Aktenzeichen M 16 K 14.30893
Leitsatz
Nach der aktuellen Auskunftslage ist in Aserbeidschan der Staat gegenüber Übergriffen privater Dritter sowohl schutzwillig als auch schutzfähig, sodass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. die Gewähr subsidiären Schutzes wegen einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausscheidet. (red. LS Clemens Kurzidem)
In Aserbeidschan besteht in der Anonymität der Zweimillionenstadt Baku die Möglichkeit internen Schutzes gegenüber der Verfolgung durch private Dritte im Rahmen der Blutrache. (red. LS Clemens Kurzidem)
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG kann sich bei einer psychischen Erkrankung auch (allein) wegen einer im Herkunftsland zu erwartenden Retraumatisierung aufgrund der Konfrontation mit den Ursachen eines Traumas ergeben. In diesem Fall erweisen sich im Zielstaat vorhandene Behandlungsmöglichkeiten als unerheblich, wenn sie für den Betroffenen aus für ihn in der Erkrankung selbst liegenden Gründen, nämlich wegen der Gefahr der Retraumatisierung, nicht erfolgversprechend sind (vgl. VGH Mannheim BeckRS 2016, 47263). (red. LS Clemens Kurzidem)
Angesichts der Unschärfe des Krankheitsbildes Posttraumatische Belastungsstörung sowie seiner vielfältigen Symptome ist regelmäßig die Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attests erforderlich, aus dem sich nachvollziehbar ergeben muss, auf welcher Grundlage der Arzt zu seiner Diagnose gelangt ist und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. (wie BVerwGE 129, 251 = BeckRS 2008, 30091). (red. LS Clemens Kurzidem)
Tenor
I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Juli 2014 wird in Nr. 4 insoweit aufgehoben, als festgestellt wurde, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegt.
Er wird zudem in Nr. 5 insoweit aufgehoben, als die Abschiebung nach Aserbaidschan angedroht wurde.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschans vorliegen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger 2/3, die Beklagte 1/3.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Über die Klage konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG).
Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Sie hat Erfolg, soweit der Kläger die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begehrt. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist rechtswidrig, soweit darin in Nr. 4 festgestellt wird, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegt und verletzt den Kläger insoweit in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Aserbaidschans nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter entsprechender Aufhebung der Regelung in Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Im Übrigen ist die Klage unbegründet. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 gemäß § 3 Abs. 4 AsylG noch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klage war daher insoweit abzuweisen.
Der Kläger macht geltend, dass ihm in seinem Herkunftsland die konkrete Gefahr der Blutrache durch nichtstaatliche Akteure droht. In Bezug auf das von ihm geschilderte Verfolgungsgeschehen ist das Gericht zwar von der Glaubhaftigkeit seines Vorbringens überzeugt, jedoch ist grundsätzlich von der Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit des Herkunftsstaats auszugehen (vgl. § 3d AsylG) sowie auch der Möglichkeit und Zumutbarkeit, internen Schutz in Anspruch zu nehmen (vgl. § 3e AsylG).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss auch in Asylstreitigkeiten das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur der Wahrscheinlichkeit – des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Sachvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann (BVerwG, B. v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – juris Rn.3). Das Tatsachengericht darf dabei berücksichtigen, dass die Befragung von Asylbewerbern aus anderen Kulturkreisen mit erheblichen Problemen verbunden ist (vgl. BVerwG, B. v. 21.7.1989, a. a. O. Rn. 4). Der Asylbewerber befindet sich typischerweise in Beweisnot. Er ist als „Zeuge in eigener Sache“ zumeist das einzige Beweismittel. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Wer durch Vortrag eines Verfolgungsschicksals um Asyl nachsucht, ist in der Regel der deutschen Sprache nicht mächtig und deshalb auf die Hilfe eines Sprachmittlers angewiesen, um sich mit seinem Begehren verständlich zu machen. Zudem ist er in aller Regel mit den kulturellen und sozialen Gegebenheiten des Aufnahmelands, mit Behördenzuständigkeiten und Verfahrensabläufen sowie mit den sonstigen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, auf die er nunmehr achten soll, nicht vertraut. Es kommt hinzu, dass Asylbewerber, die alsbald nach ihrer Ankunft angehört werden, etwaige physische und psychische Auswirkungen einer Verfolgung und Flucht möglicherweise noch nicht überwunden haben, und dies ihre Fähigkeit zu einer überzeugenden Schilderung ihres Fluchtgrunds beeinträchtigen kann (BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 121).