Aktenzeichen M 9 K 18.1526
BGB § 242
Leitsatz
1. Eine Gabionenwand verstößt in dem Bereich, der höher als 2 m errichtet wurde, gegen die nachbarschützenden Regelungen in Art. 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 4 S. 1, Abs. 5 S. 1 BayBO; auf eine „mittlere Höhe“ der gesamten Mauer darf nicht abgestellt werden. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Carport bzw. der Anbau an die Garage stellen Gebäude iSd Art. 2 Abs. 2 BayBO dar. Das die Überdeckung aus Photovoltaikpaneelen besteht, ändert nichts an der Gebäudequalität. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2. zu tragen. Die Beigeladene zu 1. trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kostenschuldnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Verpflichtung des Beklagten, die begehrte (Teil-) Beseitigungsanordnung zu erlassen, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Dies gilt unabhängig davon, dass der Tatbestand von Art. 76 Satz 1 BayBO erfüllt ist: Die Gabionenwand als Anlage in diesem Sinne ist – den nicht drittschützenden Charakter der Verfahrensvorschriften außen vor gelassen – formell illegal, da sie ohne die erforderliche Befreiung errichtet wurde. Der Fall einer Überschreitung der mittels Befreiung festgelegten Maße ist dem Fall einer gänzlich fehlenden Befreiung insoweit gleichzustellen (vgl. BayVGH, U.v. 1.7.2005 – 25 B 01.2747 – juris; a.A. Simon/Busse, BayBO, Stand: 128. EL Dezember 2017, Art. 75 Rn. 39). Die i.S.v. Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 BayBO „geschlossene“ Gabionenwand in dieser Form verstößt im Bereich der Elemente, die höher als 2 m errichtet wurden, auch gegen die nachbarschützenden Regelungen in Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 BayBO, auf eine „mittlere Höhe“ der gesamten Mauer darf nicht abgestellt werden (Simon/Busse, BayBO, Stand: 128. EL Dezember 2017, Art. 6 Rn. 599).
Wie das Gericht aber – mit Bezug auf die ständige Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs – wiederholt entschieden hat, ist das Vorliegen des Tatbestands der Befugnisnorm (im Fall der Nachbarklage: Verstoß gegen drittschützende Vorschrift) zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für einen Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten (vgl. nur VG München, U.v. 12.7.2017 – M 9 K 16.3039 – juris; U.v. 6.7.2016 – M 9 K 15.1939 – juris, jeweils m.w.N.): Die Verletzung in nachbarschützenden Rechten ist nur eine erste Voraussetzung dafür, als Nachbar die Verpflichtung der Bauaufsichtsbehörde erzwingen zu können, gegen eine Anlage einzuschreiten (statt aller BayVGH, B.v. 25.9.2013 – 14 ZB 12.2033 – juris). Eine Ermessensreduzierung auf Null und damit ein Rechtsanspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten ist nur dann gegeben, wenn zum Verstoß gegen eine drittschützende Vorschrift besonders qualifizierte Beeinträchtigungen der nachbarlichen Rechtsstellung treten, namentlich, wenn eine unmittelbare, auf andere Weise nicht zu beseitigende Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie Leben oder Gesundheit droht oder sonstige unzumutbare Belästigungen abzuwehren sind und die Abwägung der Beeinträchtigung des Nachbarn mit dem Schaden des Bauherrn ein deutliches Überwiegen der Interessen des Nachbarn ergibt (statt aller BayVGH, B.v. 20.4.2010 – 9 ZB 08.319 – juris; B.v. 18.6.2008 – 9 ZB 07.497 – juris; VG München, U.v. 25.3.2015 – M 9 K 14.3343 – juris).
Vorliegend ist eine derartige besonders qualifizierte Beeinträchtigung der Klägerrechte nicht ansatzweise erkennbar. An der gemeinsamen Grundstücksgrenze befinden sich auf der Klägerseite im Bereich der Elemente, die 2,00 m überschreiten, eine Garage und ein Carport mit höheren Abmessungen. Eine Beeinträchtigung der Schutzzwecke des Abstandsflächenrechts ist somit nicht ersichtlich (vgl. auch BayVGH, B.v. 18.6.2008 – 9 ZB 07.497 – juris Rn. 5f., VG München, U.v. 13.10.2015 – M 1 K 15.2563 – juris Rn. 22). Der geltend gemachte Anspruch scheitert bereits hier.
Unabhängig davon und selbständig tragend kann die Klägerin eine (Teil-) Beseitigung auch deswegen nicht verlangen, weil ein wechselseitiger Abstandsflächenverstoß gegeben ist. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben, § 242 BGB, kann ein Nachbar einen Abstandsflächenverstoß nicht rügen (wobei die genaue systematische Einordnung des Grundsatzes von Treu und Glauben in das bauordnungsrechtliche Prüfprogramm unerheblich ist, vgl. BayVGH, B.v. 1.9.2016 – 2 ZB 14.2605 – juris), wenn er selbst Art. 6 BayBO verletzt, wenn die beidseitigen Abweichungen etwa gleichwertig sind und wenn das Bauvorhaben nicht zu – gemessen am Schutzzweck der Vorschrift – schlechthin untragbaren, als Missstand (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 BayBO) zu qualifizierenden Verhältnissen führt (vgl. BayVGH, a.a.O.).
