Verwaltungsrecht

Anspruch auf Erteilung einer Duldung

Aktenzeichen  10 CE 18.1335

Datum:
16.8.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 19962
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
GG Art. 6 Abs. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG schützt zwar primär den rechtlichen Vater; jedoch bildet auch der nur biologische (leibliche) Vater mit seinem Kind eine von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familie, wenn zwischen ihm und dem Kind eine sozial-familiäre Bindung im Sinne einer familiären Gemeinschaft oder jedenfalls einer persönlichen Verbundenheit, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohle angewiesen ist, besteht. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 25 E 18.1977 2018-06-20 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Unter Abänderung von Nr. I. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 20. Juni 2018 wird die Antragsgegnerin verpflichtet, dem Antragsteller bis zu ihrer Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eine Duldung zu erteilen.
Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragstellers zurückgewiesen.
II. Die Beschwerde der Antragsgegnerin wird zurückgewiesen.
III. Unter Abänderung von Nr. II. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 20. Juni 2018 tragen der Antragsteller und die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen je zur Hälfte.
IV. Unter Abänderung von Nr. III. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 20. Juni 2018 wird der Streitwert in beiden Rechtszügen auf jeweils 1.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller, ein vietnamesischer Staatsangehöriger, begehrt die Erteilung einer Duldung im Hinblick auf die familiäre Bindung zu seinem 2009 geborenen Sohn, für den seine biologische Vaterschaft feststeht, dessen rechtlicher Vater er aber nicht ist.
Mit Bescheid vom 4. Oktober 2011, der seit 14. März 2012 bestandskräftig ist, wurde der Antragsteller ausgewiesen; nach Ablauf der gewährten Ausreisefrist hielt er sich unerlaubt im Bundesgebiet auf. Am 12. Juni 2018 wurde er festgenommen und kam in Untersuchungshaft. Nach Mitteilung seiner Bevollmächtigten vom 13. August 2018 wurde er mittlerweile wieder entlassen.
Mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 21. März 2018 beantragte er die Verkürzung der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf den Zeitpunkt der Antragstellung sowie die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, hilfsweise einer Duldung. Es bestehe eine sozial-familiäre Beziehung zu seinem 2009 geborenen Sohn. Die biologische Vaterschaft sei durch ein Abstammungsgutachten nachgewiesen, rechtlicher Vater sei aber ein anderer Mann. Maßgeblich sei jedoch das Kindeswohl, eine Trennung von Vater und Kind sei nicht zumutbar.
Am 24. April 2018 beantragte er beim Verwaltungsgericht, im Wege einer einstweiligen Anordnung die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm eine Duldung auszustellen, hilfsweise die Antragsgegnerin anzuweisen, bis zur Entscheidung über die gestellten Anträge auf Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 20. Juni 2018 verpflichtete das Verwaltungsgericht die Antragsgegnerin, bis zur Entscheidung über die beantragte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots von weiteren aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen, und lehnte den Antrag im Übrigen ab. Der Hauptantrag sei unbegründet, da ein Anordnungsanspruch im Sinne eines rechtlichen Hindernisses im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, welches der Abschiebung des Antragstellers entgegenstehe, nicht glaubhaft gemacht sei. Das tatsächliche Bestehen einer sozial-familiären Beziehung zwischen dem Antragsteller und dem Kind sei nicht ausreichend glaubhaft gemacht, die vorgelegten Unterlagen zu wenig aussagekräftig. Der Hilfsantrag sei teilweise begründet; die Ausländerbehörde sei verpflichtet, zu überprüfen, ob die zuletzt festgesetzte Dauer der Frist aktuell noch gerechtfertigt sei; bis zur Entscheidung hierüber sei von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen.
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller seine erstinstanzlich gestellten Anträge weiter; das Verwaltungsgericht habe rechtsfehlerhaft verneint, dass eine sozial-familiäre Beziehung zu seinem Sohn in hinreichender Weise glaubhaft gemacht worden sei.
Die Antragsgegnerin beantragt ihrerseits, den Beschluss des Verwaltungsgerichts aufzuheben, soweit sie verpflichtet worden ist, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen.
II.
Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und teilweise begründet. Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist unbegründet.
1. Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig. Im Gegensatz zur Meinung der Antragsgegnerin fehlt ihm nicht wegen unbekannten Aufenthalts bzw. fehlender ladungsfähiger Anschrift das Rechtsschutzbedürfnis. Der Antragsteller befand sich seit 12. Juni 2018 bis vor kurzem in Untersuchungshaft und war damit sowohl für die Antragsgegnerin wie auch für das Gericht ohne weiteres erreichbar (vgl. BayVGH, B.v. 26.1.2016 – 10 CE 15.2640 – juris Rn. 20 f.; BayVGH, B.v. 7.12.2017 – 10 CE 17232 – juris Rn. 6 ff.; jew. m.w.N.). Derzeit gibt es keine Hinweise darauf, dass er sich nach seiner Haftentlassung nicht unter seiner Wohnanschrift aufhalten wird.
2. Die Beschwerde ist auch teilweise begründet. Dem Antragsteller ist eine Duldung bis zur Entscheidung der Antragsgegnerin über den von ihm gestellten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – und nicht nur bis zur Entscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots – zu erteilen.
