Aktenzeichen M 9 SN 16.3412
Leitsatz
1 Eine aus dem Einfügensgebot des § 34 Abs. 1 BauGB abzuleitende Verletzung des Rücksichtnahmegebots kann in Betracht kommen, wenn durch die Verwirklichung eines genehmigten Vorhabens ein in unmittelbarer Nachbarschaft befindliches Wohnhaus „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Eine solche Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht. (redaktioneller Leitsatz)
2 Hauptkriterium bei der Beurteilung einer abriegelnden bzw. erdrückenden Wirkung sind u.a. die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung. Für die Annahme einer abriegelnden bzw. erdrückenden Wirkung eines Nachbargebäudes ist somit grundsätzlich kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als Gesamtschuldner.
III.
Der Streitwert wird auf 3.750,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsteller wenden sich als Nachbarn gegen die Zulassung der Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit sechs Wohneinheiten.
Die Antragsteller sind Miteigentümer des Grundstücks Fl. Nr. …, Gemarkung …, …-straße … in … Dieses Grundstück ist mit einem Wohnhaus bebaut, das sich zur …-straße hin orientiert. Der nördliche Bereich des Grundstücks ist nach Angaben der Antragsteller gärtnerisch genutzt.
Die Beigeladene beabsichtigt auf dem Grundstück Fl. Nr. …, Gemarkung …, …-straße … (Baugrundstück) die Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit sechs Wohneinheiten. Der geplante Baukörper soll eine Länge von insgesamt 19,49 m in zwei zueinander versetzten Bauteilen von je 10,99 m Breite erhalten. Nach der Planung sind ein Erdgeschoss, ein 1. Obergeschoss sowie ein Dachgeschoss vorgesehen. Auf jeder Ebene sollen jeweils zwei Wohneinheiten, insgesamt somit sechs Wohneinheiten entstehen. Die Wandhöhe des Vorhabens soll an der Traufseite 5,55 m betragen. Die Firsthöhe ist mit ca. 11 m geplant. Das Grundstück der Antragsteller liegt westlich des Baugrundstücks. Dieses grenzt auf eine Länge von ca. 20 m an den Gartenteil des Grundstücks der Antragsteller an. Zu der gemeinsamen Grundstücksgrenze hin ist der geplante Baukörper mit dem Westgiebel ausgerichtet. Die westliche Gebäudeaußenwand hat nach der Planung einen Abstand zwischen 8 m und 7,75 m zur Grundstücksgrenze mit dem Grundstück der Antragsteller.
Mit Bauantrag vom … März 2016, eingegangen bei der Antragsgegnerin am 5. April 2016, beantragte die Beigeladene eine Baugenehmigung für das vorstehend beschriebene Vorhaben.
Mit Bescheid vom … Juli 2016 erteilte die Antragsgegnerin die begehrte Baugenehmigung im vereinfachten Verfahren gemäß Art. 59 BayBO.
Die Antragsteller haben mit Telefax vom 1. August 2016 Klage gegen die Antragsgegnerin erhoben und beantragt, die Baugenehmigung vom … Juli 2016 aufzuheben (Verfahren M 9 K 16.3411).
Im vorliegenden Verfahren beantragen die Antragsteller mit Telefax vom 1. August 2016,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Baugenehmigungsbescheid vom … Juli 2016 anzuordnen.
Zur Begründung von Klage und Antrag wird ausgeführt, dass die nähere Umgebung durch kleinere Siedlungshäuser aus den 50er Jahren in der Bauweise E + D geprägt sei. Das streitgegenständliche Vorhaben füge sich nach dem Maß der baulichen Nutzung und nach der Grundstücksfläche die überbaut werden soll nicht in die nähere Umgebung ein und verursache bodenrechtlich beachtliche Spannungen. Die Überschreitung des vorgegebenen Rahmens sei für die Antragsteller als Nachbarn unzumutbar, da die Umgebung durch eine größere gärtnerische Nutzung der Grundstücke geprägt sei. Die schmalen Straßen seien zudem nicht darauf ausgelegt, das erhöhte Maß von Wohnnutzung aufzunehmen. Es werde das Gebot der Rücksichtnahme verletzt.
