabt haben könnte, durch ein weiteres Gutachten Reparaturkosten ermitteln zu lassen, die außerhalb der Grenze von 130% des Wiederbeschaffungswerts liegen, da in diesem Fall der Kläger den Unfallschaden ohnehin nur auf Totalschadensbasis hätte abrechnen können, verfängt nicht. Ausgehend von den dargestellten Zweifeln an der Richtigkeit des ihm übersandten Erstgutachtens der Beklagten konnte und durfte der anwaltlich beratene Kläger es ohne weiteres auch für fraglich erachten, ob der Wiederbeschaffungswert von 3.000,00 EUR vom Sachverständigen richtig bemessen worden war. Auch der Sicht des Klägers stand damit die Möglichkeit, dass die Frage des Vorliegens eines wirtschaftlichen Totalschadens abweichend zu beurteilen sein könnte, zwanglos im Raum. Richtig ist, dass sich hinsichtlich des Wiederbeschaffungswerts letztlich durch die Feststellungen des Sachverständigen …| nichts wesentlich Neues ergeben hat, dieser den Wiederbeschaffungswert vielmehr nur 100,00 EUR höher angesetzt hat. Maßgeblich ist insoweit aber – wie ausgeführt – allein eine ex-ante-Betrachtung zum Zeitpunkt der Beauftragung des Sachverständigen.
Die Kammer weist ergänzend darauf hin, dass die Beklagte im vorliegenden Fall wertungsmäßig womöglich sogar „dankbar“ sein kann/muss, dass der Kläger ein eigenes Gutachten erholt hat. Denn der Kläger hätte – ausgehend von dem Erstgutachten des Sachverständigen -seinen Pkw auch ohne Rechtsverlust reparieren lassen können, da die voraussichtlichen Reparaturkosten (3.175,98 EUR brutto) unter 130% des Wiederbeschaffungswerts (3.000,00 EUR) lagen. Hätte er aber im Vertrauen auf die Richtigkeit des Erstgutachtens tatsächlich die erforderlichen Reparaturarbeiten beauftragt und wären deren Kosten deutlich höher ausgefallen (so wie vom Sachverständigen ausgeführt: 5.366,55 EUR brutto), hätte die Beklagte auch für diese Mehrkosten aufkommen müssen, nachdem von ihr das Werkstatt- und das Prognoserisiko zu tragen ist.
Nachdem dem Kläger durch das Amtsgericht bereits rechtskräftig 83,00 EUR zugesprochen worden waren und die für das Zweitgutachten entstandenen Kosten in Höhe von 668,78 EUR der Höhe nach unstreitig sind, ergibt sich insgesamt ein noch von der Beklagen zu zahlender Betrag von 751,78 EUR.
Die Nebenentscheidung zu den Zinsen ergibt sich aus §§ 286, 288, 291 BGB. Die Beklagte befindet sich seit dem 21.05.2016 in Verzug, nachdem sie vorgerichtlich mit Schreiben vom 20.05.2016 (Bl. 30 d.A.) eine weitere Zahlung ablehnte.
C. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 91 Abs. 1 ZPO; im Berufungsverfahren obsiegt der Kläger vollständig, im ersten Rechtszug – nachdem dort insgesamt ein Betrag von 888,78 EUR eingeklagt worden war – nur zu 85%. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10 Satz 1, 711 Satz 1, 713 ZPO.
D. Die Festsetzung des Streitwerts für das Berufungsverfahren ergibt sich aus dem Umfang des klägerischen Berufungsangriffs.
E. Die Voraussetzungen zur Zulassung der Revision liegen nicht vor. Die Kammer weicht von höchstrichterlicher oder obergerichtlicher Rechtsprechung nicht ab. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordern die Rechtsfortbildung oder die Wahrung der Rechtseinheit eine Entscheidung des Revisionsgerichts, § 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 ZPO.