Aktenzeichen W 2 K 16.30415
Leitsatz
Ein Abschiebungsverbot wegen einer erheblichen konkreten Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nach § 60 Abs. 7 AufenthG liegt nur vor bei einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde; eine der medizinischen Versorgung in Deutschland gleichwertige Versorgung im Herkunftsland wird nicht vorausgesetzt. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1. Die Klage, über die trotz des Ausbleibens von ordnungsgemäß unter dem Hinweis auf die Folgen des Fernbleibens geladenen Beteiligten in der mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Marokkos. Der Bescheid des Bundesamtes vom 27. März 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO).
2.1 Der Kläger hat keinen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahren zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG, da die Änderung der Sachlage nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3 VwVfG fristgerecht geltend gemacht wurde. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Bescheid vom 27. März 2016 verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
2.2 Der Kläger kann auch aus § 51 Abs. 5, § 49 VwVfG keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG herleiten.
Nach § 51 Abs. 5, § 49 VwVfG hat der Kläger einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag. Dieser Anspruch verdichtet sich dann von Verfassungs wegen auf einen Rechtsanspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes und erlaubt damit eine abschließende gerichtliche Entscheidung zugunsten des Klägers, wenn ein Festhalten an der bestandskräftigen Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde. Dies kommt in Betracht, wenn der Ausländer bei einer Abschiebung einer extremen individuellen Gefahrensituation ausgesetzt würde und das Absehen von einer Abschiebung daher verfassungsrechtlich zwingend geboten ist (BVerwG, U.v. 20.10.2004 – 1 C 15/03 – BVerwGE 122, 103; U.v. 21.3.2000 – 9 C 41/99 – BVerwGE 111, 77; VG Augsburg, U.v. 22.11.2012 – Au 6 K 12.30289 – juris; VG Bayreuth, U.v. 21.7.2015 – B 3 K 14.30400 – juris).
2.2.1 Daran gemessen hat der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Angaben im Hinblick auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG wurden seitens des Klägers nicht getätigt, worauf im angegriffenen Bescheid vom 27. März 2016 zutreffend hingewiesen wird.
2.2.2 Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Regelung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst dabei nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen des Zielstaats begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solche ergeben, nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können (st. Rspr., BVerwG, U.v. 25.11.1997 – Az. 9 c 58.96 – juris; BayVGH, U.v. 8.3.2012 – 13a B 10.30172 – juris). Nach den in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätzen ist die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu prüfen ist (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – juris). Ein derartiges zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis unterliegt strengen Voraussetzungen: Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Dies ist der Fall, wenn der Ausländer alsbald nach der Rückkehr in sein Heimatland in diese Lage gerät, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung angewiesen ist und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen kann (vgl. BVerwG, B.v. 17.8.2011 – 10 B 13/11 – juris m.w.N.). Die Gefahr kann sich im Einzelfall auch daraus ergeben und ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis begründen, wenn der erkrankte Ausländer eine an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung aus finanziellen oder sonstigen Gründen tatsächlich nicht erlangen kann (vgl. BVerwG, U.v. 29.10.2002 – 1 C 1/02 – juris; BayVGH, U.v. 3.7.2012 – 13a B 11.30064 – juris). Demgegenüber ist es nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG).
Eine solche Erkrankung ist durch ein fachärztliches Gutachten (vgl. OVG NRW, B.v. 19.12.2008 – 8 A 3053/08.A – juris; VG Gelsenkirchen, B.v. 17.2.2015 – 6a L 1901/14.A – juris) zu attestieren, wobei bestimmte Mindestanforderungen und Standards an den Inhalt solcher Atteste zu stellen sind. Aus diesen muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben.
2.2.3 Gemessen an den oben dargestellten Grundsätzen liegen nach Überzeugung des Gerichts die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der Person des Klägers nicht vor. Es besteht zur Überzeugung des Gerichts keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers im Falle seiner Rückkehr nach Marokko aufgrund der dort vorhandenen Verhältnisse wesentlich verschlechtern wird. Zur Begründung wird auf den Bescheid des Bundesamtes vom 27. März 2016 verwiesen (§ 77 Abs. 2 VwGO). Ergänzend ist zum gerichtlichen Verfahren auszuführen: Dem Gericht liegt lediglich das auf den 28. Januar 2016 Attest, ausgestellt von der Fachärzten für Psychiatrie Frau E., vor, wonach der Kläger vom 19. August 2015 bis zum 28. August 2015 wegen einer akuten polymorph psychotischen Störung mit Symptomen einer Schizophrenie und der zusätzlichen Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vom emotional instabilen Typ in vollstationärer Behandlung gewesen sei und auf die Medikamente Venlafaxin, Quetiapin sowie Circadin eingestellt sei. Entgegen der gerichtlichen Aufforderung vom 9. August 2016 wurde dem Gericht kein aktuelles fachärztliches Attest mit Angaben über den Gesundheitszustand und der derzeitigen Medikation des Klägers vorgelegt. Zur mündlichen Verhandlung am 28. September 2016 ist von der Klägerseite niemand erschienen.
