Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen drohender Verfolgung aus Nachfluchtgründen

Aktenzeichen  M 13 K 16.32086

Datum:
27.1.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 163027
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 3a Abs. 1, § 3b § 3c, § 26, § 28 Abs. 1a
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1

 

Leitsatz

In einer Ausreise aus Syrien, durch die ein Asylantragsteller sich der Einziehung zum Reservistendienst entzogen hat und aufgrund dessen ein erhöhtes Risiko besteht, im Rahmen der allgemeinen Rückkehrerbefragung wegen unterstellten illoyalen Verhaltens und regimefeindlicher Gesinnung der Inhaftierung und Folter bis hin zum „Verschwindenlassen“ ausgesetzt zu sein, liegt ein gefahrerhöhendes Merkmal, das zu einem Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führt. (Rn. 21 – 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger zu 1 die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Nummer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. Juli 2016 wird, soweit sie dem entgegensteht, aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin zu 2 trägt die Kosten ihres Verfahrens, im Übrigen trägt die Beklagte die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1. Die Klage des Klägers zu 1 ist zulässig und begründet. Soweit der streitgegenständliche Bescheid in Nummer 2 die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ablehnt, ist er rechtswidrig und verletzt den Kläger zu 1 in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Der Kläger zu 1 hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG).
a) Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich
1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2. außerhalb des Landes befindet,
a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird gemäß § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, sofern keine Ausschlussgründe vorliegen.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die
1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention keine Abweichung zulässig ist, oder
2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.
Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG ausgehen von
1.dem Staat,
2.Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
3.nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
Zwischen den Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen.
Die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG kann nach § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung und Ausrichtung ist.
b) Unabhängig von einer etwaigen Vorverfolgung ist der Kläger zu 1 bei einer Rückkehr in seine Heimat jedenfalls aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG bedroht. Der Kläger hat ungeachtet seiner tatsächlichen politischen Gesinnung im Falle einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungsmaßnahmen seitens des staatlichen Regimes in Anknüpfung an seine vermutete politische Gesinnung zu rechnen. Dabei kommt für den Kläger zu 1 zu seiner (illegalen) Ausreise aus Syrien mit Asylantragstellung und längerfristigem Aufenthalt in Deutschland, die für sich genommen eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der politischen Verfolgung nicht zu begründen vermag (aa), gefahrerhöhend hinzu, dass er sich der Einziehung zum Reservistendienst entzogen hat und aufgrund dessen ein erhöhtes Risiko besteht, wegen unterstellten illoyalen Verhaltens und regimefeindlicher Gesinnung der Inhaftierung und Folter bis hin zum „Verschwindenlassen“ ausgesetzt zu sein (bb).
aa) Syrischen Staatsangehörigen droht bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien über den Flughafen Damaskus nicht schon allein deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung, weil sie Syrien (illegal) verlassen, einen Asylantrag gestellt und sich längerfristig in Deutschland aufgehalten haben (so auch BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 ZB 16.30338, 21 ZB 16.30364, 21 ZB 16.30371, 21 ZB 16.30372 – noch nicht veröffentlicht; OVG NW, B.v. 6.10.2016 – 14 A 1852/16.A – juris; OVG SH, U.v. 23.11.2016 – 3 LB-17/16 – juris; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 – 1 A 10922/16 – juris; anders OVG LSA, U.v. 18.7.2012 – 3 L 147/12 – juris).
Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. September 2010 führt zur Behandlung von Rückkehrern aus, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise in der Regel zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt befragt würden. Eine vorherige Asylantragstellung oder der längerfristige Auslandsaufenthalt seien für sich allein aber kein Grund für eine Verhaftung oder Repressalien. Auch nach der Auskunft der Botschaft Beirut an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 3. Februar 2016 liegen keine Erkenntnisse dazu vor, dass Rückkehrer nach Syrien ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Übergriffe oder Sanktionen zu erleiden hätten.
bb) In der Person des Klägers zu 1 kommt jedoch gefahrerhöhend hinzu, dass er sich durch seine Ausreise aus Syrien der Einziehung zum Reservistendienst entzogen hat und aufgrund dessen ein erhöhtes Risiko besteht, im Rahmen der allgemeinen Rückkehrerbefragung wegen unterstellten illoyalen Verhaltens und regimefeindlicher Gesinnung der Inhaftierung und Folter bis hin zum „Verschwindenlassen“ ausgesetzt zu sein.
(1) Nach der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe müssen sich syrische Männer im Alter von 18 Jahren für den Militärdienst registrieren und sind bis zum Alter von 42 Jahren wehrpflichtig. Präsident Assad ist dringend auf den Einsatz der Reservisten angewiesen. Im März 2012 verbot die syrische Regierung deshalb allen Männern zwischen 18 und 42 Jahren, das Land ohne Bewilligung zu verlassen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30.7.2014).
Wehrdienstverweigerung und Kriegsdienstverweigerung stellen nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27. September 2010 Straftatbestände dar, die mit Gefängnis bzw. Internierung bestraft werden.
Allein die nach den Gesetzen des Heimatlandes vorgesehene Bestrafung wegen der Entziehung vom Wehr- bzw. Reservistendienst begründet keine Asylerheblichkeit. Allerdings kann der Wehrpflicht auch eine Verfolgungstendenz innewohnen. Das ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Fall, wenn zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern in den eigenen Reihen, eine Umerziehung von Andersdenkenden oder eine Zwangsassimilation von Minderheiten bezweckt wäre. Anhaltspunkte für derartige Intentionen können sich aus der besonderen Ausformung der die Wehrpflicht begründenden Regelungen, aus ihrer praktischen Handhabung, aber auch aus ihrer Funktion im allgemeinen politischen System der Organisation ergeben. Der totalitäre Charakter einer Organisation oder einer Staatsform, die Radikalität ihrer Ziele, der Rang, den sie dem Einzelnen und seinen Belangen einräumt sowie das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung sind wichtige Gradmesser für Verfolgungstendenzen in Regelungen, denen eine gezielte Diskriminierung nicht ohne weiteres anzusehen ist. Deutlich werden kann der politische Charakter von Wehrdienstregelungen etwa daran, dass Verweigerer oder Deserteure als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen übermäßig hart bestraft, zu besonders gefährlichen Einsätzen kommandiert oder allgemein geächtet werden. Ein Ausländer, den ein solches Schicksal erwartet, ist politisch Verfolgter (BVerwG, U.v. 31.3.1981 – 9 C 6/80 – BVerwGE 62, 123, 125).
Nach den vorliegenden Erkenntnissen geht das erkennende Gericht davon aus, dass das syrische Regime die Entziehung vom Wehr- oder Reservistendienst als illoyales Verhalten ansieht und demjenigen, der sich dem Wehr- oder Reservistendienst entzogen hat, aufgrund der unterstellten regimefeindlichen Gesinnung über den normalen Strafrahmen hinausgehende Strafmaßnahmen bis hin zur Folter und zum „Verschwindenlassen“ drohen.
So stehen nach der Auskunft der Botschaft Beirut an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 3. Februar 2016 die Fälle, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden sind, überwiegend in Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten, aber auch in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst.
Nach der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts hat es eine harte Bestrafung bis hin zur Todesstrafe, aber oft auch Folter zur Folge, wenn die Ausreise unter anderem dem Zweck diente, sich dem Wehrdienst zu entziehen (Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an das OVG Schleswig-Holstein vom 8. November 2016).
