Aktenzeichen 10 ZB 17.1739
Leitsatz
1 Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen, bei der die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2 Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (BayVGH BeckRS 2018, 2298, BeckRS 2018, 2110 und BeckRS 2015, 42408). (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 10 K 16.4806 2017-07-06 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 6. Oktober 2016 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf neun Jahre (unter der Bedingung der Straf- und Drogenfreiheit) bzw. auf zehn Jahre befristet und seine Abschiebung nach Peru angeordnet bzw. bei nicht fristgerechter Ausreise nach Haftentlassung angedroht wurde.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne dieser Bestimmung bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
1. Die Einwendungen gegen die durch das Verwaltungsgericht vorgenommene Gefahrenprognose greifen nicht durch.
Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass vom Kläger noch eine schwerwiegende Wiederholungsgefahr ausgehe. Es bestehe eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Straftaten. Der Kläger habe sehr schwere Straftaten begangen, welche mit einer hohen Freiheitsstrafe von acht Jahren und vier Monaten abgeurteilt worden seien. Er habe über mehrere Jahre Kokain in Umlauf gebracht und verfüge offensichtlich über hervorragende Kontakte zu Drogenhändlern im Ausland. Das gelte auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Abhängigkeit. Das Gericht gehe aufgrund der Stellungnahme der Therapieeinrichtung von einer Betäubungsmittelabhängigkeit aus; die unstreitige Menge von 7 g Kokain pro Woche mit erheblichen Mengen Alkohol spreche zudem für eine langfristige Problematik. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen Betäubungsmittelstraftaten aufgrund einer bestehenden Drogenproblematik begangen worden seien, gehe die Rechtsprechung regelmäßig davon aus, dass die konkrete Wiederholungsgefahr erst entfalle, wenn der Kläger eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht habe. Der Kläger habe mit einer Therapie einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung gemacht, aber die Therapie noch nicht beendet und seine Drogenfreiheit in Freiheit bewiesen. Er lebe momentan in einer kontrollierten Umgebung, weshalb ein Rückfall bei einer Rückkehr in frühere Strukturen nicht ausgeschlossen werden könne. Eine Wiederholungsgefahr könne nicht bereits ausgeschlossen werden, wenn nicht einmal eine therapeutische Aufarbeitung abgeschlossen sei.
Der Kläger bringt zur Begründung seines Zulassungsantrages hiergegen vor, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht eine Wiederholungsgefahr angenommen. Zwar sei die therapeutische Behandlung noch nicht abgeschlossen, es lägen jedoch in der Persönlichkeit des Klägers Gründe vor, die einen erfolgreichen Therapieabschluss prognostizieren ließen und es rechtfertigten, auch vor einem vollständigen Abschluss der therapeutischen Behandlung eine Wiederholungsgefahr auszuschließen.
Damit hat der Kläger die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts jedoch nicht ernsthaft im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats (z.B. B.v. 8.11.2017 – 10 ZB 16.2199 – juris Rn. 6 f.; B.v. 3.5.2017 – 10 ZB 15.2310 – juris Rn. 14) haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.
Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (siehe z.B. BayVGH, B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 7.2.2018 – 10 ZB 17.1386 – juris Rn. 10; BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 B 14.1613 – juris Rn. 32 m.w.N.). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Strafbzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BavVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 6.5.2015 – 10 ZB 15.231 – juris Rn. 11).
Wie die Begründung des Zulassungsantrags einräumt, ist die Therapie des Klägers noch nicht abgeschlossen. Es mag durchaus auch sein, dass sich in seinem Fall für ihn „prognostisch günstige Faktoren finden lassen“, wie etwa seine Therapiebereitschaft und –fähigkeit. Das Verwaltungsgericht hat dies zu Recht als „richtigen Schritt in die richtige Richtung“ gewürdigt. Gleichwohl kann in Anbetracht der im Strafurteil festgestellten langjährigen Abhängigkeit von Kokain und schädlichem Gebrauch von Alkohol (Urteil des Landgerichts München I vom 5.9.2015, S. 168) keineswegs bereits jetzt davon ausgegangen werden, dass die Therapie erfolgreich sein wird und es dem Kläger gelingen wird, nach seiner Entlassung aus dem Maßregelvollzug bzw. aus der Strafhaft auf Dauer ein drogen- und straffreies Leben zu führen. Derartige Erwartungen können bisher noch nicht mit tatsächlichen Anhaltspunkten belegt werden.
Auch sonst bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts. Es hat keineswegs verkannt, dass der Kläger zum Zeitpunkt seiner Verurteilung als nicht vorbestraft galt; es hat vielmehr im Tatbestand des Urteils darauf hingewiesen (UA S. 3). Eventuelle frühere Straftaten spielten im Rahmen der Gefahrenprognose keine Rolle. Dass der Kläger vor dem Landgericht ein Geständnis abgelegt hat und dass bis zu dem verwaltungsgerichtlichen Urteil auf den Kläger erheblich durch Untersuchungs- und Strafhaft eingewirkt worden sei, hat das Verwaltungsgericht zwar nicht eigens erwähnt, doch kommt diesen Gesichtspunkten aufgrund der aus der Drogenabhängigkeit abzuleitenden hohen Gefährlichkeit des Klägers kein entscheidendes Gewicht zu. Dass dem Kläger die Straftaten, die zu einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und vier Monaten geführt haben, im Wesentlichen zu Finanzierung seines Eigenkonsums gedient haben, spricht nicht gegen eine Wiederholungsgefahr, sondern belegt eine hohe Rückfallgefahr aufgrund der noch nicht abschließend therapierten Drogenabhängigkeit.
2. Auch soweit sich der Kläger gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Gesamtabwägung gemäß § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG wendet, ergeben sich keine ernsthaften Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils.
Der Kläger macht insoweit geltend, das Verwaltungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass in seinem Fall nicht mehr von einer Wiederholungsgefahr auszugehen sei. Dieser Umstand trifft jedoch – wie dargelegt – nicht zu.
Der Umstand, dass der Kläger bis 2013 einer Arbeitstätigkeit nachgegangen sei und diese erst geendet habe, als sich die Kokainabhängigkeit verstärkt habe, macht die Abwägung nicht fehlerhaft. Das Verwaltungsgericht ist demgegenüber zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger – anders als in Peru, wo er durch einen Pensionsbetrieb eine wirtschaftliche Basis besitzt – in Deutschland über keine Arbeitsstelle verfügt, die ihm die Rückkehr in ein drogen- und straffreies Leben erleichtern würde. Dass der Kläger nach seiner Entlassung „wiederum einer versicherungspflichtigen Arbeitstätigkeit nachgeht, sobald die Therapie abgeschlossen ist“, ist eine Erwartung ohne hinreichende tatsächliche Grundlagen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).