Im Übrigen ist die Behandlung der vorgetragenen psychischen Erkrankung des Klägers in Marokko mit der hier erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit sichergestellt. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes ist die medizinische Grundversorgung im städtischen Raum weitgehend gesichert. Medizinische Dienste seien kostenpflichtig, die Kosten würden bei Mittellosigkeit aber erlassen. Chronische und psychiatrische Krankheiten ließen sich in Marokko vorzugsweise in privaten Krankenhäusern behandeln (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Königreich Marokko v. 25.1.2016, Stand Dezember 2015, S. 21 f.). Nach Angaben der Schweizerischen Eidgenossenschaft verfügt Marokko über 80 Einrichtungen, die ambulante psychiatrische oder psychologische Therapien anbieten. Gemäß der WHO gebe es in Marokko zehn Psychiatrien, die zusammen über 1.461 Betten verfügten und allgemeine Krankenhäuser mit 773 Betten, die für psychisch erkrankte Menschen bestimmt seien. Die öffentliche Gesundheitsversorgung biete 27 Einrichtungen, die sich auf die Behandlung psychisch erkrankter Personen spezialisiert hätten. Das Betreuungsangebot für psychisch kranke Menschen werde teils als unzureichend kritisiert. Der Gesundheitsminister habe den Ausbau von Behandlungsstrukturen in der Psychiatrie zu seiner zweiten Priorität erklärt (Schweizerische Eidgenossenschaft, Staatssekretariat für Migration SEM, Focus Marokko, Gesundheitsversorgung v. 25.2.2015, S. 22 f.). In der Auskunft vom 4. April 2012 weist die Deutsche Botschaft Rabat zudem explizit darauf, dass eine paranoide Schizophrenie in Marokko behandelbar sei und die Möglichkeit einer stationären Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik bestehe (Auskunft der Botschaft Rabat an das BAMF v. 4. 4.2012, S. 1). Im Hinblick auf die Verfügbarkeit der im Attest vom 28. Januar 2016 angegebenen Medikation wird auf die Ausführungen im angegriffenen Bescheid vom 27. März 2016 verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Medikamente Venlafaxin und Quetiapin in der im Länderinformationsblatt Marokko der International Organization for Migration (IOM, Länderinformationsblatt Marokko Stand August 2015, S. 3) angegeben Datenbank www.medicament.ma aufgeführt sind. In Bezug auf die Verfügbarkeit des Schlafmittels Circadin wird auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Bescheid verwiesen.
Das Gericht ist unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel auch davon überzeugt, dass der Kläger in Marokko zumindest im urbanen Raum Zugang zu einer Behandlung sowie Medikation hat. Im Fall der nachgewiesenen Mittellosigkeit des Patienten durch eine sogenannte RAMED-Bescheinigung (Régime d’Assistance médicale pour les économiquement démunis) werden die Kosten für Medikamente oder eine stationäre Unterbringung von staatlichen Stellen übernommen (Auskunft der Botschaft Rabat an das BAMF v. 4. April 2012, S. 1; umfassend zu den Voraussetzungen der Erteilung einer RAMED-Bescheinigung IOM, Länderinformationsblatt Marokko, Stand August 2015, S. 1 f.). Nach Angaben der Schweizerischen Eidgenossenschaft seien Nutznießer von RAMED-Leistungen Personen, die keinen Versicherungsschutz durch die AMO (Assurance Maladie Obliagtoire) genießen und nicht über genügend finanzielle Behandlung verfügen. Alternative Finanzierungsmöglichkeiten stellten das familiäre Netzwerk, die Nachbarschaft sowie das Vereinswesen dar. Der geographische Zugang zu Einrichtungen zum Gesundheitswesen stehe im Zusammenhang mit der Bevölkerungsdichte. Diskriminierung beim Zugang zum Gesundheitswesen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit sei in Marokko kein Thema (Schweizerische Eidgenossenschaft, Staatssekretariat für Migration SEM, Focus Marokko, Gesundheitsversorgung v. 25.2.2015, S. 29 ff.). Dem Kläger ist es zumutbar, sich im städtischen Raum in Behandlung zu begeben (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG), deren Zugänglichkeit im Falle der Bedürftigkeit mittels einer RAMED-Bescheinigung gewährleistet ist.
Soweit die Ärztin Frau E. in ihrem Attest vom 28. Januar 2016 ausführt, dass „bei einer Abschiebung mit einer deutlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands gerechnet werden müsse“, handelt es sich um eine unpräzise Aussage, aus der für sich genommen nicht auf ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis geschlossen werden kann.
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtkosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylG).