Aktenzeichen 1 U 4197/17
BGB § 839 Abs. 1
GG Art. 34
Leitsatz
Soweit ein Notrufbeamter einen Mitteiler weiterfahren lässt, ist dies nicht zu beanstanden, wenn er aufgrund des vom Mitteiler berichteten Sachverhalts nicht damit rechnen muss, dass ein mutmaßlich schwerer Unfall keinerlei Spuren auf der Fahrbahn oder Beschädigungen an Leitplanken bzw. Zäunen hinterlassen würde, und die Polizeibeamten vor Ort das Unfallfahrzeug deshalb ohne Hilfe des Zeugen nicht finden würden. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
34 O 1568/17 2017-11-27 Endurteil LGAUGSBURG LG Augsburg
Tenor
1. Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 27.11.2017, Az. 034 O 1568/17, wird zurückgewiesen.
2. Die Kläger haben die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist ebenso wie das in Ziffer 1. genannte Urteil vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages abwenden, sofern nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Auf die tatsächlichen Feststellungen des Endurteils des Landgerichts Augsburg vom 27.11.2017 wird Bezug genommen.
II.
Das Landgericht hat zur Begründung des klageabweisenden Urteils ausgeführt, den beteiligten Amtsträgern sei keine Amtspflichtverletzung vorzuwerfen. Die von der Notrufzentrale herbeigerufenen Streifenbeamten hätten nachvollziehbar davon ausgehen können, dass das im Bereich des gemeldeten Unfallorts angetroffene Pannenfahrzeug die Ursache für die Wahrnehmung des Mitteilers … gewesen sei. Dennoch hätten sich die Polizeibeamten in Abstimmung mit den aufgrund einer weiteren Unfallmeldung ausgerückten Feuerwehrleuten entschlossen, den Randbereich der Autobahn weiträumig abzusuchen. Mangels Beschädigungen an der Leitplanke und / oder dem angrenzenden Wildschutzzaun seien bei Nacht jedoch die Reifenabdrücke im Grünstreifen mit Taschenlampe und Suchscheinwerfer am Dienstfahrzeug nicht erkennbar gewesen. Auch der Notrufbeamte in der Einsatzzentrale habe seine Amtspflichten nicht verletzt. Hätte er den Zeugen … aufgefordert, bis zum Eintreffen der Polizeistreife auf dem Standstreifen der Autobahn zu warten, wäre das Unfallfahrzeug zwar sehr wahrscheinlich aufgefunden worden. Der Notrufbeamte habe aber zwischen den Gefahren für den Zeugen auf dem Standstreifen der Autobahn einerseits, und dem Nutzen seines dortigen Verbleibs für den Erfolg des Rettungseinsatzes andererseits abwägen müssen. Der Beamte habe dabei davon ausgehen dürfen, dass die herbeigerufene Streifenwagenbesatzung das Unfallfahrzeug in jedem Fall finden würde. Denn bei nahezu allen schweren Verkehrsunfällen auf der Autobahn seien deutliche Schäden an Leitplanken oder Wildschutzzäunen zu erkennen, oder es lägen Fahrzeugteile auf der Fahrbahn. Deshalb habe der Notrufbeamte die Gefährdung für den Mitteiler sowie für den fließenden Verkehr höher gewichten und ihn trotz seines Angebots, stehen zu bleiben, weiterfahren lassen dürfen. Der Umstand, dass die Tochter der Kläger knapp vor der beginnenden Leitplanke auf den Grünstreifen geraten und darauf eine längere Strecke parallel zur Fahrbahn gefahren sei, ohne erkennbare Beschädigungen zu hinterlassen, sei so ungewöhnlich und atypisch, dass der Notrufbeamte diese Möglichkeit nicht in seine Überlegungen habe einbeziehen müssen. Die alternative Vorgehensweise, den Mitteiler bis zum nächsten Parkplatz fahren und dort warten zu lassen, hätte auch nicht weitergeführt, weil der Zeuge dann das nachfolgend heranfahrende Pannenfahrzeug nicht wahrgenommen hätte. Dann hätte auch eine spätere telefonische Rückfrage bei dem Zeugen keinen entscheidenden Hinweis auf die tatsächliche Unfallsituation erbracht.
Den Klägern hätten zudem die Ursächlichkeit einer – unterstellten -Amtspflichtverletzung für den Tod ihrer Tochter, der nach dem rechtsmedizinischen Gutachten frühestens um 02:00 Uhr eingetreten sei, nicht beweisen können. In Anbetracht der schweren Verletzungen habe lediglich eine einfache Wahrscheinlichkeit dafür bestanden, dass die Verunglückte im Fall ihres zeitnahen Auffindens durch die Rettungskräfte nach ihrem Eintreffen um ca. 01:14 Uhr noch hätte gerettet werden können; das reiche für den Nachweis der Kausalität nicht aus.
