Verwaltungsrecht

Feststellung eines Abschiebungsverbots für Afghanen im Heranwachsenenalter wegen psychischer Erkrankung

Aktenzeichen  M 18 K 17.30329

Datum:
19.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 25704
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 7
AsylVfG § 3, § 4

 

Leitsatz

1 Eine erhebliche konkrete Gefahr iSv § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG liegt nur bei einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung vor, die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Leidet ein junger afghanischer Asylbewerber an einer inzwischen abgeklungenen schweren PTBS sowie an einer fortbestehenden psychischen Störung mit Ängsten und Depressionen, liegt eine schwerwiegende Erkrankung vor. (Rn. 19 – 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Die Annahme, das Erreichen des Mittelschulabschlusses und die Absolvierung einer Ausbildung stehe dem Bestehen einer schwerwiegenden Erkrankung entgegen, geht dann fehl, wenn der Betroffene jahrelang intensiv medizinisch und sozialpädagogisch behandelt worden ist und ihm erst diese Behandlung die Durchführung seiner Ausbildung ermöglicht hat. (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Eine wesentliche Verschlechterung einer schwerwiegenden Erkrankung iSv § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG ist nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustands anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden. (Rn. 21) (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Eine konkrete Gefahr iSv § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG setzt voraus, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Herkunftsland eintreten wird, weil er auf die dort unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seiner Leiden angewiesen wäre und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte. (Rn. 21) (red. LS Clemens Kurzidem)
5 Eine regelmäßig erforderliche psychotherapeutische Behandlung kann nach aktuellem Erkenntnisstand in Afghanistan schon aufgrund von Kapazitätsproblemen im Gesundheitssystem und der gesellschaftlichen Einstellung zu psychischen Erkrankungen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht durchgeführt werden. (Rn. 23) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom … … … wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
III. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger ¾, die Beklagte ¼.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Eine Entscheidung konnte trotz Ausbleibens der Beklagten nach Maßgabe des § 102 Abs. 2 VwGO getroffen werden.
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, ist das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO.
Bezüglich des Antrags auf Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass für den Kläger hinsichtlich Afghanistans ein Abschiebungsverbot vorliegt, ist die Klage begründet. Ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG steht dem Kläger zu. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll festgestellt werden, wenn im Zielstaat für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Bei Erkrankungen liegt eine erhebliche konkrete Gefahr nach Maßgabe des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden.
Nach Überzeugung des Gerichts hat der Kläger substantiiert vorgetragen auch derzeit noch an schwerwiegenden psychischen Problemen zu leiden. Laut den Angaben in den fachärztlichen Stellungnahmen, die im Laufe des Klageverfahrens vorgelegt wurden, insbesondere der aktuellsten Stellungnahme vom 13. September 2018, leidet der Kläger weiterhin an einer Störung mit Ängsten und Depressionen (ICD 10: F 41.2) bei vorausgehendem und inzwischen abgeklungenem starkem PTBS. Die Störung äußert sich insbesondere durch ausgeprägte Selbstzweifel und Versagensängste. Die schon früher bestehenden Schlafstörungen haben sich kurz vor der Abschlussprüfung der Ausbildung im Juli 2018 verstärkt. Seine Konzentrationsfähigkeit ist reduziert und des Weiteren zeigt der Kläger eine nochmals erhöhte Steuerbarkeit durch Geräusche. Ein längerfristiges tranceartiges Wegdriften ist nur durch Kontaktherstellung jeweils vermieden worden. Bei der sozialen Interaktion ist der Kläger noch vulnerabel. Aufgrund des Übergangs in den Arbeitsmarkt gerät der Kläger schnell in Zukunftsängste, die er nicht alleine überwinden kann, sondern nur mit stabilisierenden Hilfen in der Behandlung.
Die beschriebene Erkrankung des Klägers ist nach Einschätzung des Gerichts auch als schwerwiegend anzusehen, was sich – neben den Angaben in den fachärztlichen Stellungnahmen – zum einen daraus ergibt, dass der Kläger unmittelbar nach seiner Einreise bereits psychiatrische Hilfe in Anspruch nahm und diese seit mittlerweile viereinhalb Jahren ununterbrochen durchführt. Aufgrund der ursprünglichen Diagnose eines sehr ausgeprägten PTBS in den fachärztlichen Stellungnahmen ist die lange Behandlungsdauer verständlich und nachvollziehbar. Der Kläger kooperierte bei der Behandlung vollumfänglich, sodass die lange Behandlungsdauer tatsächlich auf eine bestehende Schwere der Erkrankung hinweist. Ein weiterer Hinweis auf die Schwere der Erkrankung stellt die Aufnahme und fast drei Jahre andauernde Betreuung des Klägers in einer therapeutischen Wohngruppe dar. Gerichtskundig ist angesichts der Tatsache, dass die Kammer für Kinder- und Jugendhilferecht zuständig ist, dass Plätze in therapeutischen Wohneinrichtungen im Bereich von M. wegen starker Kapazitätsauslastung nur besonders schutzbedürftigen, psychisch schwer erkrankten Jugendlichen zur Verfügung standen. Insbesondere ist aufgrund der oben beschriebenen Kapazitätsauslastung, die durch den massiven Anstieg der Ankunftszahlen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen seit 2014 in M. entstanden sind, der Umzug des Klägers in eine ambulante Einrichtung kein zwingendes Anzeichen dafür, dass sich der Unterstützungsbedarf und die Gesundheit des Klägers derart verbessert haben, dass eine schwerwiegende Erkrankung verneint werden könne. Auch das Argument, der Kläger habe den Mittelschulabschluss und die Ausbildung geschafft und könne deshalb nicht schwerwiegend erkrankt sein, geht angesichts der ausführlich in den fachärztlichen Stellungnahmen und im Rahmen der mündlichen Verhandlung dargelegten, jahrelangen intensiven medizinischen und sozialpädagogischen Maßnahmen fehl.