Der Danish Immigration Service hat eine Studie zum Militärdienst in Syrien veröffentlicht, die vom Auswärtigen Amt laut der Auskunft der Botschaft Beirut an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 3. Februar 2016 als verlässlich eingeschätzt wird. Danach können bei Wehrdienstentziehung Ermittlungen, Entsendung zur Front, Inhaftierung und Haftstrafe aber auch Folter drohen. Im Falle des Verdachts der Verbindung zu oppositionellen Gruppen drohen Misshandlung und Folter (Danish Refugee Council, Syria – Update on Military Service, Mandatory Self-Defence Duty and Recruitment to the YPG, September 2015).
Laut Amnesty International betrachtet das syrische Regime sowohl Fahnenflüchtige als auch diejenigen, bei denen lediglich die Absicht der Desertion vermutet wird, als Gegner des Regimes. Diese sind – ebenso wie andere tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner – der Gefahr des „Verschwindenlassens“ ausgesetzt (Amnesty International, Between prison and the grave – Enforced disappearances in Syria, November 2015).
Auch nach den Erwägungen des UNHCR zählen Wehrdienstverweigerer zu den Personen, die aufgrund ihrer vermeintlichen Opposition zur Regierung ein Risikoprofil erfüllen (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, November 2015).
(2) Der Kläger zu 1 hat nach seinen Angaben in den Jahren 1998 bis 2000 seinen Militärdienst abgeleistet. Er unterlag jedoch aufgrund seines Alters im Zeitpunkt seiner Flucht aus Syrien der Wehrüberwachung, so dass er mit der Heranziehung zum Reservedienst durch die syrische Armee rechnen musste. Nach seiner Aussage seien Vertreter des syrischen Regimes bereits des Öfteren bei ihm zuhause gewesen, um ihn zur syrischen Armee mitzunehmen. Auch habe er bereits eine schriftliche Benachrichtigung über seine Einziehung zum Reservistendienst erhalten. Aufgrund seiner Flucht und der damit verbundenen Entziehung vom Reservistendienst in der syrischen Armee muss der Kläger zu 1, der im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung 38 Jahre alt ist, nach der Auskunftslage in besonderer Weise damit rechnen, im Zusammenhang mit einer Rückkehr nach Syrien vom syrischen Staat aufgrund seiner vermuteten politischen Gesinnung verfolgt zu werden.
c) Die vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigen auch die Bejahung einer begründeten Furcht vor Verfolgung. Im Falle fehlender Vorverfolgung liegt eine begründete Furcht vor Verfolgung nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris) vor, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger, nämlich objektiver Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, in den Heimatstaat zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint.
Dem Umstand, dass der syrische Präsident Amnestien auch für Deserteure erlassen hat, steht der Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung nicht entgegen. Die Amnestien wurden nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe jeweils bezogen auf einen Stichtag gewährt – zuletzt zum 19. Juni 2014, von dem der Kläger zu 1 nicht erfasst ist – und werden zudem nur partiell und willkürlich umgesetzt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Umsetzung der Amnestien, 14. April 2015). Dem Kläger ist es daher mit der bloßen theoretischen Möglichkeit des künftigen Erlasses weiterer, ggf. auch ihn erfassender Amnestien nicht zuzumuten, in seinen Heimatstaat zurückzukehren.
d) Ausschlussgründe nach § 3 Abs. 2 und Abs. 3 AsylG bzw. § 60 Abs. 8 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) sind nicht ersichtlich. Eine zumutbare inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG besteht angesichts der Gefahr, im Falle einer Rückkehr bereits an der Grenze zum Zwecke einer Rückkehrerbefragung verhaftet und von menschenrechtswidriger Behandlung bedroht zu sein, nicht, da eine geordnete Rückkehr aus Deutschland stets über den vom syrischen Regime kontrollierten Flughafen in Damaskus unter vorheriger Ankündigung bei den syrischen Behörden erfolgen würde.
