Aktenzeichen 2 B 18.458
ZPO § 189
Leitsatz
Der durch eine Nutzungsänderung verursachte Mehrbedarf an Stellplätzen wird durch einen rechnerischen Vergleich zwischen dem Stellplatzbedarf der geänderten Anlage (sog. Sollbedarf) und des genehmigten Altbestands ermittelt. Bei der rechnerischen Ermittlung des Bedarfs ist dabei auch im Hinblick auf den Altbestand auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen (vgl. BayVGH BeckRS 2016, 50124). (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
8 K 14.2445 2016-01-18 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.
1. Die Berufung ist zulässig, insbesondere hat die Beklagte die Berufungsbegründungsfrist gewahrt (§ 124a Abs. 3 Satz 5 i.V.m. Abs. 6 Sätze 1 und 3 VwGO).
Ist die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisbar, gilt der Beschluss nach § 56 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. § 189 ZPO als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war, tatsächlich zugegangen ist. Dabei genügt es nicht, dass das zuzustellende Schriftstück in den Bereich der Behörde gelangt ist. Vielmehr muss es auch von einem dafür zuständigen Bediensteten als zugestellt angenommen und in Empfang genommen sein (vgl. BVerwG, B.v. 21.12.1979 – 4 ER 500.79 – BayVBl 1980, 249; Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 18. Aufl. 2017, § 41 Rn. 73a).
Nach den Einlassungen der Beklagten hat die zuständige Sachbearbeiterin am 12. März 2018 vom Zustellungsbeschluss Kenntnis erlangt. Mangels eines anderen Zustellungsnachweises ist für den Beginn der Berufungsbegründungsfrist auf diesen Zeitpunkt abzustellen, so dass die am 12. April 2018 eingegangene Berufungsbegründung noch innerhalb der Monatsfrist nach § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB, die mit Ablauf des 12. April 2018 endete, erfolgt ist.
2. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend der Klage der Klägerin stattgegeben, weil die Nebenbestimmung in Ziffer 1. der Baugenehmigung vom 6. Mai 2014 rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die streitgegenständliche Auflage ist rechtswidrig, weil keine Pflicht der Klägerin gemäß Art. 36 Abs. 1 Alt. 2 BayVwVfG, Art. 47 Abs. 1 Satz 2 BayBO i.V.m. der Stellplatzsatzung der Beklagten vom 19. Dezember 2007 (StPIS) besteht, vier weitere Stellplätze abzulösen.
Gemäß Art. 47 Abs. 1 Satz 2 BayBO sind bei Änderungen oder Nutzungsänderungen von Anlagen Stellplätze in solcher Zahl und Größe herzustellen, dass die Stellplätze die durch die Änderung zusätzlich zu erwartenden Kraftfahrzeuge aufnehmen können. Ermittelt wird der durch eine Nutzungsänderung verursachte Mehrbedarf durch einen rechnerischen Vergleich zwischen dem Stellplatzbedarf der geänderten Anlage (sog. Sollbedarf) und des genehmigten Altbestands. Bei der rechnerischen Ermittlung des Bedarfs ist dabei auch im Hinblick auf den Altbestand auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen (vgl. BayVGH, U.v. 18.9.1995 – 1 B 92.1432 – nicht veröffentlicht; U.v. 10.6.2016 – 2 B 16.733 – juris; Jäde in Jäde/Dirnberger/Bauer/Weiß, Die neue Bayerische Bauordnung, Stand Februar 2018, Art. 47 Rn. 63ff.). Für die Ermittlung des konkreten Stellplatzbedarfs ist grundsätzlich die Stellplatzsatzung der Beklagten vom 19. Dezember 2007 (StPIS) maßgeblich (MüABl. 2008, Sondernummer 1, S. 1) i.V.m. Art. 47 Abs. 2 Satz 2 BayBO. Danach erfolgt die Ermittlung des Stellplatzbedarfs getrennt nach den jeweiligen Nutzungsarten (§ 2 Abs. 4 StPIS), wobei sich rechnerisch ergebende Bruchteile zu runden sind (§ 2 Abs. 6 StPIS). Sodann ist nach § 3 Abs. 1b StPIS für Nichtwohnnutzungen im unstreitig vorliegenden Geltungsbereich der Zone II nur 75% der nach § 2 der Satzung ermittelten, gerundeten Zahl an Stellplätzen nachzuweisen. Auch hier sind bei der Ermittlung sich ergebende Bruchteile zu runden (§ 3 Abs. 3, § 2 Abs. 6 StPIS).