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze geht das Gericht von der Glaubwürdigkeit des Klägers aus. So hat der Kläger die Abläufe nachvollziehbar und plausibel – auch unter Nennung von Einzelheiten – geschildert. Dabei ist auch die psychische Verfassung des Klägers zu berücksichtigen, ausgelöst durch das traumatisierende Ereignis der Tötung seiner Freundin. Wesentliche Widersprüche oder Ungereimtheiten lassen sich in seinem Vortrag nicht erkennen. Das Gericht teilt insoweit nicht die Einschätzung des Bundesamts. Zwar hat der Kläger bei der Befragung zur Vorbereitung der Anhörung gemäß § 25 AsylG am 21. März 2012 laut der Niederschrift die Frage, ob er sich an der letzten offiziellen Anschrift in Aserbaidschan bis zur Ausreise aufgehalten habe, bejaht, zuvor hatte er jedoch bei der Befragung durch die Regierung von Mittelfranken – ZRS Nordbayern – am 14. März 2012 bereits angegeben, von Baku aus ausgereist zu sein. Auch die Angabe des Klägers in seiner persönlichen Anhörung, seine Großmutter habe ihm erzählt, dass seine Familie kurdischen Ursprungs sei, stellt keinen Widerspruch zu seiner Angabe dar, er sei aserbaidschanischer Volkszughöriger, da er zugleich erklärt hat, er selbst würde sich als aserbaidschanischen Staatsangehörigen bezeichnen. Auch der Umstand, dass der Kläger einem möglichen Angriff auf ihn selbst entgehen konnte, spricht nicht per se gegen die Glaubhaftigkeit seines Vorbringens. So hat er nachvollziehbar geschildert, dass er sich unmittelbar nach der Tat nach Baku begeben hat, um sich einem befürchteten Zugriff zu entziehen.
Es kann hier dahinstehen, ob im Fall des Klägers ein hinreichender Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i. V. m. § 3b Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 4 AsylG (Religion oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe) vorliegt, da sowohl die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch des subsidiären Schutzes bei Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure voraussetzt, dass der Staat (einschließlich internationaler Organisationen) erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens ist, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten (vgl, § 3c Nr. 3 AsylG, § 4 Abs. 3 AsylG). Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
Von der Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staats ist auszugehen. Insoweit gilt, dass der Schutz vor Verfolgung wirksam sein muss und nicht nur vorübergehender Art sein darf. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat (vgl. § 3d Abs. 2 AsylG). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Gegenteilige Anhaltspunkte sind nicht ersichtlich. Soweit auch das Bundesamt diesbezüglich auf die Erkenntnisse des Lageberichts abgestellt hat, ergibt sich diesbezüglich, dass zuletzt im Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 23. März 2006 (so wortglich mit dem vom Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid in Bezug genommenen Lagebericht vom 28. Januar 2005) folgende Passage enthalten war: „Repressionen Dritter, die der Staat anregt, unterstützt, billigt oder tatenlos hinnimmt kommen, wenn auch inzwischen selten, vor. Der letzte bekannte Fall dieser Art ereignete sich im Frühjahr 2003, als die Büros der Menschenrechtsverteidiger Junus und Zeynalov von einer Menschenmenge gestürmt wurden, ohne dass die Polizei einschritt. Ein weiteres Beispiel ist die Erstürmung der Redaktion der oppositionellen Zeitung Müsavat sowie der Parteizentrale der Mussavat im Februar 2000 durch eine angeblich aus einem Dorf in Nachitschewan stammende aufgebrachte Menge, während die Polizei tatenlos zusah bzw. trotz Vorwarnungen fernblieb“ (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Aserbaidschan vom 23.3.2006 sowie vom 28.1.2005. jeweils unter II.2.). Seitdem wird – wie auch im aktuellen Lagebericht vom 6. April 2016, Stand: Januar 2016 – zu diesem Punkt fortlaufend ausgeführt, dass dem Auswärtigen Amt Repressionen Dritter in neuerer Zeit nicht bekannt geworden sind. Demnach ergeben sich aus der aktuellen Auskunftslage keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es in Aserbaidschan zu Repressionen Dritter kommt, die der Staat anregt, unterstützt, billigt oder tatenlos hinnimmt (vgl. auch VG München, U. v. 19.8.2014 – M 16 K 13.31352 u. a. – juris Rn. 18; U. v. 15.9.2015 – M 16 K 14.30763 – juris Rn. 24; VG Meiningen, U. v. 25.10.2012 – 1 K 20034/10 Me – juris). Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn es um Fälle häuslicher Gewalt geht, was hier jedoch nicht zutrifft (vgl. VG München, U. v. 22.4.2016 – M 16 K 14.30987 – juris Rn. 33). Der Kläger hat zudem selbst angegeben, dass einer der Täter die Tat nach der Tötung der Freundin gegenüber der Polizei gestanden habe. Nicht vorgetragen hat er, dass er erfolglos bei der Polizei um Schutz nachgesucht hätte. Im Übrigen wurde auch im Rahmen des Klagevorbringens die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staats nicht substantiiert in Frage gestellt, sondern nur allgemein auf begrenzte Kapazitäten des Staats und auf eine langsame korruptionsanfällige Justiz hingewiesen.
