Verwaltungsrecht

Rechtswidrige Abschiebungsandrohung wegen Fehlens der Voraussetzungen für einen Zweitantrag

Aktenzeichen  M 21 S 16.35816

Datum:
23.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71a
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 16 Abs. 1 lit. 2, Abs. 2

 

Leitsatz

Das Bundesamt darf sich nur dann auf die Prüfung von Wiederaufnahmegründen beschränken, wenn es gesicherte Erkenntnisse darüber hat, dass das Asylerstverfahren in dem anderen Mitgliedstaat der EU mit einer negativen Sachentscheidung abgeschlossen wurde. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage M 21 K 16.35814 wird hinsichtlich Nummer 1 und der in Nummer 3 enthaltenen Abschiebungsandrohung des angefochtenen Bescheids angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Die nicht ausgewiesene Antragstellerin, nach eigenen Angaben nigerianische Staatsangehörige, reiste am 20. April 2013 von Italien kommend nach Deutschland ein, wo sie durch die Bundespolizei aufgegriffen wurde.
Eine Eurodac Anfrage ergab eine Treffermeldung der Kategorie 1 für Italien. Einem Ersuchen des Bundesamts vom 24. April 2013 um Wiederaufnahme an Italien nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. e VO 343/2003 (Dublin-II-VO) entsprach Italien mit Schreiben des Innenministeriums vom 6. Mai 2013 unter Bezug auf Art. 16 Abs. 2 Dublin-II-VO, erklärte sich bereit, die Antragstellerin zur Bestimmung der Zuständigkeit für Anträge auf internationalen Schutz aufzunehmen und wies zugleich auf die Überstellungsfrist bis 6. November 2013 hin.
Bei der Erstbefragung am 10. Dezember 2013 vor dem Bundesamt gab die Antragstellerin u.a. an, ein Asylantrag in Italien sei abgelehnt, aber der Aufenthalt für ein Jahr gestattet worden. Ein mit Schreiben des Bundesamts vom 18. Juni 2015 an den Bevollmächtigten der Antragstellerin übermittelter Fragebogen zur Mitteilung des Sachstands eines Verfahrens auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat blieb unbeantwortet. Eine Info-Request des Bundesamts vom 24. Juni 2015 wurde von Italien mit Schreiben des Innenministeriums vom 28. September 2015 beantwortet und mitgeteilt, dass der Antragstellerin eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen mit Gültigkeit bis 23. November 2013 erteilt worden sei.
Am 7. Oktober 2016 erfolgte die Anhörung der Antragstellerin vor dem Bundesamt. Zur Begründung ihres Asylantrags machte die Antragstellerin familiäre Probleme geltend, weshalb sie im März 2011 ausgereist, dann über Libyen nach Italien gereist sei und dort fast zwei Jahre gelebt habe. Mangels Arbeit, Wohnung und Platz zum Leben sei sie dann nach Deutschland gekommen.
Mit Bescheid vom 6. Dezember 2016 (Bescheid mit Einschreiben am 8.12. 2016 zur Post gegeben) lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2), forderte die Antragstellerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen und drohte die Abschiebung nach Nigeria an (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Zur Begründung wurde ausgeführt, bei dem Asylantrag handle es sich um einen Zweitantrag im Sinne von § 71a AsylG. Die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens lägen nicht vor. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG lägen im Hinblick auf die Bedingungen in Nigeria und die individuellen Umstände des Klägers nicht vor.
Die Antragstellerin hat durch ihren Bevollmächtigten am 16. Dezember 2016 Klage erheben (M 21 K 16.35814) und beantragen lassen, den Bescheid vom 6. Dezember 2016 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, den Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, hilfsweise, die Antragsgegnerin zu verpflichten, das Bestehen von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG festzustellen.
Gleichzeitig wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Das Bundesamt hat die Akten mit Schreiben vom 16. Januar 2017 vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in diesem und im Klageverfahren und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gerichtete Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hinsichtlich der nach § 75 AsylG kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung (vgl. § 71a Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 1 AsylG) sowie der – in der Hauptsache mit der Anfechtungsklage anfechtbaren (BVerwG, U.v. 16.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 16) – Unzulässigkeitsentscheidung in Nummer 1 des angefochtenen Bescheids ist zulässig und begründet.
Das Gericht trifft bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO eine originäre Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem öffentlichen Interesse an der vom Gesetzgeber vorgesehenen sofortigen Vollziehung des Bescheides und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Erweist sich der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung.
Im Hinblick auf die Abschiebungsandrohung darf nach dem gemäß § 71 Abs. 4 AsylG anwendbaren Prüfungsmaßstab des § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen, wobei Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, unberücksichtigt bleiben, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig (§ 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. AsylG. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166 ff.).
Entsprechend diesem Maßstab ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen.
Nach § 71a AsylG ist im Falle eines Zweitantrags ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Ein Zweitantrag liegt vor, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat im Sinne von § 26a AsylG oder einem der in § 71a AsylG sonst genannten Staaten im Bundesgebiet einen Asylantrag stellt.
