Aktenzeichen M 6 S 16.51136
AsylG AsylG § 14 Abs. 2 Nr. 2, § 34a Abs. 1 S. 1, S. 2, § 55 Abs. 1 S. 3, § 67 Abs. 1 S. 1 Nr. 5
Leitsatz
Ist das Asylverfahren mangels einer Entscheidung über den Asylantrag noch nicht abgeschlossen, hat dies zur Folge, dass die Wirkungen der Aufenthaltsgestattung fortdauern und eine Ausreisepflicht des Antragstellers nicht besteht; eine Anordnung der Abschiebung kommt nicht in Betracht. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (M 6 K 16.51135) gegen die in Nr. 1 des Bescheids vom 21. November 2016 enthaltene Abschiebungsanordnung nach Italien wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die mit Bescheid vom 21. November 2016 angeordnete Abschiebung nach Italien im Rahmen eines Dublin-Verfahrens.
Der Antragsteller ist seinen Angaben zufolge 1972 geboren und tunesischer Staatsangehöriger. Er wurde am 15. Oktober 2016 durch die Bundespolizei in Deutschland aufgegriffen (Bl. 8, 13, 18 der Behördenakte) und vorläufig festgenommen (Bl. 15, 19, 34 ff. der Behördenakte). Er befindet sich seither in Untersuchungshaft.
Laut polizeilichem Aufgriffsbericht vom 15. Oktober 2016 hatte der Antragsteller bereits am Vortag (14. Oktober 2016) versucht, unerlaubt nach Deutschland einzureisen. Festgestellt worden sei zudem, dass der Antragsteller bereits am 2. Januar 2016 unerlaubt nach Deutschland eingereist sei und gegenüber der Bundespolizei ein Asylbegehren geäußert habe. Laut Ausländerzentralregister sei der Antragsteller am 11. Mai 2016 nach unbekannt verzogen. Sein Asylverfahren in Deutschland habe er nicht weiter betrieben (Bl. 15 f. der Behördenakte). In den Behördenakten befindet sich ein auf den Antragsteller unter dem 5. Januar 2016 ausgestellter Heimausweis der Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) M. (Bl. 3 der Behördenakte).
Bei seiner Vernehmung am 14. Oktober 2016 gab der Antragsteller an, sein Heimatland vor ca. einem Jahr verlassen zu haben. Er habe bereits am 15. Oktober 2015 in Italien, im Januar 2016 in Deutschland und am 20. September 2016 in Österreich einen Asylantrag gestellt. Sein Asylantrag in Österreich sei vor 10 Tagen abgelehnt worden. Die Dokumente habe er weggeworfen. In Italien habe er keine Antwort auf seinen Antrag bekommen. Sein Asylantrag in Deutschland sei noch in Bearbeitung (Bl. 49 der Behördenakte).
Die Ermittlungen der Bundespolizei ergaben am 15. Oktober 2016 jeweils einen Eurodac-Treffer der Kategorie 1 für Italien („IT1…“), für die Schweiz („CH1…“) und für Österreich („AT1…“). Danach hat der Antragsteller bereits am 23. Oktober 2015 in Italien, am 28. Dezember 2015 in der Schweiz und am 10. September 2016 in Österreich einen Asylantrag gestellt (Bl. 29 der Behördenakte).
Am 25. Oktober 2016 richtete die Antragsgegnerin unter Berufung auf den Eurodac-Treffer für Italien, insbesondere den dort am 23. Oktober 2015 gestellten Asylantrag, ein Wiederaufnahmeersuchen an Italien gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO (Bl. 89 ff. der Behördenakte). Eine Antwort Italiens auf das Wiederaufnahmeersuchen erfolgte – abgesehen von der Eingangsbestätigung vom 25. Oktober 2016 (Bl. 94 der Behördenakte) – nicht.
Mit Schreiben vom 25. Oktober 2016, zugestellt am 27. Oktober 2016, übersandte die Antragsgegnerin dem Antragsteller einen Fragebogen, mit der Bitte, die darin enthaltenen Fragen zu beantworten (Bl. 72 der Behördenakte).