Schließlich greife zugunsten des Beklagten auch ein sozialrechtlicher Haftungsausschluss ein.
III.
Die Kläger haben gegen das ihnen am 07.12.2017 zugestellte Endurteil mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 18.12.2017, eingegangen am 19.12.2017, Berufung eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 24.01.2018 begründet.
Die Auffassung des Landgerichts, der Notrufbeamte habe aus der gebotenen exante-Sicht den Zeugen … weiterfahren lassen dürfen, sei fehlerhaft. Ausweislich der Aufzeichnung des Notrufs habe der betreffende Polizeibeamte in der Einsatzleitzentrale keine Abwägung zwischen den Gefahren für den Mitteiler auf der Autobahn und dem daraus resultierenden Nutzen vorgenommen. Er habe sich keine Gedanken über die Sicherheit des Zeugen … gemacht, sondern die Gefahr für die Tochter der Kläger falsch eingeschätzt. Das ergebe sich bereits aus der Antwort des Beamten auf die Frage des Zeugen, ob er warten solle: „Nein, wenn Sie bloß Lichter gesehen haben, dann ist es kein Problem Herr …” Das Landgericht habe auch keine Feststellungen dazu getroffen, ob für den Zeugen oder den fließenden Verkehr auf der Autobahn zum Zeitpunkt des Notrufs überhaupt eine Gefährdung bestanden habe. Um 01:00 Uhr nachts sei auf der Autobahn nicht viel los gewesen, was sich auch daraus ergebe, dass nur zwei Zeugen den Unfall gemeldet hätten. Außerdem hätte der Zeuge … nicht von sich aus angeboten, auf dem Standstreifen zu waren, wenn er sich als gefährdet angesehen hätte. Allenfalls habe eine abstrakte, nicht sehr hohe Gefährdung für den Zeugen bestanden. Der Zeuge hätte auch nur wenige Minuten bis zum Eintreffen von Polizei und Rettungskräften auf dem Standstreifen stehen müssen. Es sei äußerst fahrlässig und geradezu leichtsinnig, sich ausschließlich auf vermeintlich deutliche Unfallspuren zu verlassen, und auf einen -noch dazu freiwillig – an der Unfallörtlichkeit wartenden Zeugen zu verzichten, der nahezu sicher das Auffinden des Unfallfahrzeugs gewährleisten könne. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass tagsüber eindeutig erkennbare Unfallspuren bei völliger Dunkelheit um 01:00 Uhr nachts kaum auszumachen seien. Erschwerend komme hinzu, dass aufgrund der Angaben beider Notrufe von einem sehr schweren Unfall auszugehen gewesen sei. Denn der Zeuge … habe berichtet, gesehen zu haben, dass ein Fahrzeug von der Fahrbahn geflogen sei, und in dem anderen Notruf sei berichtet worden, ein Fahrzeug habe sich überschlagen. Diese Schilderungen hätten einen Sachverhalt nahegelegt, bei dem nicht nur erhebliche Blechschäden, sondern auch schwere Verletzungen der Fahrzeuginsassen zu erwarten gewesen seien. Ein Polizeibeamter müsse wissen, dass es bei einem so schweren Verkehrsunfall zum Teil auf nur wenige Minuten ankomme, welche den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachten. Der Notrufbeamte habe unter Berücksichtigung aller Umstände grob ermessensfehlerhaft gehandelt. Eine weitere Amtspflichtverletzung des Notrufbeamten sei darin zu sehen, dass er der Funkstreifenbesatzung ausweislich der Zeugen … und … nicht mitgeteilt habe, dass nach den Angaben des Mitteilers ein Fahrzeug von der Autobahn „geflogen“ sei, sondern nur, dass plötzlich die Lichter eines Fahrzeugs weg gewesen sein sollten. Soweit das Landgericht auch die Kausalität des Nichtauffindens des Unfallfahrzeugs für das Versterben der Tochter der Kläger nicht für nachgewiesen erachtet habe, habe es das klägerische Beweisangebot auf Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens übergangen. Schließlich habe das Landgericht zu Unrecht einen Haftungsausschluss nach § 104 SGB VII bejaht.
Die Kläger beantragen,
den Beklagten zu verurteilen, an die Kläger € 16.288,14 nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 28.04.2017, ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch € 10.000,- nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 28.04.2017 sowie außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von € 1.666,95 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus € 1.348,98 seit Rechtshängigkeit der Klage sowie aus € 317,97 seit Rechtshängigkeit der Klageerweiterung zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, das erstinstanzliche Urteil sei in jeder Hinsicht zutreffend. Die Kläger hätten ihr Einverständnis mit der Verwertung des im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eingeholten rechtsmedizinischen Gutachtens erklärt; die Erholung eines weiteren Gutachtens sei nicht veranlasst. Auch finde das sozialrechtliche Haftungsprivileg Anwendung.
Im Übrigen wird auf die zwischen den Parteien im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
B.
I.
