Aktenzeichen RN 4 K 17.1236
Leitsatz
Bei der Heranziehung von Jugendlichen und jungen Volljährigen zu den Kosten der Hilfe zur Erziehung in einem Heim oder einer sonstigen betreuten Wohnform (§ 94 Abs. 6 SGB VIII) ist nicht auf das aktuelle, im kostenbeitragspflichtigen Zeitraum erzielte Einkommen, sondern auf das Vorjahreseinkommen (vgl. § 93 Abs. 4 SGB VIII) abzustellen. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Bescheid des Landratsamtes St.-B. vom 23.2.2017 und der Widerspruchsbescheid der Regierung von Niederbayern vom 22.6.2017 werden aufgehoben.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Berufung wird zugelassen.
Gründe
Die zulässige Klage ist begründet.
Der vom Kläger gestellte Klageantrag ist bei verständiger Würdigung dahingehend zu verstehen [§ 88 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)], dass die gerichtliche Aufhebung von Ausgangs- und Widerspruchsbescheid begehrt wird. Dies entspricht auch den gesetzlichen Regelungen der §§ 79 Abs. 1 Nr. 1, 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Diesem Klagebegehren war entsprechend zu entscheiden, da der Bescheid des Landratsamtes St.-B. vom 23.2.2017 und der Widerspruchsbescheid der Regierung von Niederbayern vom 22.6.2017 rechtswidrig sind und den Kläger in seinen Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage der Heranziehung des Klägers zu einem Kostenbeitrag ist § 92 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGB VIII i. V. m. § 91 Abs. 1 Nrn. 5 b und 8 SGB VIII.
Hiernach sind Kinder, Jugendliche und junge Volljährige zu den Kosten der Hilfe zur Erziehung in einem Heim oder einer sonstigen betreuten Wohnform i.S.v. § 34 SGB VIII aus ihrem Einkommen nach Maßgabe der §§ 93 und 94 SGB VIII heranzuziehen. Gemäß § 92 Abs. 2 SGB VIII erfolgt die Heranziehung durch Erhebung eines Kostenbeitrages, der durch Leistungsbescheid festgesetzt wird. Bei jungen Menschen – wie hier dem Kläger, § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII – bestimmt sich der Umfang der Heranziehung nach § 94 Abs. 6 SGB VIII. Nach Satz 1 der Regelung haben junge Menschen bei vollstationären Leistungen nach Abzug der in § 93 Abs. 2 SGB VIII genannten Beträge 75% ihres Einkommens als Kostenbeitrag einzusetzen. Die Sätze 2 und 3 des § 94 Abs. 6 SGB VIII regeln Ausnahmen hiervon.
Die angefochtenen Bescheide sind bereits deshalb rechtswidrig, da in diesen im Rahmen der Kostenbeitragserhebung nach § 94 Abs. 6 SGB VIII auf das aktuelle, im kostenbeitragspflichtigen Zeitraum erzielte Einkommen des Klägers und nicht auf dessen Vorjahreseinkommen (vgl. § 93 Abs. 4 SGB VIII) abgestellt wird. Entstehungsgeschichte der Vorschrift und insbesondere dessen Wortlaut und Systematik stehen jedoch auch im Rahmen der Kostenbeitragserhebung bei einem jungen Menschen einem Abstellen auf das aktuelle, im kostenbeitragspflichtigen Zeitraum erzielte Einkommen entgegen; sonstige Zweckmäßigkeitserwägungen greifen dann nicht mehr durch (so auch: VG Berlin, Urteil vom 05. März 2015 – VG 18 K 443.14; VG Arnsberg, Urteil vom 15. November 2016 – 11 K 1961/16 -, juris; VG Cottbus, Urteil vom 03. Februar 2017 – 1 K 568/16 -, juris; Stähr in: Hauck/Noftz, SGB, 08/17, § 94 SGB VIII Rn. 29; a.A. ohne jegliche Begründung: VG Gera, Beschluss vom 02. September 2015 – 6 E 526/15 Ge -, juris Rn. 43).
Zur Begründung seiner Entscheidung nimmt das Gericht zunächst zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen vollumfänglich auf die Ausführungen im Beschluss vom 3.11.2017 im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (RN 4 K 17.1597) Bezug und sieht von deren nochmaliger Darstellung ab.
