Aktenzeichen M 11 K 15.2361
Leitsatz
1 Das Fällen von Bäumen, die in einem Bebauungsplan als zu erhalten festgesetzt sind, bedarf einer Befreiung entsprechend § 31 Abs. 2 BauGB, auch wenn es sich um kein Vorhaben im Sinne von § 29 Abs. 1 BauGB handelt (Rn. 16 und 17) (redaktioneller Leitsatz)
2 Nach Art. 63 Abs. 3 S. 1 BayBO ist die Gemeinde und nicht die Bauaufsichtsbehörde für die Entscheidung über die Befreiungen von ortsrechtlichen Regelungen zutändig, auch wenn von vornherein keine Genehmigungspflicht nach Art. 55 Abs. 1 BayBO besteht, weil das Vorhaben – das Fällen von Bäumen – schon nicht als „Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung von Anlagen“ im Sinne des Art. 55 Abs. 1 BayBO zu qualifizieren ist. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Bescheid des Landratsamts … vom 4. Mai 2015 wird aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Berufung wird zugelassen.
Gründe
Die Klage ist nur zum Teil begründet.
1. Die Kläger haben gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Befreiung, weil für diese Entscheidung nicht das Landratsamt als untere Bauaufsichtsbehörde zuständig ist, sondern die beigeladene Gemeinde.
a) Die Kammer geht in Übereinstimmung mit den Beteiligten davon aus, dass für das Fällen von Bäumen, die in einem Bebauungsplan nach § 9 Abs. 1 Nr. 25 Buchstabe b) BauGB als zu erhalten festgesetzt sind, eine Befreiung nach – oder wenigstens entsprechend – § 31 Abs. 2 BauGB in Betracht kommt, sofern die Grundzüge der Planung nicht berührt sind, und auch erforderlich ist, sofern die entsprechende Festsetzung nicht unwirksam (geworden) ist.
Zwar spricht der Wortlaut des § 29 Abs. 1 BauGB zunächst dafür, dass § 31 BauGB nur bei einem Vorhaben im Sinne des § 29 Abs. 1 BauGB einschlägig ist, was hier gerade nicht zutrifft, weil die Beseitigung von Bäumen kein Vorhaben im Sinne von § 29 Abs. 1 BauGB ist. Andererseits kann man aber nicht annehmen, dass sonstige Vorhaben, die der Gesetzgeber wegen ihrer grundsätzlichen städtebaulichen Irrelevanz nicht in den Tatbestand des § 29 Abs. 1 BauGB aufgenommen hat, einer strengeren bauplanungsrechtlichen Bindung unterliegen sollen als die städtebaulich relevanten Vorhaben des § 29 Abs. 1 BauGB. Im Ergebnis muss daher der Befreiungstatbestand des § 31 Abs. 2 BauGB auch für nicht von § 29 Abs. 1 BauGB erfasste Vorhaben gelten. Ansonsten bliebe den Betroffenen zur Realisierung ihres Vorhabens als einzige Möglichkeit, die entsprechende Bebauungsplanfestsetzung im Wege der Normenkontrolle anzugreifen.
b) Die Kammer ist ferner der Ansicht, dass über eine solche Befreiung verfahrensrechtlich nach den Regelungen der BayBO zu befinden ist.
Das Landratsamt leitet dies in seiner Bescheidsbegründung daraus ab, dass die Bäume „andere Anlagen“ im Sinne des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 BayBO seien und deshalb der Anwendungsbereich der BayBO eröffnet sei. Dies entspricht der Kommentarliteratur, die insoweit auf Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Art. 81 Abs. 1 Nr. 7 BayBO verweist (Simon / Busse / Dirnberger / Lechner, BayBO, Art. 1 Rn. 31; Molodovsky / Famers, BayBO, Art. 1 Rn. 16). Bei dieser Bezugnahme bleibt jedoch außer Acht, dass Art. 7 Abs. 1 Nr. 2 BayBO und Art. 81 Abs. 1 Nr. 7 BayBO nur Regelungen bezüglich bebauter Grundstücke treffen bzw. zulassen. Im vorliegenden Fall ist das streitgegenständliche Grundstück jedoch unbebaut und nach den Festsetzungen des Bebauungsplans auch nicht bebaubar, so dass es sich bei den streitgegenständlichen Bäumen nicht um Anlagen handelt, an die die beiden vorgenannten Vorschriften Anforderungen stellen bzw. zulassen. Im Ergebnis ist dem Landratsamt jedoch beizupflichten, dass die BayBO verfahrensrechtlich anzuwenden ist. Bauplanungsrechtlich ist über eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB zu entscheiden (siehe a). Da im vorliegenden Fall die Anwendung eines anderen Gestattungsverfahrens nicht ernsthaft in Betracht kommt, sind – wie sich nicht zuletzt aus Art. 56 BayBO ergibt – die verfahrensrechtlichen Regelungen der BayBO anzuwenden.
c) Die Kammer teilt jedoch nicht die Ansicht der Beteiligten, für die Entscheidung über die Erteilung der begehrten Befreiung zum Fällen der Bäume sei das Landratsamt zuständig. Die Beteiligten meinen übereinstimmend, die Zuständigkeit des Landratsamts sei deshalb gegeben, weil die Anwendbarkeit der zur Zuständigkeit der Gemeinde führenden Regelung in Art. 63 Abs. 3 Satz 1 BayBO daran scheitere, dass das Vorhaben nicht nach Art. 57 BayBO verfahrensfrei sei. Dem ist nicht zu folgen.