Mit Bescheid vom 21. November 2016, zugestellt am 23. November 2016, ordnete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Abschiebung nach Italien an (Nr. 1 des Bescheids) und befristete das gesetzliche Einreise und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 2). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die Abschiebung nach Italien gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG anzuordnen sei, da dieser Staat gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO für die Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig sei. Sollte sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstellen, dass der Antragsteller entgegen der bisherigen Erkenntnislage bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz erhalten hat, bleibe es gleichwohl bei der Unzulässigkeit des Asylantrags (§ 60 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die gegen eine Überstellung nach Italien sprechen könnten, seien nicht ersichtlich.
Mit Schriftsatz vom 24. November 2016, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht München am 28. November 2016, erhob der Antragsteller Klage gegen diesen Bescheid (M 6 K 16.51135) und beantragte sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Zur Begründung wird ausgeführt, dass er nicht nach Italien zurück wolle. Dort habe er weder eine Wohnung noch eine Familie und es gebe keine Sozialhilfe. Er wolle deswegen einen „Asylantrag […] hier beantragen“.
Die Antrags- und Klageschrift ging am 5. Dezember 2016 bei der Antragsgegnerin ein. Diese übersandte daraufhin die Behördenakten, äußerte sich zur Sache aber nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakten im vorliegenden Antragsverfahren und im Klageverfahren M 6 K 16.51135 und die Behördenakte der Antragsgegnerin ergänzend Bezug genommen.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – ist zulässig und begründet.
Nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft hierbei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem privaten Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei der Abwägung sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren nur erforderliche und mögliche summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts zunächst verschont zu bleiben, zurück. Erweist sich umgekehrt der Bescheid nach vorläufiger Prüfung als rechtswidrig, wird das Gericht die aufschiebende Wirkung in der Regel anordnen, da kein öffentliches Interesse an der Vollziehung eines voraussichtlich rechtswidrigen Bescheids besteht. Ist der Ausgang des Verfahrens nicht absehbar, bleibt es bei der allgemeinen Interessenabwägung.
Gemessen an diesen Grundsätzen überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin, da nach vorläufiger Prüfung davon auszugehen ist, dass die in Nr. 1 des angefochtenen Bescheids enthaltene Abschiebungsanordnung nach Italien rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist dabei der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Halbsatz 2 Asylgesetz – AsylG).
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 AsylG gilt dies auch, wenn der Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gesellt wurde.
Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass die angeordnete Abschiebung nach Italien unzulässig (geworden) ist, weil davon auszugehen ist, dass dem Antragsteller aufgrund seines zwischenzeitlich gestellten Asylantrags der Aufenthalt im Bundesgebiet gestattet ist (§ 55 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 14 Abs. 2 Nr. 2 AsylG; so auch VG München, B.v. 27.9.2016 – M 26 16.50651 – juris – in einer vergleichbaren Fallkonstellation). Dahingestellt bleiben kann dabei, ob der Aufenthalt des Antragstellers bereits ab dem 5. Januar 2016 als gestattet gilt, weil er vor dem 5. Februar 2016 im Bundesgebiet um Asyl nachgesucht hat (vgl. § 87c Abs. 2 und Abs. 5 AsylG). Denn der Antragsteller hat jedenfalls mit seiner Klage- und Antragsschrift vom 24. November 2016, die am 5. Dezember 2016 beim Bundesamt eingegangen ist, einen Asylantrag bei der gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 2 AsylG zuständigen Antragsgegnerin gestellt, mit der Folge, dass ihm jedenfalls seither der Aufenthalt gemäß § 55 Abs. 1 Satz 3 AsylG gestattet ist.
Das mit der Asylantragstellung eingeleitete Asylverfahren dauert bis zu seinem Abschluss durch eine Entscheidung über den Asylantrag und Zustellung dieser Entscheidung an den Antragsteller an. Sollte sich der Asylantrag als erfolglos erweisen, ist er abzulehnen. Dies gilt auch dann, wenn nach den Dublin-Regelungen ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 31 Abs. 1 Satz 5, § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG). Ist das Asylverfahren mangels einer Entscheidung über den Asylantrag noch nicht abgeschlossen, hat dies zur Folge, dass die Wirkungen der Aufenthaltsgestattung fortdauern und eine Ausreisepflicht des Antragstellers nicht besteht (vgl. § 67 Abs. 1 Satz 1 – insbesondere Nr. 5 – AsylG). Folglich kommt auch die Anordnung der Abschiebung nicht in Betracht (VG Frankfurt, B.v. 1.4.2014 – 7 L 401/14.F.A – juris Rn. 13).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b Abs. 1 AsylG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).