2. Die Klage der Klägerin zu 2 ist zulässig, aber nicht begründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist hinsichtlich der Klägerin zu 2 rechtmäßig und verletzt diese nicht in ihren Rechten. In dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts steht der Klägerin zu 2 kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.
a) Der Klägerin zu 2 droht bei einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung.
aa) Die Klägerin zu 2 ist nach der Überzeugung des erkennenden Gerichts nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss das Gericht auch in Asylstreitigkeiten die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 32). Demgemäß setzt die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG voraus, dass der Asylsuchende den Sachverhalt, der seine Verfolgungsfurcht begründen soll, schlüssig darlegt. Dabei obliegt es ihm, unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Asylbegehren lückenlos zu tragen (BVerwG, U.v. 8.5.1984 – 9 C 141.83 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 147). Auch wenn es dem Asylbewerber grundsätzlich unbenommen bleibt, sein Verfolgungsschicksal in dem sich anschließenden Gerichtsverfahren zu ergänzen und zu konkretisieren, muss das Kerngeschehen grundsätzlich bereits bei der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in sich stimmig und widerspruchsfrei geschildert werden. Gibt der Asylbewerber im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eine gegenüber seinen Angaben vor den Verwaltungsbehörden völlig neue Schilderung seines fluchtauslösenden individuellen Schicksals in seinem Heimatland, so wird dies regelmäßig Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit seines Vorbringens sein (BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27.85 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 41).
Indem die Klägerin zu 2 erstmals in der im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 24. Januar 2017 erfolgten informatorischen Befragung angegeben hat, durch Vertreter des syrischen Regimes bedroht worden zu sein, hat sie ihr Vorbringen gegenüber ihrem Vortrag vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erheblich verändert und deutlich gesteigert. So hat sie im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgetragen, Vertreter des syrischen Regimes seien zu ihr nach Hause gekommen und hätten gedroht, sie festzunehmen, wenn sich ihr Mann – der Kläger zu 1 – nicht den Behörden stelle und den Reservistendienst antrete. Hingegen hat sie im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Frage, ob ihr persönlich etwas zugestoßen sei, ausdrücklich verneint und ausgeführt, sie habe Angst aufgrund des Krieges, es gebe keine Sicherheit mehr, man könne die Kinder nicht einmal mehr in die Schule schicken und die Lebensumstände seien schwierig. Vor dem Hintergrund, dass die Klägerin zu 2 ihre Bedrohung durch Vertreter des syrischen Regimes erstmals im Rahmen der mündlichen Verhandlung und nicht schon bei der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgebracht hat, obwohl diese Bedrohung aus ihrer Sicht für die Begründung der Flüchtlingseigenschaft maßgeblich ist, erscheint dieses Vorbringen aus Sicht des erkennenden Gerichts nicht glaubhaft.
bb) Auch ist die Klägerin zu 2 bei einer Rückkehr in ihre Heimat nicht aus beachtlichen Nachfluchtgründen von Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG bedroht. Allein der Umstand der (illegalen) Ausreise aus Syrien mit Asylantragstellung und längerfristigem Aufenthalt in Deutschland vermag für sich genommen eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der politischen Verfolgung nicht zu begründen, vgl. oben unter 1. b) aa). Gefahrerhöhende Umstände in der Person der Klägerin zu 2 sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
b) Auch hat die Klägerin zu 2 derzeit keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als Familienangehörige nach § 26 Abs. 5 i.V. m. Abs. 1 AsylG. Danach erhält der Ehegatte eines Flüchtlings die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar ist, die Ehe schon im Herkunftsstaat bestanden hat, der Ehegatte vor der Flüchtlingszuerkennung eingereist ist und die Flüchtlingszuerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. Die im vorliegenden Urteil ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger zu 1 als Ehemann der Klägerin zu 2 die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ist in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts noch nicht unanfechtbar. Die Klägerin zu 2 kann aber einen auf § 26 Abs. 5 i.V. m. Abs. 1 AsylG gestützten Folgeantrag stellen, sobald die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ihres Ehemannes – des Klägers zu 1 – unanfechtbar geworden ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gemäß § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V. m. §§ 708 ff ZPO.

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