Unabhängig davon hätte der Kläger auch die Möglichkeit, internen Schutz gemäß § 3e AsylG (auch i. V. m. § 4 Abs. 3 AsylG) in Anspruch zu nehmen (vgl. auch VG München, U. v. 15.9.2015 – M 16 K 14.30763 – juris Rn. 24). Danach wird die Flüchtlingseigenschaft (bzw. auch subsidiärer Schutz) nicht zuerkannt, wenn der Betroffene in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Schutz vor Verfolgung hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. So ist davon auszugehen, dass der Kläger beispielsweise in Baku, mit ca. zwei Millionen Einwohnern, oder in einer der anderen größeren Städte in hinreichender Anonymität leben könnte. Auch wenn jederzeit die Möglichkeit der Bestechung von Behörden bestünde, erscheint es kaum vorstellbar, dass dies landesweit erfolgt. Zudem hat der Kläger sein Herkunftsland bereits seit über vier Jahren verlassen. Gründe, weshalb ihm eine Übersiedlung in andere Landesteile nicht zumutbar sein sollte, sind nicht ersichtlich. Der Kläger selbst hat bei seiner Anhörung insoweit allein angegeben, er fühle sich nirgends sicher, auch nicht in Deutschland.
Der Kläger hat jedoch aufgrund seines Gesundheitszustands einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich seines Herkunftslands unter entsprechender Aufhebung der Regelung in Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids. Einer Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG bedarf es deshalb nicht mehr.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind individuelle Gefahren, also solche Gefahren, die nur dem Ausländer drohen. Wegen seiner Erkrankung droht dem Kläger bei Rückkehr in sein Herkunftsland eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Regelung erfasst nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben (z. B. Reiseunfähigkeit), nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Ein zielstaatbezogenes Abschiebungshindernis kann gegeben sein, wenn die Gefahr besteht, dass sich eine vorhandene Erkrankung aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben führt, d. h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht. Dies kann etwa der Fall sein, wenn sich die Krankheit im Heimatstaat aufgrund unzureichender Behandlungsmöglichkeiten verschlimmert oder wenn der betroffene Ausländer die medizinische Versorgung aus sonstigen Umständen tatsächlich nicht erlangen kann (BVerwG, B. v. 17.8.2011 – 10 B 13/11 u.a – juris; BayVGH, U. v. 3.7.2012 – 13a B 11.30064 – juris Rn. 34). Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustands ist dabei nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden (OVG NRW, B. v. 30.12.2004 – 13 A 1250/04.A – juris Rn. 56). Für die Bestimmung der „Gefahr“ gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d. h. die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (BVerwG, B. v. 2.11.1995 – 9 B 710/94 – juris). Der Abschiebungsschutz aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dient hingegen nicht dazu, eine bestehende Erkrankung optimal zu behandeln oder ihre Heilungschancen zu verbessern. Diese Vorschrift begründet insbesondere keinen Anspruch auf Teilhabe am medizinischen Fortschritt und Standard in der medizinischen Versorgung in Deutschland (vgl. VG Arnsberg, B. v. 23.2.2016 – 5 L 242/16.A – juris Rn. 64 m. w. N.).
Zudem kann sich ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei einer psychischen Erkrankung auch (allein) wegen einer im Herkunftsland zu erwartenden Retraumatisierung aufgrund der Konfrontation mit den Ursachen des Traumas ergeben. In diesem Fall sind an sich im Zielstaat vorhandene Behandlungsmöglichkeiten unerheblich, wenn sie für den Betroffenen aus für ihn in der Erkrankung selbst liegenden Gründen, nämlich wegen der Gefahr der Retraumatisierung, nicht erfolgversprechend sind (vgl. z. B. NdsOVG, U. v.12.9.2007 – 8 LB 210/05 – juris; U. v. 28.6.2011 – 8 LB 221/09 – juris Rn. 37; VGH BW, U. v. 27.4.2016 – A 6 S 916/15 – juris Rn. 42 m. w. N.; VG Gelsenkirchen, U. v. 20.5.2014 – 6a K 238/12.A – juris Rn. 33; VG Köln, U. v. 28.7.2015 – 14 K 4809/12.A – juris Rn. 27).
