Verwaltungsrecht

Keine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Genitalverstümmelung in Sierra Leone

Aktenzeichen  9 ZB 17.30027

Datum:
22.2.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 104008
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AslyG § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 78 Abs. 3 Nr. 1
VwGO § 138 Nr. 3
GG Art. 103 Abs. 1

 

Leitsatz

Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 4 K 16.30020 2016-12-01 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Anträge der Klägerinnen auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe werden abgelehnt.
II. Die Anträge auf Zulassung der Berufung werden abgelehnt.
III. Die Klägerinnen haben die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, weil ihre Anträge auf Zulassung der Berufung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg haben (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Die Anträge der Klägerinnen auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 1. Dezember 2016 sind unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 AsylG nicht vorliegen.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Klägerinnen beimessen (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG).
Die Frage, „ob allein die Tatsache, dass in dem Herkunftsland der Klägerinnen, Sierra Leone, in dem noch immer 90% der Frauen/Mädchen beschnitten werden, ausreicht, um die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Genitalverstümmelung und damit einer politischen Verfolgungsmaßnahme gem. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zu rechtfertigen“, hat mangels Klärungsbedürftigkeit ebenso wenig grundsätzliche Bedeutung, wie die Frage, „wie die Feststellung einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen hat“.
In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass der Wahrscheinlichkeitsmaßstab voraussetzt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 76 = juris Rn. 32 m.w.N.). Demnach sind nicht nur die für eine Verfolgung sprechenden Tatsachen und Umstände in die Würdigung einzustellen wie hier der hohe Anteil der von einer Genitalverstümmelung betroffenen Frauen in Sierra-Leone, sondern auch solche, die in tatsächlicher Hinsicht im konkreten Einzelfall gegen eine berechtigte Furcht vor einer an das Geschlecht anknüpfenden Verfolgung sprechen.
Hiervon geht auch das Verwaltungsgericht aus. Es stellt nicht infrage oder hält es für irrelevant, dass 90% aller Frauen in Sierra-Leone von Genitalverstümmelung betroffen sind, sondern verneint „trotz einer nach wie vor hohen Beschneidungsquote“ die Wahrscheinlichkeit einer drohenden Genitalverstümmelung der Klägerin zu 2 weil die Klägerin zu 1 nach ihrer Rückkehr nach Freetown zusammen mit ihrem dort lebenden Ehemann dafür sorgen kann, dass ihre Tochter nicht beschnitten wird.
2. Die geltend gemachte Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt nicht vor (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO).
Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395/409 = NJW 2003, 1924). Wie aus dem angefochtenen Urteil hervorgeht, hat sich das Verwaltungsgericht mit der Tatsache auseinander gesetzt, dass nach Auskunftslage nach wie vor 88% der Frauen in Sierra-Leone von Genitalverstümmelung betroffen sind (S. 7 d. UA) und deshalb nach wie vor von einer hohen Beschneidungsquote in Sierra-Leone auszugehen ist (S. 10 d. UA). Es hat aber das Vorbringen der Klägerin zu 1 zur behaupteten Vorverfolgung für unglaubhaft erachtet und ist zudem zu der Bewertung gelangt, dass der Klägerin zu 2 in Freetown und mit Hilfe ihrer Eltern keine Genitalverstümmelung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe. Das Verwaltungsgericht hat im Übrigen weder ausgeführt, dass Freetown frei von Genitalverstümmelung ist noch in Abrede gestellt, dass die Klägerin zu 1 dem Volk der Temne angehört; es hat vielmehr auf die Auskunftslage Bezug genommen, wonach es in Freetown traditionelle Bindungen und Zwänge der heimischen Ethnien nicht gibt. Mit der Kritik an der tatrichterlichen Sachverhalts- und Beweiswürdigung kann die Annahme eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör grundsätzlich nicht begründet werden (BVerfG, E.v. 19.7.1967 – 2 BvR 639/66 – BVerfGE 22, 267/273; BVerwG, B.v. 30.7.2014 – 5 B 25.14 – juris; B.v. 15.5.2014 – 9 B 14.14 – juris Rn. 8).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.

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