Ein erfolgloser Abschluss des in einem anderen Mitgliedstaat der EU betriebenen Asylverfahrens setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig – d.h. ohne die Möglichkeit einer Wiederaufnahme auf Antrag des Asylbewerbers – eingestellt worden ist (BVerwG, U.v. 14.12.2016 a.a.O. – juris Rn. 30 ff.). Maßgeblich für die entsprechende Beurteilung ist die Rechtslage in dem betreffenden Mitgliedsstaat (BVerwG, U.v. 14.12.2016 a.a.O. – juris Rn. 33 ff.). Diese Voraussetzungen müssen feststehen – bloße Mutmaßungen genügen nicht (Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 71a AsylG Rn. 9). Dies bedeutet, dass das Bundesamt zu der gesicherten Erkenntnis gelangen muss, dass das Asylerstverfahren mit einer für den Asylbewerber negativen Sachentscheidung abgeschlossen wurde, um sich in der Folge auf die Prüfung von Wiederaufnahmegründen beschränken zu dürfen. Ist ihm der aktuelle Stand des Verfahrens in dem anderen Mitgliedstaat nicht bekannt, muss es diesbezüglich zunächst weitere Ermittlungen anstellen, insbesondere im Rahmen der für den Informationsaustausch vorgesehenen Info-Request nach Maßgabe von Art. 21 Abs. 1 und 2 der (gemäß Art. 49 VO 604/2013 anwendbaren) Dublin-II-VO (vgl. BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris Rn. 39 ff.; U.v. 13.10.2016 – 20 B 15.30008 – juris Rn. 42 ff.). Erforderlich sind danach stets die Informationen zum Verfahrensstand und zum Tenor einer ggfs. getroffenen Entscheidung in dem Mitgliedsstaat (vgl. Art. 21 Abs. 2 Buchst. g Dublin-II-VO) und zudem – im Hinblick auf eine Beurteilung der Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG – zumindest in der Regel die Entscheidungsgründe der Ablehnung in dem anderen Mitgliedstaat (vgl. Art. 21 Abs. 3 Dublin-II-VO; weitergehend – Kenntnis der Entscheidungsgründe stets erforderlich – z.B. VG München, B.v. 27.12.2016 – M 23 16.33585 – juris Rn. 19 m.w.N.).
Entsprechend diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für einen Zweitantrag nicht vor. Aus der Aussage der Antragstellerin bei ihrer Erstbefragung lassen sich keine Schlüsse zum Verfahrensstand ziehen. Entsprechende Aussagen von Asylbewerbern haben regelmäßig einen geringen Aussagewert, zumal ihnen die Unterschiede verschiedener Entscheidungen im Zusammenhang mit einem Verfahren auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat häufig nicht geläufig sind. Zwar hat die Antragstellerin den an ihren Bevollmächtigten übermittelten Fragebogen zum Stand eines Verfahrens bzgl. internationalem Schutz in einem anderen Mitgliedstaat unbeantwortet gelassen und damit möglicherweise gegen Mitwirkungspflichten gemäß § 15 Abs. 2 Nr. 5, Abs. 3 Nr. 2 AsylG verstoßen. Eine entsprechende Mitwirkungspflicht tritt aber im Hinblick auf den im Rahmen der Dublin-II-VO geregelten Informationsaustausch zwischen den Mitgliedsstaaten in den Hintergrund und spielt jedenfalls dann keine Bedeutung, wenn eine Beschaffung der Informationen für das Bundesamt in diesem Rahmen unproblematisch möglich ist. Die Information Italiens vom 28. September 2015 zu der Info-Request des Bundesamtes, wonach der Antragstellerin ein Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen erteilt worden sei, beinhaltet keine Aussage dazu, ob in Italien ein Verfahren auf internationalen Schutz gestellt wurde und ob und mit welchem Inhalt ein solches Verfahren abgeschlossen wurde. Im Hinblick auf die vorangegangene positive Entscheidung Italiens zu einem Wiederaufnahmegesuch (takeback) des Bundesamtes bestehen im Gegenteil Anhaltspunkte dafür, dass in Italien kein abgeschlossenes Verfahren auf internationalen Schutz vorliegt. Italien nahm bei der Beantwortung der Anfrage gerade nicht auf den vom Bundesamt in Bezug genommenen Art. 16 Abs. 1 Buchst. e – Wiederaufnahme eines Drittstaatsangehörigen, dessen Antrag abgelehnt wurde und der sich unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält – Bezug, sondern auf Art. 16. Abs. 2 Dublin-II-VO – Aufnahme wegen Erteilung eines Aufenthaltstitels -. Die Beantwortung der Info-Request durch Italien und das Fehlen von Aussagen dazu, ob und in welchem Umfang ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wurde, ist dabei auf die – im Hinblick auf die Prüfung eines Zweitantrags unzureichende – Fragestellung des Bundesamtes zurückzuführen („Please inform us soon as possible what did the alien get in Italy“). Die entsprechenden Informationen zur Beurteilung eines Zweitantrags könnten durch eine Ergänzung der Info-Request voraussichtlich ohne weiteres beschafft werden.
Eine Aufrechterhaltung bzw. Umdeutung des angefochtenen Bescheids im Hinblick auf eine frühere Zuständigkeit Italiens zur Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) bzw. Aufnahmebereitschaft eines sicheren Drittstaates (§ 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG) kommt wegen des Übergangs der Zuständigkeit auf Deutschland durch den Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 20 Abs. 2 Dublin-II-VO nicht in Betracht (vgl. zu § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG BVerwG, U.v. 14.12.2016 a.a.O. – juris Rn. 41, 42).
Nachdem sich die angefochtene Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig erweist, ist die aufschiebende Wirkung der Klage sowohl hinsichtlich der Abschiebungsandrohung als auch hinsichtlich der Verfahrenseinstellung ohne weitere Interessenabwägung anzuordnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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