Mit der ab dem 17. März 2016 geltenden gesetzlichen Regelung hat auch der Gesetzgeber klargestellt, dass eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, vorliegt (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Es wird im Falle einer Erkrankung nicht vorausgesetzt, dass die medizinische Versorgung im Herkunftsland mit der Versorgung in Deutschland gleichwertig ist (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Nach der Gesetzesbegründung könne die geforderte schwerwiegende Erkrankung in „Fällen von PTBS“ regelmäßig nicht angenommen werden. In „Fällen einer PTBS“ sei die Abschiebung regelmäßig möglich, es sei denn, die Abschiebung führe zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung (vgl. BT-Drs. 18/7538 S. 18).
Eine Abschiebung des Klägers nach Aserbaidschan würde für den Kläger zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefährdung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG mit sich bringen. Das Gericht sieht dies durch die Gesamtheit der vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen als belegt an.
Angesichts der Unschärfe des Krankheitsbildes Posttraumatische Belastungsstörung sowie seiner vielfältigen Symptome ist regelmäßig die Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attests erforderlich, aus dem sich nachvollziehbar ergeben muss, auf welcher Grundlage der Arzt zu seiner Diagnose gelangt ist und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen einer PTBS auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (vgl. BVerwG, U. v. 11.9.2007 – 10 C 8.07 – juris Rn. 15). Von erheblicher Bedeutung ist dabei auch eine eingehende Auseinandersetzung mit der Frage, welche traumatisierenden Ereignisse konkret zu der Erkrankung geführt haben – dies unter anderem deshalb, weil sich andernfalls die Gefahr einer Retraumatisierung bei Rückkehr in das Heimatland naturgemäß nicht abschätzen lässt (vgl. VG Gelsenkirchen, U. v. 20.5.2014 – 6a K 238/12.A – juris Rn. 38). Diese Anforderungen sind vorliegend erfüllt.
Der Kläger hat bereits in seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 4. September 2012 geltend gemacht, er sei seit dem Tod der Freundin psychisch krank. Er war bereits zu diesem Zeitpunkt in Deutschland stationär als auch ambulant in Behandlung gewesen. So wurde der Kläger erstmals vom 23. Juli 2012 bis zum 21. August 2012 stationär in einer Fachklinik behandelt. Der Kläger war mit einem paranoiden Syndrom erstmalig stationär aufgenommen worden. Diagnostiziert wurden dort eine „Polymorph-psychotische Störung (ICD10: F23.0)“ sowie eine „Posttraumatische Belastungsstörung (ICD10: F43.1)“. Wie sich aus einem weiteren fachärztlichen Attest des Klinikarztes vom 12. Juni 2014 ergibt, befand sich der Kläger dort weiterhin in ambulanter Behandlung. Die Medikation wurde beschrieben. Der erforderliche Therapieplatz (ambulante Psychotherapie) konnte wegen der bestehenden Verständigungsschwierigkeiten noch nicht gefunden werden. Es sei aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht dringend erforderlich, dass die Therapie bei einem türkisch sprechenden Therapeuten erfolge. Diagnostiziert wurden eine „Posttraumatische Belastungsstörung (ICD10: F43.1)“ sowie eine „wohl anhaltende wahnhafte Störung (ICD10: F22.0)“. Auf die Ereignisse, die zur der Traumatisierung geführt haben, wurde konkret eingegangen. Weiterhin wurde festgestellt, dass aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht davon auszugehen sei, dass sich die gesundheitliche Situation des Klägers im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsland deutlich verschlechtern würde. Nachdem der Kläger schon hier unter anhaltenden Ängsten leide, die Familie der verstorbenen Freundin könne ihn hier aufspüren, würden die Ängste bei einer Rückkehr an Intensität zunehmen. Es müsse befürchtet werden, dass der Kläger in seiner Not einen Suizidversuch verüben könnte. Vom 24. Juli 2014 bis zum 14. August 2014 musste der Kläger – im zeitlichen Zusammenhang mit dem Bescheiderlass – erneut stationär-psychiatrisch in der Fachklinik behandelt werden. Hierzu liegt eine ausführliche Stellungnahme der Klinik vom 27. Juli 2014 vor. Diagnostiziert wurden dort eine „Schwere depressive Episode (ICD10: F32.2)“, „vordiagnostiziert polymorph-psychotische