Eine konkrete, erhebliche Gefahr für das Leben bzw. den Leib des Klägers ist bei Abschiebung nach Afghanistan aufgrund der schwerwiegenden Erkrankung zu erwarten. Für die Bestimmung der „Gefahr“ gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (BVerwG, B.v. 2.11.1995 – 9 B 710/94 – juris). Eine Gefahr ist „erheblich“, wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das wäre der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Eine wesentliche Verschlechterung ist nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Herkunftsland eintreten wird, weil er auf die dort unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seiner Leiden angewiesen wäre und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (vgl. BVerwG, U.v. 29.7.1999 – 9 C 2/99 – juris Rn. 8).
Die Gefahr einer eintretenden erheblichen Gesundheits- bzw. Lebensgefahr ist im Fall des Klägers bei Rückführung nach Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit konkret zu erwarten. Nach der Einschätzung des Facharztes Dr. G. würde eine Unterbrechung der aktuell stattfindenden Behandlung zu einer psychischen Dekompensierung bis hin zur Suizidgefährdung beim Kläger führen. Die psychische und körperliche Gesundheit des Klägers würde nach Einschätzung des Facharztes gravierend und dauerhaft geschädigt werden. Eine Rückführung nach Afghanistan im Sinne einer Abschiebung würde eine solche psychische Destabilisierung und Dekompensierung sowie auch eine lebensbedrohliche Verschlechterung mit Suizidalität mit einem hohen Maß an Wahrscheinlichkeit hervorrufen. Aus den fachärztlichen Stellungnahmen geht hervor, dass der Kläger aufgrund seiner Erkrankung auf unsichere Rahmenbedingungen mit extremen Zukunftsängsten und fehlender praktischer Handlungsfähigkeit reagiert. Diese Folge tritt bereits bei wenig gravierenden Änderungen trotz bleibender sozialer Kontakte und intensiver sozialpädagogische und medizinische Betreuung auf (Abschlussprüfungen, Umzug, Eintritt ins Berufsleben). Bei einer Rückführung nach Afghanistan ist daher mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer massiven Krise des Klägers auszugehen. Der Kläger hat weder ein familiäres noch ein sonstiges Netzwerk in Afghanistan, war seit seinem fünften Lebensjahr dort nicht mehr und kann mit dem von ihm erlernten Ausbildungsberuf in Afghanistan keine Arbeitsstelle finden. Das soziale und das betreuende sozialpädagogische und medizinische Netzwerk des Klägers würde komplett entfallen.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan ist nicht gesichert, dass es dem Kläger möglich sein wird, seine Medikamente für den täglichen Bedarf und einen Therapieplatz zu besorgen bzw. zu bezahlen. Angesichts der Mengen an Binnenvertriebenen und Rückkehrern und der dadurch erfolgten aktuellen Überlastung der städtischen Infrastruktur, des Gesundheitssektors und Arbeitsmarktes scheint es mehr als unsicher, ob es dem Kläger gelingen wird, die finanziellen Mittel für die Medikamente aufzubringen und sich diese in ausreichenden Mengen verfügbar zu machen (UNHCR-Richtlinie vom 30. August 2018, S. 16f). Die psychotherapeutische Behandlung bei S.-G., die seit 2014 regelmäßig stattfindet, kann nach der aktuellen Erkenntnismittel Lage in Afghanistan schon aufgrund Kapazitätsprobleme im Gesundheitssystem und der gesellschaftlichen Einstellung zu psychischen Problemen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht fortgeführt werden (siehe EASO COI Afghanistan, Key Socioeconomic indicators, state protection and mobility in Kabul City, Mazar-e-Sharif and Herat City, S. 51f, (53)). In Afghanistan sind psychotherapeutische Behandlungen nur in sehr wenigen Krankenhäusern verfügbar und von sehr hohen Kosten begleitet. So gibt es für alle Bewohner Afghanistans lediglich eine spezialisierte Klinik, drei Psychiater und zehn Psychologen (siehe EASO COI Afghanistan, Key Socioeconomic indicators, state protection and mobility in Kabul City, Mazar-e-Sharif and Herat City, August 2017, S. 53f). Der Kläger hat kein familiäres Netzwerk in Afghanistan und kennt dort wegen seiner Geburt und seines bis zur Ausreise lebenslangen Aufenthalts im Iran niemanden, sodass angesichts der allgemeinen wirtschaftlichen und humanitären Lage in Afghanistan davon auszugehen ist, dass der kranke Kläger, der im Falle seiner Rückkehr in eine akute Krise fallen würde, die finanziellen Mittel für eine adäquate Behandlung – sofern eine solche überhaupt verfügbar ist – nicht aufbringen können wird.
Da dem Kläger bei Abschiebung nach Afghanistan eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und/oder Leben aufgrund seiner schwerwiegenden, sich mit hoher Wahrscheinlichkeit bei Rückkehr erheblich verschlechternden Erkrankung droht, ist der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes in den Ziffern 4 bis 6 aufzuheben und dem Kläger Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
Die Kostenfolge ergibt sich für die Klagerücknahme bezüglich der §§ 3 und 4 AsylG aus § 155 Abs. 2 VwGO und wegen des Obsiegens des Klägers bezüglich des aufrechterhaltenen Klageantrages aus § 154 Abs. 1 VwGO. Aus der Gewichtung der Klageanträge ergibt sich die Kostenverteilung von drei Viertel zu Lasten des Klägers und einem Viertel zu Lasten der Beklagten. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei nach § 83b AsylG.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708, 711 ZPO.

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