Verwaltungsrecht

Kein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Afghanistan mangels konkreter individueller Gefahr

Aktenzeichen  M 24 K 16.31815

Datum:
17.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
VwGO VwGO § 113 Abs. 5
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Für die Annahme einer „konkreten Gefahr“ im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG genügt die bloß theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu werden, nicht. Vielmehr ist der Begriff der „Gefahr“ im Ansatz kein anderer als der im asylrechtlichen Prognosemaßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ angelegte, wobei allerdings das Element der „Konkretheit“ der Gefahr für „diesen“ Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer Einzelfall bezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert (vgl. VGH München BeckRS 2013, 46857). (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG können auch dann erfüllt sein, wenn sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort faktisch unzureichend sind. Die befürchtete Verschlimmerung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen als Folge fehlender Behandlungsmöglichkeiten im Zielland der Abschiebung muss zu einer erheblichen Gesundheitsgefahr führen, also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität erwarten lassen; das wäre der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde (BVerwG BeckRS 2006, 23891). (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 5 AufenthG können auch dann nicht als Abschiebungsverbot unmittelbar nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG berücksichtigt werden, wenn sie durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt werden, aber nur typische Auswirkungen der allgemeinen Gefahrenlage sind (BVerwG BeckRS 1998, 30037707). Auch hier greift grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 5 AufenthG, wonach es den Innenministern des Bundes und der Länder überlassen bleiben soll, durch humanitäre Abschiebestopp-Erlasse nach § 60a AufenthG oder durch andere Maßnahmen auch solche Ausländer wirksam zu schützen, denen bei einer Abschiebung Allgemeingefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG im Heimatland drohen. (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Nach der derzeitigen Erlasslage sind vorrangig männliche, alleinstehende, volljährige afghanische Staatsangehörige nach Afghanistan zurückzuführen. Demgegenüber sind andere Personengruppen zurückzustellen. (red. LS Clemens Kurzidem)
5 Es ist davon auszugehen, dass derzeit ein aus dem europäischen Ausland zurückkehrender alleinstehender, arbeitsfähiger, gesunder Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall der zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten in seiner Heimatregion oder in Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Im Hinblick auf solche afghanische Staatsangehörige ist nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG führen würde (vgl. VGH München BeckRS 2017, 100326). (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I.
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO. Die Klage in ihrem verbliebenen Umfang ist zulässig, jedoch nicht begründet.
1. Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Regierung von Oberbayern ist gemäß § 63 Nr. 4 VwGO als Vertreter des öffentlichen Interesses (VöI) Verfahrensbeteiligter aufgrund der generellen Beteiligungserklärungen vom … Mai 2015 und vom … Mai 2015 (vgl. zur Zulässigkeit sog. Generalbeteiligungserklärungen BVerwG, U. v. 27.6.1995 – 9 C 7 /95 – BVerwGE 99, 38 – juris Rn. 11). Hierin wurde die Beteiligung auf die Übersendung der jeweiligen End- bzw. Letztentscheidung beschränkt, so dass damit unter anderem auch auf Ladung zur mündlichen Verhandlung verzichtet wurde.
Das Verwaltungsgericht … ist örtlich zuständig nach § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO. Aufgrund des Kammerbeschlusses zur Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter ist der Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung berufen (§ 76 Abs. 1 AsylG).
Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG ist für das Urteil die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgebend. Rechtsgrundlagen der vorliegenden Entscheidung sind mithin das AsylG und das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in ihren zuletzt durch das Integrationsgesetz (Art. 5, 6, 8) vom …Juli 2016 (BGBl. I, S. 1939) seit … August 2016 geltenden Fassungen.
2. Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben (§ 74 AsylG, § 4 VwZG).
3. Die Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten keinen Anspruch auf Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG und nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der Abschiebung des Klägers stehen keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegen.
Bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK und dem nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U. v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BverwGE 140, 319 Rn. 16f.).