Die Antragsgegnerin hat zum Sachverhalt in dem mittlerweile eingestellten Verfahren zur Teilbaugenehmigung für das streitgegenständliche Grundstück (M 9 SN 16.2796) Stellung genommen. Sie führt aus, dass sich das Vorhaben nach dem Maß der baulichen Nutzung in die Umgebung einfüge. Eine Beeinträchtigung von Nachbarrechten sei nicht gegeben. Die Abstandsflächen nach der Bayerischen Bauordnung sind einzuhalten, da weder eine Abweichung von diesen Anforderungen beantragt noch erteilt worden sei. Dementsprechend komme eine unzumutbare Beeinträchtigung der Belichtung, Belüftung und Besonnung nicht in Betracht. Der Zu- und Abfahrtsverkehr betreffe das Grundstück der Antragsteller nicht, da die Zufahrt zur geplanten Tiefgarage zur …-straße ausgerichtet sei.
Zum weiteren Vorbringen der Parteien und zu den übrigen Einzelheiten wird auf die beigezogenen Behördenakten sowie die Gerichtsakten im vorliegenden Verfahren und in den Verfahren M 9 K 16.3411, M 9 K 16.2795 und M 9 SN 16.2796 Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag gemäß § 80 Abs. 3 i. V. m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist unbegründet.
Nach § 80a Abs. 3 i. V. m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag die gesetzlich nach § 212a Abs. 1 BauGB ausgeschlossene aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen ein Bauvorhaben des Nachbarn ganz oder teilweise anordnen. Hierbei trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung. Im Rahmen dieser Entscheidung ist zu beurteilen, ob die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts oder die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streitenden Interessen höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind insbesondere die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als wesentliches, jedoch nicht alleiniges Indiz zu berücksichtigen.
Im vorliegenden Fall führt eine derartige Interessenabwägung zum Überwiegen der Interessen der Beigeladenen, da die Klage der Antragsteller in der Hauptsache voraussichtlich ohne Erfolg bleiben wird.
Die Anfechtungsklage eines Dritten gegen eine Baugenehmigung kann nur dann Erfolg haben, wenn Vorschriften verletzt sind, die dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind. Es genügt daher für den Erfolg von Klage und Antrag nicht, wenn die Baugenehmigung gegen zu prüfende Vorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle statt. Die Prüfung hat sich vielmehr darauf zu beschränken, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln, verletzt sind (st. Rspr., vgl. BayVGH, B. v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20 ff. m. w. N.).
Eine Verletzung derartiger nachbarschützender Vorschriften ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Eine solche ergibt sich weder aus einer Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme (1.), noch aus einer nicht ausreichenden Erschließung des Vorhabens (2.). Die Antragsteller können eine Verletzung von Nachbarrechten auch nicht daraus ableiten, dass sich das Bauvorhaben nicht hinsichtlich des Maßes der Nutzung oder der überbaubaren Grundstücksfläche einfüge (3.).
1. Die streitgegenständliche Baugenehmigung verletzt das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot zulasten der Antragsteller nicht.
In Ausnahmefällen kann nach der Rechtsprechung eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots, das im vorliegenden Fall aus dem Einfügensgebot des § 34 Abs. 1 BauGB abzuleiten wäre, in Betracht kommen, wenn durch die Verwirklichung eines genehmigten Vorhabens ein in unmittelbarer Nachbarschaft befindliches Wohnhaus „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird (BayVGH, U. v. 7.10.2010 – 2 B 09.328 – juris Rn. 18 ff. m. w. N.). Eine solche Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (BVerwG, U. v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris Rn. 38: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zu 2,5-geschossigem Nachbarwohnhaus). Hauptkriterium bei der Beurteilung einer abriegelnden bzw., erdrückenden Wirkung sind u. a. die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung. Für die Annahme einer abriegelnden bzw. erdrückenden Wirkung eines Nachbargebäudes ist somit grundsätzlich kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes.