Die vom Beklagten nach Erlass des Beschlusses vom 3.11.2017 vorgebrachten Argumente führen zu keiner anderen Einschätzung. Zu diesen ist ergänzend Folgendes auszuführen:
Daraus, dass in § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII lediglich auf § 93 Abs. 2 SGB VIII und nicht auf die gesamte Norm des § 93 SGB VIII verwiesen wird, kann nicht geschlossen werden, dass bei der Ermittlung des Einkommens eines jungen Menschen ausschließlich § 93 Abs. 2 SGB VIII zur Anwendung gelangen soll. Das hieran anknüpfende Argument des Beklagten, dass im Gegensatz zu § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII in § 92 Abs. 2 SGB VIII (Umfang der Heranziehung zum Kostenbeitrag bei Eltern, Ehegatten und Lebenspartnern) auf den § 93 SGB VIII in seiner Gesamtheit verwiesen wird, ist nicht überzeugend. Die Nennung des § 93 SGB VIII in § 94 Abs. 2 SGB VIII im Zusammenhang mit dem Begriff „Einkommen“ ist zwar im Grunde überflüssig, da der § 93 SGB VIII gerade die Berechnung des Einkommens regelt und es keine weitere Vorschrift zur Berechnung des Einkommens in diesem Gesetzesabschnitt gibt. Würde man die Argumentation des Beklagten aber weiterdenken, müsste allein die Nennung des § 93 Abs. 2 SGB VIII in § 94 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII konsequenterweise dazu führen, dass bei der Berechnung des Einkommens eines jungen Menschen auch allein diese Bestimmung Anwendung zu finden hätte. Neben § 93 Abs. 4 SGB VIII würde dann aber auch insbesondere § 93 Abs. 1 SGB VIII keine Anwendung finden, was zu dem nicht sinnigen Ergebnis führen würde, dass es für die Berechnung des Kostenbeitrages eines jungen Menschen keinerlei gesetzliche Regelung dazu gäbe, aus welchen Posten sich das Einkommen überhaupt zusammensetzt. Diese grundlegende Frage allein dem Belieben des jeweiligen Rechtsanwenders zu überlassen, kann ersichtlich nicht gewollt sein. All diese Überlegungen, die zudem diametral zu dem Ziel des Gesetzgebers bei der Einführung des § 93 Abs. 4 SGB VIII stehen, nämlich der Verwaltungsvereinfachung und der Erzeugung von Rechtssicherheit durch Schaffung eines einheitlichen und klaren Einkommensbegriffes (vgl. BT-Drucksache 17/13023, S. 10 f.: „Unsicherheiten der Praxis, wie das bei der Berechnung des Kostenbeitrags nach den §§ 91 ff. SGB VIII zu Grunde zu legende Einkommen zu ermitteln ist, wird durch die Einführung eines neuen, klarstellenden § 93 Absatz 4 SGB VIII begegnet.“), zeigen letztlich deutlich, dass, wollte man das Einkommen eines jungen Menschen abweichend von der allgemeinen Regelung des § 93 Abs. 4 SGB VIII berechnen, es hierfür eben einer entsprechenden gesetzlichen (Sonder-) Regelung bedürfte.
Hieran anschließend führt es auch nicht weiter, dass es im Jahr 2017 einen Gesetzesentwurf gab, nach welchem § 94 Abs. 6 SGB VIII dahingehend geändert werden sollte, dass § 93 Abs. 4 SGB VIII für nicht anwendbar erklärt wird. Zum einen handelt es sich hierbei lediglich um einen Gesetzesentwurf. Für das vorliegende Verfahren kommt es aber ausschließlich auf die bei Erlass der angefochtenen Bescheide geltende Rechtslage an. Zum anderen bestätigt dieser Gesetzesentwurf aus Sicht des Gerichts vielmehr auch die hier vertretene Rechtsauffassung, da durch dessen Existenz deutlich wird, dass die vom Beklagten vertretene Ansicht in der zu beurteilenden Gesetzesfassung gerade keinen Niederschlag gefunden hat. Andernfalls bedürfte es eines entsprechenden Gesetzesentwurfes schon gar nicht. Weiter ist hierzu festzustellen, dass sich auch aus der Begründung dieses Gesetzesentwurfes kein Anhaltspunkt dafür ergibt, dass es sich mit dem beabsichtigten Ausschluss der Anwendbarkeit des § 93 Abs. 4 SGB VIII in § 94 Abs. 6 SGB VIII lediglich um die Klarstellung einer vom Gesetzgeber schon immer so gewollten Regelung handeln würde. Die Begründung des Gesetzesentwurfes beschäftigt sich vielmehr lediglich damit, dass die bisherige Ausnahmeregelung zur Kostenheranziehung von jungen Menschen nicht ausreiche, um dem Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe umfassend Rechnung zu tragen und deshalb insbesondere die Ermessensentscheidung der Jugendämter, in welcher prozentualen Höhe der Kostenbeitrag erhoben werden solle, aufgehoben und per Gesetz auf 50% festgesetzt werde (vgl. BTDrucksache 18/12330, S. 67 f.)
Der Beklagte hat daher nach alledem das für die Höhe des Kostenbeitrags nach § 94 Abs. 6 SGB VIII relevante Einkommen unzutreffend ermittelt. Der Kostenbescheid kann auch nicht teilweise (unter Zugrundelegung des Einkommens im jeweiligen Vorjahreszeitraum) aufrechterhalten werden. Indem der Beklagte das nach § 94 Abs. 6 Satz 2 und 3 SGB VIII erforderliche Ermessen auf einer unzutreffenden Tatsachengrundlage, nämlich bezogen auf eine fehlerhaft ermittelte Einkommenshöhe, ausgeübt hat, bleibt für eine teilweise Aufrechterhaltung kein Raum.
Der Klage war daher mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge stattzugeben. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.
Die Berufung war gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die Frage, ob § 93 Abs. 4 SGB VIII bei der Erhebung eines Kostenbeitrags bei einem jungen Menschen nach § 94 Abs. 6 SGB VIII Anwendung findet, wurde bislang weder vom zuständigen Berufungsgericht noch höchstrichterlich geklärt. Der Rechtssache kommt über den vorliegenden Einzelfall hinaus Bedeutung zu.