Vorliegend wurde jeweils gegen Art. 6 BayBO verstoßen, die Verstöße sind in etwa gleichwertig – bzw. der klägerische Verstoß ist sogar massiver, da die Mauer nach Feststellungen des Landratsamtes und des Gerichts im Augenschein nur am angebauten Carport eine Höhe von 2,40 m erreicht und dann schnell auf 1,80 m abstuft (vgl. Bl. 24 d. BA und Niederschrift über den Augenschein), wohingegen der Carport ca. 2,80 m hoch ist. Es ist auch kein schlechthin untragbarer, als Missstand zu qualifizierender Zustand gegeben; eine Gefängnishofatmosphäre o.Ä. kommt bei einer Mauer, die weit überwiegend hinter den bauordnungsrechtlich gesetzlich zugelassenen 2,00 m zurückbleibt und nur im Bereich eines grenzständigen Anbaus höher auskragt, nicht in Betracht.
Dass der Carport bzw. der Anbau an die Garage – wie der Bevollmächtigte vorträgt – kein Gebäude im Sinne von Art. 2 Abs. 2 BayBO sei, sondern nur „Träger“ der Solaranlagen und damit abstandsflächenrechtlich „neutral“, ist nicht nachvollziehbar. Gebäude sind nach Art. 2 Abs. 2 BayBO selbständig benutzbare, überdeckte bauliche Anlagen, die von Menschen betreten werden können; wie die Überdeckung beschaffen sein muss, ist nicht vorgegeben, sie kann also auch aus Photovoltaikpaneelen bestehen (vgl. z.B. BayVGH, U.v. 16.7.1992 – 2 B 91.737 – BeckRS 1992, 10688 zur Gebäudequalität eines reinen Vordaches: „Das Vordach stellt ein Gebäude im Sinne von Art. 2 Abs. 2 BayBO und damit eine bauliche Anlage nach Art. 2 Abs. 1 BayBO dar, weil es eine bestimmte Bodenfläche ständig vor Witterungseinflüssen schützt und auch von Menschen betreten werden kann“). Weiter zeigt Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 BayBO gerade, dass Solaranlagen nur dann privilegiert sind, wenn sie „gebäudeunabhängig“ sind (dazu Molodovsky u.a., BayBO, Stand: 37. Update 11/17, Art. 6 Rn. 283; vgl. auch Art. 57 Abs. 1 Nr. 3 lit. a sublit. aa BayBO und Dirnberger, Das Abstandsflächenrecht in Bayern, 3. Auflage 2015, Rn. 305).
Dazu schließlich, dass der Beseitigungsanordnung vom 27. Oktober 2014 (Bl. 14ff. d. Gerichtsakts im Verfahren M 9 K 14.5052) nicht nachgekommen wurde, wird auf die zutreffenden Ausführungen des Landratsamtes verwiesen. Diesbezüglich laufen gegenwärtig Vollstreckungsverfahren wegen Nichterfüllung der Verpflichtungen (vgl. Bl. 403f. d. BA „Anfragen/Beschwerden/Sonstiges“, Az. 7.1.1 – 0080/12/BK).
Auch ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme, § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO, ist nicht erkennbar.
Ein zwar nicht ausdrücklich geltend gemachter, aber im Vornahmeantrag als „Minus“ stets enthaltener Anspruch auf (erstmalige) Verbescheidung besteht nicht. Ihm fehlte es bereits am Rechtsschutzbedürfnis, da das Gericht entsprechend seiner Verpflichtung, den Antrag selbst spruchreif zu machen und grundsätzlich selbst abschließend zu entscheiden, ob der behauptete Anspruch in der Sache besteht, bereits alle Aspekte geprüft hat (Eyermann, 14. Aufl. 2014, VwGO § 75 Rn. 3; vgl. auch Wittmann: Die verwaltungsgerichtliche Untätigkeitsklage in der gerichtlichen Praxis, JuS 2017, 842). Zudem hat der Beklagte den Klägerbevollmächtigten vor Erhebung der Klage telefonisch über den eigenen Rechtsstandpunkt in Kenntnis gesetzt, einen Aktenvermerk darüber gefertigt und sich zudem in der Klageerwiderung zu allen Punkten verhalten; ein völliges Schweigen der Behörde liegt also gerade nicht vor.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, Abs. 3 VwGO, § 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1. – die Anwohnergemeinschaft stellt eine Gesellschaft des bürgerlichen Rechts dar, §§ 705ff. BGB – der Klägerin aufzuerlegen hätte nicht der Billigkeit entsprochen, da sich die Beigeladene nicht mittels Antragstellung in ein Kostenrisiko begeben hat. Die Beigeladene zu 2. hat demgegenüber einen Antrag gestellt. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit fußt auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708f. ZPO.