Aktenzeichen M 15 S 16.31677
Leitsatz
Bei einem Kind, das an einem Apnoe-Bradykardie-Syndrom leidet, besteht die Gefahr, dass sich die Erkrankung aufgrund zielstaatsbezogener Umstände im Kosovo in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben führt. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. Juli 2016 enthaltene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtschutz gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 5. Juli 2016, mit dem sein Asylbegehren als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde.
Bezüglich des Sachverhalts nimmt das Gericht Bezug auf die Darstellung im angegriffenen Bescheid des Bundesamts, der es folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Der Antragsteller hat am 11. Juli 2016 Klage …) zum Verwaltungsgericht München erheben und beantragen lassen, die Antragsgegnerin unter Aufhebung des Bescheids vom 5. Juli 2016 zu verpflichten, dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen bzw. hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote bestehen.
Gleichzeitig wurde gemäß § 80 Abs. 5 VwGO sinngemäß beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der angeordneten Abschiebungsandrohung anzuordnen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsteller mit einer lebensbedrohlichen Desaturierung (Abfall der Sauerstoffsättigung) auf die Kinder-Intensivstation eingeliefert worden sei. Er werde 24 Stunden täglich künstlich beatmet, die Dauer des stationären Aufenthalts sei nicht absehbar. Aus der ärztlichen Bestätigung des Klinikums der … – Kinderklinik und Kinderpoliklinik – vom 13. Juli 2016 geht hervor, dass der Antragsteller als ehemals Frühgeborenes (28. Schwangerschaftswoche) an einem Apnoe-Bradykardie-Syndrom mit Heimsauerstoffbedarf leide. Er erhalte momentan auf der Kinderintensivstation über einen High-Flow-Service eine Atemunterstützung von 24 Stunden/Tag. Die Dauer des stationären Aufenthalts sei derzeit nicht absehbar. Auch sei noch unklar, welche Art von Therapie (ggf. häusliche Beatmung) eingeleitet werde.
Mit Schreiben vom 26. Juli 2016 teilte die Bevollmächtigte mit, dass sich der Antragsteller immer noch in stationärer Behandlung befinde.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die elektronisch zur Verfügung gestellte Behördenakte sowie auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren und im Klageverfahren … Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung hat Erfolg.
Der zulässige Antrag, die kraft Gesetzes (§ 75 Abs. 1 AsylG) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamts nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen, ist auch begründet.
Gemäß Art. 16a Abs. 4 GG, § 36 Abs. 4 AsylG kann das Verwaltungsgericht die Aussetzung der Abschiebung anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts – insbesondere am Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamts – bestehen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegen ernstliche Zweifel i. S. v. Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält. Dies ist nicht anzunehmen, wenn eine hohe Gewissheit dafür spricht, dass ein materieller Asylanspruch nicht verletzt wird (BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166 ff, Rn. 94 ff.).
Das Gericht hat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zum einen die Einschätzung der Antragsgegnerin, dass der Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter offensichtlich nicht bestehe sowie die Einschätzung der Antragsgegnerin, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, zum Gegenstand seiner Prüfung zu machen (BVerfG, B. v. 2.5.1984 – 2 BvR 1413/83 – BVerfGE 67, 43 ff.). Letzteres ist zwar der gesetzlichen Regelung in § 36 AsylG nicht ausdrücklich zu entnehmen, jedoch gebieten Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 103 Abs. 1 GG die diesbezügliche Berücksichtigung auch im Verfahren nach § 36 AsylG (BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris; BVerfG, B. v. 10.7.1997 – 2 BvR 1291/96 – juris).Im Hinblick auf die aktuelle Erkrankung des Antragstellers und eines damit möglicherweise vorliegenden (auch) zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der insoweit seitens des Bundesamts getroffenen Entscheidung. Es sprechen erhebliche Gründe dafür, dass die angefochtene Maßnahme jedenfalls in dem für diese Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält.