Eine erdrückende Wirkung des streitgegenständlichen Bauvorhabens für das Grundstück der Antragsteller kommt bei Berücksichtigung dieser Vorgaben nicht in Betracht. Das geplante Gebäude ist mit seiner Giebelseite (Wandlänge ca. 11 m; Wandhöhe 5,55 m; Firsthöhe ca. 11m) zum Grundstück der Antragsteller ausgerichtet. Es besteht ein Abstand dieser Außenwand zur Grundstücksgrenze von ca. 7,75 m bis 8 m. Angesichts dieser Entfernung, der geringen Längenausdehnung der Wand und der geplanten Höhenentwicklung des Bauköpers von E + 1 + D ist eine erdrückende Wirkung auf das Grundstück der Antragsteller ausgeschlossen.
Hinzu kommt, dass nach den vorgelegten Plänen die landesrechtlichen Grenzabstandsvorschriften eingehalten werden sollen. Diese stellen grundsätzlich eine Konkretisierung des Gebots der Rücksichtnahme dar (BVerwG, U. v. 16.09.1993 – 4 C 28.91 – juris Rn. 21). Wenn die Abstandsflächen eingehalten werden, ist in der Regel keine erdrückende Wirkung eines Gebäudes anzunehmen. In Bezug auf das Grundstück der Antragsteller ist festzustellen, dass zu diesem nach der Planung die volle Abstandsflächentiefe von 1 H beachtet werden soll. Nach den landesrechtlichen Abstandsflächenvorgaben wird gegenüber dem Nachbarn bei einer Wandlänge von bis zu 16 m auch die halbe Wandhöhe als Abstandsfläche als zumutbar angesehen (vgl. Art. 6 Abs. 6 BayBO). Dies verdeutlicht, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots durch die Beeinträchtigung der Besonnung und Belichtung des Grundstücks der Antragsteller oder eine einmauernde Wirkung nicht im Entferntesten in Betracht kommt.
2. Eine Verletzung der Nachbarrechte der Antragsteller lässt sich auch nicht durch die behauptete mangelhafte Erschließung des Vorhabens begründen.
Das bauplanungsrechtliche Erfordernis der gesicherten Erschließung, das allein Gegenstand der bauaufsichtlichen Prüfung im streitgegenständlichen Genehmigungsverfahren war, dient ebenso wie die bauordnungsrechtlichen Anforderungen an die Erschließung (Art. 4 Abs. 1 Nr. 2 BayBO) nicht dem Schutz der Nachbarschaft (BayVGH, B. v. 23.8.2010 – 2 ZB 10.1216 – juris, BayVGH, B. v. 30.4.2007 – 1 CS 06.3335 – juris Rn. 30).
3. Auch soweit sich der Bevollmächtigte der Antragsteller auf eine Verletzung des Einfügensgebots hinsichtlich des Maßes der Nutzung und der überbaubaren Grundstücksfläche beruft, kann die Klage keinen Erfolg haben.
Die Bestimmungen über das Maß der baulichen Nutzung und das Einfügen des Vorhabens dienen grundsätzlich nicht dem Nachbarschutz (BayVGH, U. v. 1.12.2011 – 14 CS 11.2577 – juris Rn. 24). Diese Anforderung dient ebenso wie diejenigen zur überbaubaren Grundstücksfläche grundsätzlich nur der städtebaulichen Ordnung (BayVGH, B. v. 13.3.2014 – 15 ZB 13.1017 – juris Rn. 7 m. w. N.). Etwas anderes kann nur gelten, wenn in so grober Weise gegen das Einfügensverbot verstoßen wird, dass dadurch das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme verletzt wird, was nach dem unter 1. Gesagten nicht der Fall ist. Ein nachbarschaftliches Recht auf Aufrechterhaltung eines durch kleinere Gebäude und großzügige Gärten gekennzeichneten Gebiets gibt es entgegen der Auffassung der Antragsteller nicht.
Nach alledem war der Antrag mit der Kostenfolgen des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens gem. § 159 VwGO als Gesamtschuldner zu tragen.
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen waren gemäß § 162 Abs. 3 VwGO aus Billigkeitserwägungen ebenfalls den Antragstellern aufzuerlegen, da der Bevollmächtigte der Beigeladenen einen Antrag gestellt hat und dieser Antrag Erfolg hatte.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 3 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nrn. 9.7.1 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.