3.1. Für das Vorliegen eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG ist nichts vorgetragen und auch nichts ersichtlich (vgl. zur Reichweite der Schutznorm des § 60 Abs. 5 AufenthG BayVGH, B. v.30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 und die darin zit. obergerichtliche Rspr.).
3.2. Auf der Grundlage der gesetzlichen Anforderungen droht dem Kläger nach Überzeugung des Gerichts bei Rückkehr nach Afghanistan keine konkrete individuelle Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Für das Vorliegen individueller Gefahren in diesem Sinne bestehen im Fall des Klägers keine hinreichenden Anhaltspunkte.
Der Kläger hat im konkreten Einzelfall auch nicht ausnahmsweise einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter entsprechender Aufhebung der Regelung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind individuelle Gefahren, also solche Gefahren, die nur dem Ausländer drohen. Die Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solche ergeben, nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können (st. Rsp., vgl. BVerwG, B. v. 24.5.2006 – 1 B 118/05; BVerwG, U. v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – juris; BVerwG, B. v. 17.8.2011 – 10 B 13/11 – BeckRS; BayVGH, U. v. 23.11.2012 – 13a B 12.30061 – BeckRS).
Für die Annahme einer „konkreten Gefahr“ genügt nicht die bloße theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu werden. Vielmehr ist der Begriff der „Gefahr“ im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Ansatz kein anderer als der im asylrechtlichen Prognosemaßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ angelegte, wobei allerdings das Element der „Konkretheit“ der Gefahr für „diesen“ Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer Einzelfall bezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert (vgl. BayVGH, U. v. 23.11.2012 – 13a B 12.30061 unter Bezugnahme auf BVerwG, U. v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 zu § 53 Abs. 6 AuslG 1990 – jeweils juris).
3.2.1. Dem Kläger droht in Anbetracht der von ihm vorgetragenen Erkrankung bei Rückkehr in die Heimat keine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr, d. h. eine Leib- und Lebensgefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1, 2 AufenthG.
3.2.1.1. Für das Vorliegen individueller Gefahren in diesem Sinne aus gesundheitlichen Gründen ist auf die Maßgabe des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG abzustellen, wonach eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vorliegt bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden.
3.2.1.2. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG können auch in der Form erfüllt sein, wenn sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort faktisch unzureichend sind. Die befürchtete Verschlimmerung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen als Folge fehlender Behandlungsmöglichkeiten im Zielland der Abschiebung muss zu einer erheblichen Gesundheitsgefahr führen, also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität erwarten lassen; das wäre der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde (BVerwG, B. v. 24.5.2006 – 1 B 118/05 – juris Rn. 4). Bei einer Krankheit denkbar ist auch das Hinzutreten von Infektionen, die aufgrund zielstaatsbezogener Umstände dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, U. v. 14.10.2006 – 1 C 18/05). In die Beurteilung miteinzubeziehen und bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können.
Zu berücksichtigen ist, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der in der Bundesrepublik nicht gleichwertig sein muss; sie muss ausreichend sein. Sie ist auch dann in der Regel als ausreichend anzusehen, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3, 4 AufenthG).
Ein zielstaatsbezogenes individuelles Abschiebungshindernis kann sich bei einer Erkrankung demnach ergeben, wenn die medizinische Versorgung im Zielstaat in qualitativer Hinsicht nicht als ausreichend für die Behandlung der Erkrankung anzusehen ist. Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. Sind die Voraussetzungen einer ausreichenden medizinischen Versorgung im Zielstaat in qualitativer Hinsicht sowie auch unter der Vorgabe der individuellen finanziellen oder sonstigen Erreichbarkeit nur für einen Teil des Zielstaats gewährleistet, muss für die Annahme eines Abschiebungshindernisses eine atypische Fallgestaltung vorliegen.