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, weil ein Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten aus Amtshaftung (§ 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG) nicht gegeben ist. Der Senat teilt die Auffassung des Landgerichts, dass weder die polizeilichen Einsatzkräfte vor Ort noch der Beamte der Einsatzleitzentrale, der den Notruf des Zeugen … aufnahm, den Tod der Tochter der Kläger durch amtspflichtwidriges Verhalten nachweisbar verursacht haben.
1. Dass die Vorgehensweise der Polizeibeamten an der Unfallstelle nicht zu beanstanden war, wird von der Berufung akzeptiert. In Bezug auf den Notrufbeamten kommt es nicht maßgeblich darauf an, ob dieser vor seiner Entscheidung, den Mitteiler weiterfahren zu lassen, tatsächlich das Sicherheitsinteresse des Zeugen (und des fließenden Verkehrs auf der Autobahn) gegenüber dem zu erwartenden Nutzen seines Verbleibs im Bereich der Unfallstelle abgewogen hat. Denn wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, musste der Notrufbeamte aufgrund des von dem Zeugen … berichteten Sachverhalts nicht damit rechnen, dass ein mutmaßlich schwerer Unfall – insbesondere mit Personenschaden – keinerlei Spuren auf der Fahrbahn oder Beschädigungen an Leitplanken bzw. Zäunen hinterlassen würde, und die Polizeibeamten vor Ort das Unfallfahrzeug deshalb ohne Hilfe des Zeugen nicht finden würden. Auch zur Nachtzeit sind derartige Unfallspuren jedenfalls unter Benutzung von Taschenlampen und Scheinwerfern, wie sie von den Einsatzkräften vor Ort ja auch verwendet wurden, regelmäßig gut zu erkennen. Ob der Notrufbeamte an die Streifenwagenbesatzung hätte weitergeben müssen, dass laut der Mitteilung bei einem Fahrzeug nicht nur „die Lichter auf einmal weg waren“, sondern auch, dass ein Fahrzeug „von der Autobahn geflogen“ oder „von der Autobahn gekommen“ sei, kann offen bleiben. Läge darin eine Amtspflichtverletzung, hätte sich diese jedenfalls nicht auf den Verlauf der Rettungsaktion ausgewirkt. Denn die Polizeibeamten wurden unmittelbar nach ihrem Eintreffen im Bereich der Unfallstelle von den Kollegen der Feuerwehr, die aufgrund der Meldung des BMW-Notrufs ausgerückt waren, darüber informiert, dass ein Fahrzeug „von der Fahrbahn abgekommen“ sei (so der Zeuge …) bzw. „sich ein Fahrzeug überschlagen habe“ (so der Zeuge …). Entsprechend wurde dann auch von Polizei und Feuerwehr der Randbereich des in Betracht kommenden Streckenabschnitts mehrfach, wenn auch leider erfolglos abgesucht.
2. Auch im Fall einer – unterstellten – Pflichtverletzung des Notrufbeamten bzw. der polizeilichen Einsatzkräfte vor Ort bliebe ungeklärt, ob die Tochter der Klägerin durch intensivere Suchmaßnahmen unter Zuhilfenahme von Informationen des Zeugen … noch lebend aus dem Unfallfahrzeug geborgen und erfolgreich notfallmedizinisch hätte behandelt werden können. Die Kläger können bereits nicht beweisen, dass ihre Tochter selbst bei optimalem Verlauf der Rettungsaktion in dem kurzen Zeitfenster zwischen dem Eintreffen der Polizei vor Ort um 01:14 Uhr und dem durch das rechtsmedizinische Gutachten aus dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren festgestellten, frühestmöglichen Todeszeitpunkt um 02:00 Uhr aufgefunden worden wäre. Darüber hinaus ist aufgrund der rechtsmedizinischen Begutachtung, mit deren Verwertung sich die Kläger nach § 411a ZPO einverstanden erklärt haben, nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt, dass die Verunglückte, wäre sie noch vor 02:00 Uhr aufgefunden und behandelt worden, ihre schweren Verletzungen überlebt hätte. Ob diese Frage in den Bereich der Rechtsmedizin fällt oder von einem anderen Sachverständigen aus dem Bereich der Unfallchirurgie / Notfallmedizin zu beantworten wäre, kann letztendlich dahinstehen, weil es für die Entscheidung des Falls darauf nicht mehr ankommt.
3. Die Voraussetzungen für einen Haftungsausschluss nach § 104 Abs. 1 SGB VII liegen ersichtlich nicht vor. Weder war die Tochter der Klägerin bei dem Beklagten beschäftigt, noch ist bei dem Unglücksfall eine Person im Sinn des § 2 Abs. 1 Nr. 13 SGB VII getötet worden. Für den Ausgang des Falls kommt es allerdings auch darauf nicht mehr an.
II.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 ZPO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 709 Satz 2 ZPO.
III.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor. Der Rechtsstreit wirft weder Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.