Der Berechnung der Beklagten zufolge, die auf der rechnerischen Gegenüberstellung ausschließlich der von der Nutzungsänderung betroffenen Nutzungseinheit im zweiten Obergeschoss beruht, wird vorliegend ein Stellplatzmehrbedarf von vier Stellplätzen ausgelöst. Nach der Ermittlung des Verwaltungsgerichts im Wege der Gesamtbetrachtung der Anlage bemisst sich der Mehrbedarf nach den von ihm zugrunde gelegten, zwar in den Akten befindlichen, aber anhand der Pläne nicht nachvollziehbaren Zahlen auf sechs Stellplätze (UA S. 15). In diesem Zusammenhang weist der Senat darauf hin, dass selbst bei Zugrundelegung des Ansatzes der Beklagten sich nach Einschätzung des Senats ein Stellplatzmehrbedarf von drei Stellplätzen ergibt. Denn entgegen der Darstellung auf Seite 14 des Urteils des Verwaltungsgerichts ist die anzurechnende Fläche der ehemaligen Nutzungseinheit heranzuziehen, die vorliegend nicht mit der zu berücksichtigenden Fläche der neuen Nutzung gleichzusetzen ist. Ausweislich der genehmigten Baupläne (Baugenehmigung vom 26. Juni 2001) ist von einer damaligen Nutzung als Büro mit einer anzurechnenden Fläche von 262,65 qm auszugehen. Nach § 2 Abs. 6 StPIS i.V.m. Ziffer 2.1 der Anlage zur StPIS (1 Stellplatz pro 40 qm anzurechnende Nutzfläche) bedarf das damalige Büro sieben Stellplätze (6,57, gerundet 7). Die neue Nutzung als Fitnesscenter mit einer Fläche von 220,57 qm löst gemäß § 2 Abs. 6 StPIS i.V.m. Ziffer 5.9 der Anlage zur StPIS (1 Stellplatz pro 20 qm Sportnutzfläche) einen Bedarf von elf Stellplätzen (11,03, gerundet 11) aus. Unabhängig davon, ob – der Beklagten folgend – zunächst die Differenz zwischen dem Sollbedarf und dem genehmigten Altbestand gebildet wird (11 Stellplätze/Sollbedarf – 7 Stellplätze /genehmigter Altbestand = 4 Stellplätze) und danach die Ermäßigung des § 3 Abs. 1b StPIS zum Tragen kommt (4 x 0,75 = 3 Stellplätze) oder unmittelbar nach Ermittlung des Sollbedarfs (11 x 0,75 = 8,25, gerundet 8 Stellplätze) und des genehmigten Altbestands (7 x 0,75 = 5,25, gerundet 5 Stellplätze) die Ermäßigung in Abzug gebracht wird, ergibt sich ein Mehrbedarf von drei Stellplätzen.
Es kann aber dahingestellt bleiben, ob hier ein Mehrbedarf von drei, vier oder sechs Stellplätzen vorliegt, weil die Anzahl der tatsächlich vorhandenen Stellplätze jede oben genannte, berechnete Anzahl an notwendigen zusätzlichen Stellplätzen übersteigt. Die unterschiedlichen Rechnungsergebnisse fußen nicht auf der Frage, ob der rechnerische Vergleich zwischen dem Sollbedarf und genehmigten Altbestand lediglich anhand des von der Nutzungsänderung betroffenen Teils der Anlage – wie von der Beklagten angenommen – oder anhand der Gesamtanlage – wie von der Klägerin in Anspruch genommen (vgl. auch Würfel in Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, Dezember 2017, Art. 47 Rn. 69) – vorzunehmen ist, da beide Berechnungsarten in der Regel zu gleichen Ergebnissen führen. Denn eine Veränderung der Berechnungsgrundlagen findet nur im Bereich der bzw. den geänderten Nutzungseinheit(en) statt und kann sich daher auch nur dort auswirken. Lediglich der Zeitpunkt, zu welchem im Rahmen der Berechnung die Ermäßigungsregelung des § 3 Abs. 1 StPIS zur Anwendung kommt – nach Ansicht der Beklagten erst nach Bildung der Differenz von Sollbedarf und genehmigtem Altbestand –, kann zu geringfügigen Unterschieden als Folge von Rundungsdifferenzen führen. Beide Berechnungsarten werden vom Wortlaut der Satzung der Beklagten gedeckt, wenn auch nach dem Formular zum Stellplatznachweis die Beklagte die Anwendung der eventuellen Ermäßigung wohl erst im Anschluss an die Verrechnung des Stellplatzbedarfs der Nutzungsänderung mit dem des entsprechenden genehmigten Altbestands vorsieht. Es liegt im Rahmen der Satzungsautonomie der Beklagten, die rechnerische Vorgehensweise klar zu bestimmen.
Der rechnerische Unterschied des konkreten Stellplatzbedarfs beruht vorliegend auf der Tatsache, dass die Beklagte im Rahmen der Ermittlung und Anrechnung des Bestands der tatsächlich vorhandenen und gebundenen Stellplätze auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der damaligen Entscheidung über den Bauantrag abstellt. Unstreitig besteht als Folge des Bestandschutzes, den die bisherigen Nutzungen genießen, grundsätzlich die Möglichkeit bei der Ermittlung der Zahl der tatsächlich herzustellenden bzw. abzulösenden Stellplätze die tatsächlich vorhandenen (oder auch nur fiktiven) Stellplätze, die auf die bisherige Nutzung entfallen, auf den Stellplatzbedarf anzurechnen (vgl. BayVGH, B.v. 22.4.2004 – 20 B 03.2531 – juris; U.v. 10.6.2016 – 2 B 16.733 – juris). Auch dabei ist grundsätzlich für die rechnerische Betrachtung die Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung über den aktuellen Bauantrag zugrunde zu legen (vgl. BayVGH, U.v. 10.6.2016 a.a.O.). Danach ist für die Berechnung der Anzahl der durch den Altbestand gebundenen Stellplätze die Regelung des § 3 Abs. 1b StPIS mit der Folge der 75% Ermäßigung zu berücksichtigen.
Ausgehend von der in Ziffer 1. der bestandskräftigen Baugenehmigung vom 4. November 2003 festgestellten Stellplatzlast von 62 Stellplätzen für den Altbestand ist zunächst die Zahl der nach damaliger Rechtslage gebundenen Stellplätze in Bezug auf die von der Nutzungsänderung betroffenen Nutzungseinheit herauszurechnen, weil ansonsten die Ermäßigungsregelung des § 3 Abs. 1b StPIS, die bereits bei der Stellplatzmehrbedarfsermittlung für die konkrete Nutzungsänderung Eingang gefunden hat, zweimal zum Ansatz käme. Da die maßgebliche, damalige Nutzungseinheit einen Stellplatzbedarf von gerundet sieben Stellplätzen ausgelöst hatte (vgl. Berechnung auf Seite 7), verbleibt es nach Abzug dieser sieben Stellplätze von der Stellplatzlast von 62 bei 55 Stellplätzen. Unter Berücksichtigung von § 3 Abs. 1b und 3, § 2 Abs. 6 StPIS bemisst sich hieraus eine Anzahl von 41 (41,25, gerundet 41) durch den genehmigten Altbestand gebundenen Stellplätzen, was ein Überschuss von 14 Stellplätzen zur vorherigen Rechtslage bedeutet. Hinzu kommt der unstreitig noch zusätzlich vorhandene, nicht gebundene Stellplatz, so dass die Klägerin insgesamt über eine Anzahl von 15 „freien“ Stellplätzen verfügt. Entscheidend ist, dass der oben festgestellte, durch die Nutzungsänderung bedingte Stellplatzmehrbedarf (drei, vier oder sechs) jedenfalls geringer ist als die Anzahl der tatsächlich vorhandenen, nicht bzw. nicht mehr gebundenen Stellplätze (Überschuss von 15).
Dieses Ergebnis widerspricht auch nicht dem Sinn und Zweck der Ermäßigungsregelung des § 3 Abs. 1 StPIS, der nach dem Vortrag der Beklagen darin besteht, den Bau zu vieler Stellplätze im Innenstadtbereich zu vermeiden und somit keine weiteren Anreize schaffen zu wollen, in die Innenstadt mit dem privaten PKW zu fahren. Im Gegenteil verwirklicht gerade die Anwendung der Ermäßigungsregelung auch auf den Bestand der vorhandenen Stellplätze die von der Beklagten verfolgte Zielsetzung. Im Übrigen hat es die Beklagte in der Hand, im Rahmen ihrer nach Art. 47 Abs. 2 Satz 2 BayBO eingeräumten Satzungsautonomie die Anforderungen an die Gesamtzahl der notwendigen Stellplätze für bestimmte Vorhaben herabzusetzen. Entschließt sich die Beklagte von ihrer Rechtssetzungsbefugnis Gebrauch zu machen, ist sie an ihrem Willen festzuhalten.
Ebenso wenig steht der Umstand entgegen, dass die Ermittlung des tatsächlichen oder fiktiven Bestands anhand der geltenden Rechtslage zur Folge haben kann, dass bisher gebundene Stellplätze wieder frei werden und demjenigen zu Gute kommen können, der zuerst einen entsprechenden Bauantrag stellt. Denn es ist ausschließlich Sache des Eigentümers über die Zuordnung der Stellplätze zu den einzelnen Nutzungseinheiten zu entscheiden und damit auch über das Schicksal eventuell freiwerdender Stellplätze. Im Übrigen würde die Verwehrung der Anrechnung der tatsächlich vorhandenen, nach geltender Rechtslage nicht mehr erforderlichen Stellplätze zu einer ungerechtfertigten Schlechterstellung des Bauherrn von Änderungen bzw. Nutzungsänderungen eines Altbestands gegenüber einem Bauherrn eines Neubaus führen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708ff. ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).