3.2.1.3. Dem Kläger droht nach Überzeugung des Gerichts wegen der von ihm vorgetragenen Erkrankung bei Rückkehr in den Zielstaat Afghanistan keine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr dergestalt, dass sich sein Gesundheitszustand im Fall der Abschiebung wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Das Gericht stützt seine Überzeugungsbildung auf die klägerseits vorgelegten Unterlagen. Die Anforderungen an die Substantiierung sind durch die fachlichen Ausführungen in den vorgelegten Unterlagen nicht erfüllt (vgl. BVerwG, U. v. 11.9.2007 – 10 C8.07 – juris; fortgeführt in BVerwG, B. v. 26.7.2012 – 10 B 21/12 – juris Rn. 7; vgl. zur fehlenden richterlichen Sachkunde für medizinische Fachfragen BVerwG, B. v. 24.5.2006 – 1 B 118.05 – juris Rn. 3; zur Fachkunde: bei PTBS vgl. BVerwG, U. v. 11.9.2007 – 10 C8.07 – juris; fortgeführt in BVerwG, B. v. 26.7.2012 – 10 B 21/12 – juris Rn. 7; vgl. auch bzgl. begutachtendem (Psycho)Therapeut OVG Münster, B. v. 20.9.2006 – 13A 1740/05.A; BayVGH, B. v. 28.7.2015 – 13a ZB 15.30073 – juris Rn. 8 unter Verweis auf OVG NRW, B. v.19.12.2008 – 8A 3053/08.A ; vgl. zu PTBS und Depression, psychologischen Psychotherapeuten BayVGH, B. v. 30.3.2016 – 13a ZB 15.30248 – juris Rn. 2, 4, 5, 6; BayVGH, B. v. 26.8.2014 – 13a ZB 14.30219).
Weder aus dem Bericht über die ambulante Behandlung vom … September 2016 des medizinischen Notfallzentrums des Klinikums … noch aus dem Arztbrief des Neurozentrums … vom … Oktober 2016 des Unterzeichners … (ohne einschlägige Facharztangabe) über die Erkrankung, die diagnostiziert wurde, ergibt sich, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers im Fall der Abschiebung wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde.
3.2.2. Soweit sich der Kläger auf die allgemeine Gefahrenlage in Afghanistan beruft, handelt es sich hierbei um eine Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG. Nach dieser Vorschrift sind Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt sind, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder aus humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längstens sechs Monate ausgesetzt wird. Allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG können auch dann nicht als Abschiebungsverbot unmittelbar nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden, wenn sie durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Ausländers begründet oder verstärkt werden, aber nur typische Auswirkungen der allgemeinen Gefahrenlage sind (BVerwG, U. v. 8.12.1998 – 9 C 4/98 – BVerwGE 108, 77). Auch hier greift grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wonach es den Innenministern des Bundes und der Länder überlassen bleiben soll, durch humanitäre Abschiebestopp-Erlasse nach § 60a AufenthG oder durch andere Maßnahmen auch solche Ausländer wirksam zu schützen, denen bei einer Abschiebung Allgemeingefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Heimatland drohen. Die Verwaltungsgerichte haben diese Aufgaben- und Verantwortungszuweisung des parlamentarischen Gesetzgebers zu respektieren (BVerwG, U. v. 12.7.2001 – 1 C 2/01 – BVerwGE 114, 379).
Eine Abschiebestopp-Anordnung besteht für die Personengruppe, der der Kläger angehört, nicht. Nach dem Erlass des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 3. August 2005 (Az. IA2-2086.14-12/Ri), der dementsprechende Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder umsetzt, sind „vorrangig zurückzuführen … nunmehr auch alleinstehende männliche afghanische Staatsangehörige, die volljährig sind“. Bestätigt wird die derzeitige Erlasslage durch das IMS vom 15. November 2011 (Az. IA2-2086.14-12/Ri) dem zu Folge nach wie vor „alleinstehende volljährige männliche afghanische Staatsangehörige“ vorrangig zurückzuführen sind. Die Rückführung anderer Personen ist wie bislang zurückzustellen (vgl. hierzu auch Verwaltungsvorschriften des Bayerischen Staatsministeriums des Innern zum Ausländerrecht – BayVVAuslR – vom 10.8.2012 i.d. F. vom 3.3.2014 – IMS IA2-2081.13-15 – unter C 3.2). Nach der derzeitigen Erlasslage sollen afghanische Staatsangehörige nur dann ein Bleiberecht erhalten, wenn sie u. a. vor dem 24. Juni 1999 eingereist sind.
Da dies auf den Kläger nicht zutrifft, gehört er zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung volljährige Kläger somit zur Gruppe der vorrangig zurückzuführenden Personen. Einen anderweitigen Schutz vor Abschiebung hat der Kläger ebenfalls nicht.
3.2.3. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Dies ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. u. a. B. v. 8.4.2002 – 1 B 71/02 – Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 59). Nur dann gebieten die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG – als Ausdruck eines menschenrechtlichen Mindeststandards -, jedem betroffenen Ausländer trotz Fehlens einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 5, § 60a Abs. 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Diese Grundsätze über die Sperrwirkung bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungskonforme Anwendung in den Fällen, in denen dem Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extrem zugespitzte Gefahr droht, sind auch für die neue Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich (BVerwG, B. v. 23.8.2006 – 1 B 60/06 u. a. – Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 19).
Wann allgemeine Gefahren von Verfassung wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint (vgl. BayVGH, U. v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 16). Auch müssen sich die Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Fall der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U. v. 29.6.2010 – 10 C 10/09 – NVwZ 2011, 48).
3.2.4. Die allgemeine Gefahr in Afghanistan hat sich im vorliegenden Einzelfall für den Kläger nicht ausnahmsweise derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung hierfür geforderten Voraussetzungen sind in Bezug auf den Kläger nicht erfüllt. Im vorliegenden Einzelfall geht das Gericht nicht davon aus, dass der Kläger den hohen Anforderungen, denen er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan ausgesetzt wäre, nicht gewachsen ist und er deshalb alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen lässt. Hierbei ist die Erkenntnislage nach den Erkenntnismitteln, die Gegenstand des Verfahrens sind, insbesondere die nachgängig geschilderte jüngste Entwicklung der afghanischen Wirtschaftslage, die durch die deutliche Verschlechterung der Sicherheitslage nachteilig beeinflusst wird, zu berücksichtigen.
3.2.4.1. Nach sämtlichen Auskünften und Erkenntnismitteln ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht. So weist der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19. Oktober 2016 (Stand September 2016) – im weiteren Lagebericht- darauf hin, Afghanistan belege laut dem Human Development Index von UNDP unter 187 ausgewerteten Ländern den 171. Rang und damit weiterhin einen sehr niedrigen Rang im Index (vgl. etwa zum Stand von 2015: 169. Rang; 2014: 175. Rang; 2011:172. Rang). 36% der Bevölkerung lebe unterhalb der Armutsgrenze. Das rapide Bevölkerungswachstum stelle eine weitere besondere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Aktuell wachse die Bevölkerung mit rund 2,4% pro Jahr, was in etwa einer Verdopplung innerhalb einer Generation gleichkomme. Die Möglichkeiten des afghanischen Staats, die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen, etwa im Bildungsbereich, zur Verfügung zu stellen, gerieten dadurch zusätzlich unter Druck. Die afghanische Wirtschaftsleistung stagniert aufgrund der schwierigen Sicherheitslage und der sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage. Staatliche soziale Sicherungssysteme existierten praktisch nicht. Die soziale Absicherung liegt traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe verweist in ihrem Update vom 30. September 2016 darauf, dass in Afghanistan, einem der ärmsten Länder der Welt, rund 36% der Bevölkerung (kaum verändert seit 2008) unter der Armutsgrenze leben würde. Aufgrund der andauernden Gewalt, der politischen Instabilität sowie der extremen Armut und der zahlreichen Naturkatastrophen befinde sich das Land in einer humanitären Notlage. Die Zahl der arbeitslosen Afghanen sei sehr hoch und steige rasant weiter (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, September 2016, unter 6. Zur sozioökonimischen und medizinischen Lage und 7. Rückkehr).