Insoweit ist zunächst darauf zu verweisen, dass das Landratsamt, das die Bäume als Anlagen im Sinne des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 BayBO ansieht, konsequenterweise die Regelung in Art. 57 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 BayBO hätte in Betracht ziehen müssen, wonach die Beseitigung von Anlagen, die keine Gebäude sind, „verfahrensfrei“ ist, wenn die Anlagen nicht höher als 10 Meter sind. Im vorliegenden Fall ist unklar, wie hoch die von der Bebauungsplanfestsetzung betroffenen Bäume jeweils sind. Ausreichende Feststellungen wurden im Verwaltungsverfahren nicht getroffen. Beim Augenschein war es noch nicht einmal möglich, hinreichend festzustellen, auf welche Bäume sich diese Festsetzung überhaupt bezieht.
Nach Ansicht der Kammer kommt es jedoch auf die Höhe der einzelnen Bäume ohnehin nicht an. Art. 63 Abs. 3 Satz 1 BayBO ist nämlich so auszulegen, dass die Zuständigkeit für Entscheidungen über Abweichungen, Ausnahmen und Befreiungen von ortsrechtlichen Regelungen bei der Gemeinde auch dann liegt, wenn von vornherein keine Genehmigungspflicht nach Art. 55 Abs. 1 BayBO besteht, weil das Vorhaben schon nicht als „Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung von Anlagen“ im Sinne des Art. 55 Abs. 1 BayBO zu qualifizieren ist. So liegt es hier. Selbst wenn man entgegen der von der Kammer vertretenen Ansicht die Bäume als „Anlagen“ im Sinne der BayBO qualifizieren würde (siehe b), ist deren beabsichtigte Beseitigung jedenfalls keine „Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung“ im Sinne des Art. 55 Abs. 1 BayBO. Die Beseitigung von Anlagen wird vom Anwendungsbereich des Art. 55 Abs. 1 BayBO von vornherein nicht erfasst.
Die Auffassung der Beteiligten, die den Anwendungsbereich des Art. 63 Abs. 3 Satz 1 BayBO auf Vorhaben beschränken will, die im Katalog des Art. 57 BayBO aufgelistet sind, lässt außer Acht, dass die Gründe, die den Gesetzgeber veranlasst haben, bei „verfahrensfreien Bauvorhaben“ die Zuständigkeit für Entscheidungen über Abweichungen, Ausnahmen und Befreiungen von ortsrechtlichen Regelungen auf die Gemeinde zu übertragen, erst recht für solche Vorhaben gelten, die unabhängig von den Regelungen in Art. 57 BayBO schon nach dem ersten Halbsatz des Art. 55 Abs. 1 BayBO nicht genehmigungspflichtig sind. Der in Art. 63 Abs. 3 Satz 1 BayBO angeordneten Zuständigkeitsverlagerung auf die Gemeinde liegt zugrunde, dass neben der von der Gemeinde zu treffenden Entscheidung – ungeachtet der Frage, ob zusätzlich Abweichungen von materiell-rechtlichen Anforderungen der BayBO erforderlich sind – jedenfalls keine generelle formelle Genehmigung des Vorhabens durch die Bauaufsichtsbehörde nötig ist. Der Gesetzesbegründung ist zu entnehmen, dass diesen Vorhaben „nur geringe bauaufsichtliche Relevanz und allenfalls minimales planungsrechtliches Gewicht zukommen, sodass insoweit die Zulassung von Abweichungen von – die gemeindliche Ortsgestaltungs- und Planungshoheit schützenden und von den Gemeinden selbst erlassenen – Vorschriften den Gemeinden überlassen bleiben kann“ (LT-Drs. 15/7161, S. 69). Für verfahrensfreie Vorhaben nach Art. 57 BayBO – jedenfalls diejenigen nach Art. 57 Abs. 1 bis 4 BayBO – ist grundsätzlich kennzeichnend, dass sie „an sich“ nach Art. 55 Abs. 1 BayBO genehmigungspflichtig wären, aber gesetzestechnisch in einem zweiten Schritt ausnahmsweise wegen ihrer geringeren Bedeutung letztlich doch von der Genehmigungspflicht ausgenommen werden. Art. 63 Abs. 3 Satz 1 BayBO muss daher erst recht für solche Vorhaben gelten, die nicht einmal unter den ersten Halbsatz des Art. 55 Abs. 1 BayBO subsumiert werden können. Die vom Gesetzgeber angewandte Gesetzestechnik zeigt, dass ihm für diese Fälle die Normierung einer formellen Genehmigungspflicht eher noch ferner lag als bei den im engeren Sinn nach Art. 57 BayBO verfahrensfreien Vorhaben. Nach dem Normzweck des Art. 63 Abs. 3 Satz 1 BayBO ist die Gemeinde daher auch in diesen Fällen zuständig.
2. Der – im Tenor zutreffende – streitgegenständliche Bescheid des Landratsamts war aus Klarstellungsgründen gleichwohl aufzuheben, weil er den unzutreffenden Anschein erweckt, dass das Landratsamt für die getroffene Entscheidung zuständig ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 154 Abs. 3 und § 162 Abs. 3 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. VwGO.
4. Die Berufung war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 124a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).