Das Verwaltungsgericht geht zu Recht davon aus, dass Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zwar primär den rechtlichen Vater schützt, dass jedoch auch der (nur) biologische (leibliche) Vater mit seinem Kind eine von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Familie bildet, wenn zwischen ihm und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht (BVerfG, B.v. 9.4.2003 – 1 BvR 1493/96, 1 BvR 1724/01 – juris). Hierfür ist durch eine differenzierte Bewertung des Einzelfalls zu prüfen, ob eine familiäre Gemeinschaft oder jedenfalls eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (BayVGH, U.v. 26.9.2016 – 10 B 13.1318 – juris Rn. 32).
Anders als das Verwaltungsgericht ist der Senat jedoch der Meinung, dass der Antragsteller in einem für das Verfahren nach § 123 VwGO hinreichendem Maß dargelegt hat, dass zwischen ihm und seinem Sohn eine derartige sozial-familiäre Beziehung besteht, so dass es zumindest nicht ausgeschlossen erscheint, dass seine Abschiebung im Hinblick darauf rechtswidrig sein könnte. Dies ergibt sich aus der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung der Kindsmutter und aus den schriftlichen Äußerungen des Kinderarztes, des Kindergartens, des Tagesheims und der Klassenlehrerin des Kindes. Es trifft zwar zu, dass die Angaben teilweise, insbesondere in zeitlicher Hinsicht, wenig konkret sind, in der Zusammenschau ergeben sie jedoch zusammen mit den eigenen Ausführungen des Antragstellers ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller jedenfalls über längere Zeit eine enge Beziehung zu seinem Sohn hatte und dass diese auch nach außen zutage getreten ist. Die Angaben sind so weit substantiiert, dass sie Anlass zu weiteren Ermittlungen geben, um das familiäre Verhältnis des Antragstellers zu seinem Sohn (und im Übrigen auch zu dessen Mutter) weiter aufzuklären, um festzustellen, in welchem Ausmaß das Kindeswohl durch eine Abschiebung des Antragstellers berührt wäre und wie den Anforderungen des Art. 6 GG einerseits und den öffentlichen Interessen andererseits Rechnung getragen werden kann. Insoweit bietet sich insbesondere eine persönliche Anhörung der Kindesmutter und eine sachverständige Äußerung des zuständigen Jugendamtes an. Nach Aufklärung der familiären und sozialen Bindungen wird die Antragsgegnerin über den weiteren Aufenthalt des Antragstellers zu entscheiden haben; hier sind zu seinen Lasten die Ausweisungsinteressen, die er durch seinen langjährigen unerlaubten Aufenthalt (erneut) verwirklicht hat, in die Entscheidung einzustellen, ebenso ist dabei zu prüfen, ob aufgrund der aktuellen Situation die Befristung des bestehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots wie beantragt zu verkürzen ist.
Der Senat hält es gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO für erforderlich, die Antragsgegnerin zur Erteilung einer Duldung für den Antragsteller zu verpflichten, bis über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entschieden ist, um einstweilen einen möglichen Anspruch auf die Fortsetzung seiner sozial-familiären Beziehung zu seinem Sohn – vor allem im Hinblick auf das Kindeswohl – zu sichern. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts war daher entsprechend abzuändern.
Der weiter reichende Antrag des Antragstellers, nämlich ihm eine Duldung ohne zeitliche Begrenzung zu erteilen, ist jedoch unbegründet. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bedarf es einer Sicherung eines möglichen Anspruchs vor einer Aufenthaltsbeendigung nur bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde. Insoweit war die Beschwerde daher zurückzuweisen.
3. Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist unbegründet. Wie dargelegt, hat der Antragsteller einen Anspruch auf eine Duldung bis zur Entscheidung der Antragsgegnerin über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (einschließlich der Entscheidung über die Verkürzung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots). Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, die eine Duldung nur bis zur Entscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zugesprochen hat, bleibt dahinter zurück. Die Beschwerde der Antragsgegnerin muss damit erfolglos bleiben.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. In Anbetracht des jeweiligen Obsiegens bzw. Unterliegens der Beteiligten sieht der Senat eine hälftige Kostenteilung als angemessen an.
5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und § 52 Abs. 1 GKG sowie dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Zwar wird gemäß § 45 Abs. 1 Satz 2 GKG grundsätzlich ein Hilfsanspruch mit dem Hauptanspruch zusammengerechnet, soweit eine Entscheidung über ihn ergeht. Betreffen jedoch Haupt- und Hilfsanspruch denselben Gegenstand, ist gemäß § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG der Wert des höheren Anspruchs maßgebend. Letzteres ist hier der Fall. Denn gemäß der Legaldefinition in der Überschrift des § 60a AufenthG ist eine Duldung nichts anderes als die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung, worüber dem Ausländer eine Bescheinigung auszustellen ist (§ 60a Abs. 4 AufenthG). Daher betrafen der Hauptantrag („eine Duldung auszustellen“) und der Hilfsantrag („von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen“) denselben Gegenstand und unterschieden sich lediglich in der beantragten Dauer der Duldung.
Der Streitwertbeschluss des Verwaltungsgerichts war daher gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG entsprechend abzuändern.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen