Aktenzeichen 10 ZB 16.1991
Leitsatz
Die Stellung als „faktischer Inländer“ verhindert die Ausweisung nicht von vornherein, sondern erfordert lediglich eine Abwägung der besonderen Umstände des Betroffenen und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 25 K 14.5400 2016-04-06 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,– Euro festgesetzt.
Gründe
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen Nr. 2 (Ausweisungsverfügung samt Befristungsentscheidung) und Nr. 4 (Anordnung der Abschiebung aus der Haft) des Bescheides der Beklagten vom 3. November 2014 weiter.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 6. April 2016 wird abgelehnt, weil der ausschließlich geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) nicht vorliegt.
Die geltend gemachten ernstlichen Zweifel bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/9 – Rn. 11). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Zur Begründung der Abweisung der Klage auf Aufhebung der Ausweisungsverfügung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass vom Kläger eine hinreichende Wiederholungsgefahr für die Begehung weiterer Straftaten im Bereich von Betäubungsmittel- und Eigentumsdelikten ausgehe. Er sei vielfach wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz und wegen Diebstahls- und Körperverletzungsdelikten in Erscheinung getreten. Er habe auch schon einen beträchtlichen Zeitraum, nämlich 26 Monate, in Haft verbracht. Es handle sich beim Kläger um einen notorischen Straftäter. Weder seine Persönlichkeit noch seine Lebensumstände seien seit der letzten Haftentlassung gefestigt. Er habe nach wie vor keine Ausbildung abgeschlossen, habe keinen festen Arbeitsplatz und lebe in einer Asylbewerberunterkunft. Trotz langjährigen Drogenkonsums habe er an keiner Drogentherapie teilgenommen. Der Umstand, dass der Kläger nach seinen eigenen Angaben bereits seit Mai 2014 kein Marihuana mehr konsumiert habe, stehe dem nicht entgegen. Der straffreie Zeitraum von Januar 2015 (Haftentlassung) bis zum 6. April 2016 (Zeitpunkt des Urteils) sei in Relation zur Dauer der strafrechtlichen Biographie des Klägers zu kurz, um daraus eine hinreichend belastbare positive Beurteilung des weiteren Verhaltens des Klägers in Freiheit gewinnen zu können. Im Rahmen der Gesamtabwägung überwiege das öffentliche Ausweisungsinteresse. Der Kläger sei offensichtlich nicht integriert. Er habe keine besonders schützenswerten persönlichen Beziehungen. Als volljähriger Mann sei er nicht auf die Unterstützung der Eltern und Geschwister angewiesen. Eine eigene Kleinfamilie habe er nicht gegründet. Auch sei ihm die Rückkehr in das Land seiner Staatsangehörigkeit zuzumuten.
Demgegenüber bringt der Kläger im Zulassungsverfahren vor, das Verwaltungsgericht habe vollkommen übersehen, dass er seit seiner Haftentlassung am 27. Januar 2015 keine Straftaten mehr begangen habe. Er habe nunmehr offensichtlich die richtigen Konsequenzen aus der Verbüßung seiner letzten Haftstrafe gezogen. Seit 8. August 2016 mache er eine Umschulung zum Kaufmann im Einzelhandel. Es treffe also nicht zu, dass nach der Haftentlassung weder seine Persönlichkeit noch seine Lebensumstände gefestigt seien. Er konsumiere seit Mai 2014 kein Marihuana mehr. Ansonsten hätte er die Umschulung bereits längst wieder abgebrochen. Das Verwaltungsgericht habe die Zeit der Straffreiheit zwar erkannt und in die Abwägung eingestellt, hierbei allerdings die Bedeutung des privaten Interesses zu gering gewichtet. Völlig unberücksichtigt bleibe in der Entscheidung, dass die Beklagte dem Kläger wegen seines langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet den Status eines faktischen Inländers zuerkannt habe.
Mit diesem Vorbringen zieht der Kläger jedoch die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, die Ausweisungsverfügung der Beklagten sei rechtmäßig, nicht ernsthaft in Zweifel. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der (weitere) Aufenthalt des Klägers die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet (§ 53 Abs. 1 AufenthG). Es hat dabei auf die zahlreichen strafrechtlichen Verurteilungen über einen Zeitraum von fast zwölf Jahren abgestellt und zudem berücksichtigt, dass auch die mehrfachen Aufenthalte des Klägers in der Justizvollzugsanstalt zu keiner Verhaltensänderung führten. Demgegenüber kommt der Tatsache, dass er seit seiner Haftentlassung keine Straftaten mehr begangen hat, keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Auch in der Vergangenheit ist es dem Kläger gelungen, über einen längeren Zeitraum keine Straftaten zu begehen (z.B. Juni 2006 bis Januar 2008). Danach nahm er aber sein ursprüngliches Verhaltensmuster wieder auf. Obwohl er sich in den Jahren 2008 und 2009 jeweils kurzfristig und im Jahr 2011 fast das ganze Jahr über in Haft befand, hat ihn die Verbüßung der Strafhaft nicht davon abgehalten, nach der Haftentlassung weiterhin strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Es ist daher nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass ihn die Verbüßung der Freiheitsstrafe von fünf Monaten aus dem Urteil des Landgerichts München I vom 3. Juli 2014 nunmehr zu einem Umdenken gebracht hat. Insoweit hat das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, dass der Zeitraum zwischen der Haftentlassung des Klägers im Januar 2015 und dem Urteil vom 6. April 2016 angesichts seiner über zehn Jahre andauernden notorischen Straffälligkeit zu kurz ist, um eine verlässliche Aussage über einen Einstellungswandel treffen zu können. Dass der Kläger bis zur Begründung des Zulassungsantrags ein weiteres halbes Jahr nicht straffällig geworden ist, führt zu keiner anderen Bewertung der Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Straftaten. Dies gilt insbesondere deshalb, weil sich die Lebensumstände des Klägers nach seiner Haftentlassung (noch) nicht entscheidend verändert haben. Nach wie vor fehlt es an einer beruflichen Integration des Klägers. Seine Beschäftigungsverhältnisse nach der Haftentlassung endeten jeweils nach Ablauf von wenigen Monaten. Laut seinem Vortrag im Zulassungsverfahren befindet er sich zwar seit dem 8. August 2016 in einer Umschulungsmaßnahme zum Einzelhandelskaufmann. Ein erfolgreicher Abschluss dieser Ausbildung lässt sich jedoch nicht prognostizieren, da der Kläger im Zeitpunkt der Begründung des Zulassungsantrags erst zwei Monate an dieser Umschulungsmaßnahme teilgenommen und er in der Vergangenheit bereits mehrmals eine begonnene Berufsausbildung (ein Berufsvorbereitungsjahr, eine Ausbildung zum Maler und eine Ausbildung zum Verkäufer) abgebrochen hat.
Entgegen dem Vorbringen im Zulassungsantrag hat das Verwaltungsgericht die Rechtsstellung des Klägers als „faktischer Inländer“ zutreffend gewürdigt. Diese Position führt nämlich nicht dazu, dass eine Ausweisung unzulässig wäre. Als „faktischer Inländer“ wird ein Ausländer bezeichnet, der sich lange im Bundesgebiet aufgehalten und seine wesentliche Prägung und Entwicklung hier erfahren hat (BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 21). Jedoch verhindert die Stellung als „faktischer Inländer“ die Ausweisung nicht von vornherein, sondern erfordert lediglich eine Abwägung der besonderen Umstände des Betroffenen und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall (vgl. EGMR, U.v. 13.10.2011 – Nr. 41548/06, Trabelsi – juris Rn. 53; BayVGH, B.v. 26.1.2015 – 10 ZB 13.808 – juris Rn. 37). Diese Abwägung hat das Verwaltungsgericht fehlerfrei vorgenommen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung geht das Gericht auf den über 20-jährigen Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet ein (S. 19 UA), stellt aber zugleich fest, dass er sich offensichtlich nicht integriert habe, keine besonders schützenswerten persönlichen Beziehungen im Bundesgebiet besitze und ihm eine Rückkehr in das Land seiner Staatsangehörigkeit zuzumuten sei. Zu Recht berücksichtigt das Verwaltungsgericht insoweit auch, dass es dem Kläger während seines langjährigen Aufenthalts nicht gelungen ist, einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu erlangen.
Auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Rechtmäßigkeit der Befristungsentscheidung und zur Abschiebungsanordnung geht der Kläger im Zulassungsverfahren nicht ein, so dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils insoweit schon nicht hinreichend dargelegt sind.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124 Abs. 5 Satz 4 VwGO).