Störung (ICD10: F23.0)“, „vordiagnostiziert posttraumatische Belastungsstörung (ICD10: F43.1)“, „Alkohol Missbrauch (ICD10: F 10.1)“ und „Alkohol Intoxikation (ICD10: F 10.0)“. Die Aufnahme war notfallmäßig im Rahmen einer schweren depressiven Episode mit akuter Suizidalität erfolgt. Die erhobenen Befunde, Anamnesen und Untersuchungen sowie die erfolgte Therapie und deren Verlauf wurden beschrieben. Ein weiterer stationärer Aufenthalt des Klägers in der Fachklinik erfolgte vom 3. September 2015 bis zum 29. September 2015 – im zeitlichen Zusammenhang mit der Ladung des Gerichts zur mündlichen Verhandlung vom 18. August 2015. Hierzu liegt ein Arztbrief der Klinik vom 29. September 2015 vor. Grund war eine zunehmende Verschlechterung der depressiven Symptomatik mit selbst- und fremdgefährlichen Gedanken. Der Kläger litt an Schlafstörungen, Alpträumen, Ängsten sowie regelmäßigen akustischen Halluzinationen. Diagnostiziert wurden eine „Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (ICD10: F33.2)“, „Posttraumatische Belastungsstörung (ICD10: F 43.1)“, „Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol – schädlicher Gebrauch, zur Zeit abstinent (ICD10:F10.1)“. Die erhobenen Befunde, Anamnesen und Untersuchungen sowie die erfolgte Therapie und deren Verlauf wurden beschrieben. Seit Oktober 2015 ist der der Kläger bei einer (auch türkischsprachigen) Fachärztin in Behandlung. Nach dem letzten fachärztlichen Attest vom 26. Februar 2016 ist der Kläger nach Beurteilung der behandelnden Fachärztin weiterhin schwer krank und behandlungsbedürftig. Er müsse noch mindestens sechs bis zwölf Monate in Therapie kommen. Eine Rückführung in sein Herkunftsland würde seine Erkrankung gleich nach der Ankunft dort wesentlich verschlechtern. Es sei mit schweren psychischen Beeinträchtigungen zu rechnen. Die Gegebenheiten im Herkunftsland würden den Kläger retraumatisieren.
Das Gericht ist daher aufgrund der nachvollziehbaren fachärztlichen Stellungnahmen davon überzeugt, dass dem Kläger eine im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante wesentliche Verschlimmerung seiner Erkrankung droht, wenn er gezwungen wäre, nach Aserbaidschan zurückzukehren. Er leidet nach der letzten Diagnose der Fachärztin weiterhin unter einer „Posttraumatische Belastungsstörung“ sowie einer „Rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig schwergradigen depressiven Episode derzeit ohne psychotische Symptomen (ICD10: F33.2)“. An der Sachkunde der beteiligten Fachärzte bestehen keine Zweifel. Angesichts der zahlreichen vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen war eine weitere Sachaufklärung von Seiten des Gerichts daher nicht erforderlich.
Nach dem letzten ärztlichen Bericht ist der Kläger auch weiterhin dringend behandlungsbedürftig. Nach Auffassung der Fachärztin würden bei einer Abschiebung des Klägers nach Aserbaidschan die dortigen Gegebenheiten den Kläger retraumatisieren. Die erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustands würde demnach im Fall des Klägers nicht nur im Hinblick auf den Abbruch der Therapie in Deutschland und den Abschiebevorgang eintreten, sondern auch im Hinblick auf die Verhältnisse in Aserbaidschan, die der Kläger dort bei einer Rückkehr vorfinden würde. Damit liegt jedenfalls auch ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot vor. Nicht mehr entscheidungserheblich und demnach auch nicht weiter aufzuklären ist daher auch die Frage, ob die Behandlungsmöglichkeiten für den Kläger in Aserbaidschan zureichend wären und ob er solche auch tatsächlich erlangen könnte.
Der streitgegenständlichen Bescheid war daher in Nr. 4 insoweit aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschans vorliegen.
Infolge des Abschiebungsverbots war auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des streitgegenständlichen Bescheids aufzuheben, da im Umkehrschluss zu § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG eine Abschiebungsandrohung unzulässig ist, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen und kein atypischer Fall gegeben ist (BayVGH, U. v. 23.11.2012 – 13a B 12.30061 – juris). Nr. 5 des streitgegenständlichen Bescheids ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VWGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.