Es liegen im Fall des Antragstellers aufgrund der vorgelegten fachärztlichen Berichte ernsthafte Hinweise darauf vor, dass bei ihm im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand die Voraussetzungen für ein (auch) zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen könnten. Eine eingehendere Aufklärung und Prüfung muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Im Hinblick auf die möglicherweise gravierenden gesundheitlichen Folgen für den Antragsteller, die mit einer Rückkehr in sein Herkunftsland verbunden wären, ist seinem Interesse an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im streitgegenständlichen Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung der Vorrang einzuräumen.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Regelung erfasst nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben (z. B. Reiseunfähigkeit), nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Ein zielstaatbezogenes Abschiebungshindernis kann auch dann gegeben sein, wenn die Gefahr besteht, dass sich eine vorhandene Erkrankung aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben führt, d. h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht. Dies kann etwa der Fall sein, wenn sich die Krankheit im Heimatstaat aufgrund unzureichender Behandlungsmöglichkeiten verschlimmert oder wenn der betroffene Ausländer die medizinische Versorgung aus sonstigen Umständen tatsächlich nicht erlangen kann (BVerwG, B. v. 17.8.2011 – 10 B 13/11 u.a – juris; BayVGH, U. v. 3.7.2012 – 13a B 11.30064 – juris Rn. 34). Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustands ist dabei nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden (OVG NRW, B. v. 30.12.2004 – 13 A 1250/04.A – juris Rn. 56). Für die Bestimmung der „Gefahr“ gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d. h. die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (BVerwG, B. v. 2.11.1995 – 9 B 710/94 – juris). Der Abschiebungsschutz aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dient hingegen nicht dazu, eine bestehende Erkrankung optimal zu behandeln oder ihre Heilungschancen zu verbessern. Diese Vorschrift begründet insbesondere keinen Anspruch auf Teilhabe am medizinischen Fortschritt und Standard in der medizinischen Versorgung in Deutschland (vgl. VG Arnsberg, B. v. 23.2.2016 – 5 L 242/16.A – juris Rn. 64).
Mit der seit dem 17. März 2016 geltenden gesetzlichen Regelung hat auch der Gesetzgeber klargestellt, dass eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, vorliegt (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Es wird im Falle einer Erkrankung nicht vorausgesetzt, dass die medizinische Versorgung im Herkunftsland mit der Versorgung in Deutschland gleichwertig ist (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG).
Ein (ausländerrechtlicher) Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung wegen (inlandsbezogener) rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i. V. m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist unter anderem dann gegeben, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Diese Voraussetzungen können nicht nur erfüllt sein, wenn und solange der Ausländer ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche – außerhalb des Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn) (vgl. BVerfG, B. v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 13).
Demnach könnten hier nach dem derzeitigen Sachstand sowohl eine Reiseunfähigkeit (im weiteren Sinn) im Sinne eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses als auch ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot vorliegen.
Der vorliegenden ärztlichen Stellungnahme vom 13. Juli 2016 ist zu entnehmen, dass der Antragsteller derzeit intensivmedizinisch betreut werden muss, die Dauer des Klinikaufenthalts derzeit nicht absehbar und auch die Art der Therapie noch unklar ist. Demgegenüber ging die Antragsgegnerin im angefochtenen Bescheid unter Bezugnahme auf eine frühere ärztliche Stellungnahme vom 14. April 2016 lediglich davon aus, dass eine medikamentöse Behandlung des Antragstellers erforderlich, aber auch ausreichend sei und die Behandlungsmöglichkeit im Kosovo insoweit gegeben sei. Ob dies auch für eine möglicherweise erforderliche (häusliche) Beatmung gilt, ist derzeit noch offen.
Sollte beim Antragsteller keine Stabilisierung eintreten und die erforderliche medizinische Maßnahme im Kosovo nicht durchführbar sein und sich deshalb der Gesundheitszustand lebensbedrohlich verschlechtern, läge jedenfalls auch ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis vor. Dies wird im Hauptsacheverfahren zu klären sein.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).