Im aktuellen Lagebericht wird ausgeführt, die afghanische Wirtschaft ringe in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 nicht nur mit einer schwierigen Sicherheitslage, sondern auch mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um 90% (vgl. Lagebericht 21ff.). Die afghanische Wirtschaft erlebe derzeit einen heftigen Konjunkturabschwung (Wirtschaftswachstum 1,5%; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, Die aktuelle Sicherheitslage, September 2016 unter 2., 6., 7.). Die schwache Rechtsstaatlichkeit, die weitverbreitete Korruption, das vorherrschende Klima der Straffreiheit sowie die Unfähigkeit der afghanischen Regierung, Dienstleistungen zu erbringen, tragen wesentlich zur Frustration der Bevölkerung bei. Die Taliban nutzen diese Desillusion. Der Abzug der internationalen Truppen führte zu einem Rückgang der Investitionen, Kapitalzurückhaltung und einem Kapitalabfluss ins Ausland. Tausende Arbeitsstellen gingen verloren. Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist eine zentrale Herausforderung des Landes (vgl. Lagebericht 21ff.). Die Sicherheitslage des Landes bleibe weiterhin volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. In 2015 und im 1. Halbjahr 2016 hat Afghanistan seit dem 14 Jahre dauernden Krieg die schlimmsten Wellen der Gewalt erlebt. Die Taliban fordern die afghanischen Sicherheitskräfte inzwischen in nahezu allen Provinzen heraus und operieren in großen Verbänden von mehreren hundert Kämpfern. Die Insurgenz sei in der Lage ist, hochwertige zivile und militärische Ziele anzugreifen (vgl. ausführlich zur deutlich verschlechterten Sicherheitslage, Wirtschaftslage: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, Die aktuelle Sicherheitslage, September 2016). Diese Verschlechterung beeinflusst die sozioökonomische Entwicklung des Landes nachteilig.
3.2.4.2. In Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs geht das Gericht grundsätzlich davon aus, dass derzeit ein aus dem europäischen Ausland zurückkehrender alleinstehender, arbeitsfähiger, gesunder Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall der zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten in seiner Heimatregion oder in Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Im Hinblick auf solche afghanische Staatsangehörige ist nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (vgl. BayVGH, zuletzt B. v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600; B. v. 13.6.2016 – 13a ZB 16.30062 – juris Rn. 7 mit Verweis auf U. v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 16).
3.2.4.3. Ein afghanischer Rückkehrer, der nicht von einem aufnahmebereiten und aufnahmefähigen Familienverband in Afghanistan sozial aufgefangen wird, ist in Ermangelung anderer – insbesondere staatlicher – sozialer Netze darauf angewiesen, sein Existenzminimum durch eigene Erwerbstätigkeit auf sich allein gestellt zu sichern.
Im Hinblick auf eine mögliche Eigenexistenzsicherung hat der Kläger die hierfür erforderliche Leistungsfähigkeit eines gesunden jungen Mannes. Die Chancen des Klägers im Verdrängungskampf um die knappen Arbeitsmarktressourcen sind zum gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt als nicht aussichtslos im Vergleich bei der derzeitigen afghanischen Konkurrenzsituation einzuschätzen.
Nach alledem ist vorliegend davon auszugehen, dass der Kläger in dem nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Beurteilung der Sach- und Rechtslage im Falle einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland in der Lage wäre, durch Gelegenheitsjobs in der Herkunftsregion Provinz Kabul bzw. Kabul City, wohin eine Abschiebung erfolgen würde (vgl. zum Abschiebeweg Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 26), wenigstens ein kümmerliches Einkommen zu erzielen, damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren. Ungeachtet dessen, kann er auf das soziale Netz seiner Familie bzw. Großfamilie in Afghanistan zurückgreifen.
4. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

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