Medizinrecht

Anforderungen an ärztliche Atteste

Aktenzeichen  Au 5 K 17.32467

Datum:
12.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 2967
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Aus einem fachärztlichen Attest zum Beleg einer ein Abschiebungsverbot vermittelnden psychischen Erkrankung muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt; dazu gehören Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen ärztlichen Befunde bestätigt werden. Darüber hinaus muss es Aussagen über die Schwere der Erkrankung, die Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf enthalten.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
II. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nrn. 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamtes für … vom 24. April 2017 verpflichtet, festzustellen, dass für den ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
III. Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten übereinstimmend mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Der Entscheidung ist dabei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung im schriftlichen Verfahren zu Grunde zu legen, § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG.
1. Soweit die Klage mit Schriftsatz vom 6. März 2018 teilweise zurückgenommen wurde, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Nach teilweiser Klagerücknahme verbliebener Gegenstand des Verfahrens ist damit nur mehr der Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bis Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
2. Soweit der Kläger seine Klage im Schriftsatz vom 6. März 2018 noch aufrechterhalten hat, ist sie zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 24. April 2017 ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in Nrn. 4 bis 6 insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten, als dieser einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans hat, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, wie sie der Kläger hier ausschließlich geltend macht, liegt nach Satz 2 der Regelung nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlechtern, also zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden führen würden, wobei die wesentliche Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten müsste (vgl. VG München, B.v. 26.4.2016 – M 16 S7 16.30786 -, juris Rn. 16). Dass die medizinische Versorgung im Zielstaat (Afghanistan) mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig oder überall gewährleistet ist, ist hierbei nicht erforderlich, § 60 Abs. 7 Satz 3 und 4 AufenthG.
Allerdings kann es auf die an sich im Zielstaat vorhandenen und grundsätzlich zugänglichen Behandlungsmöglichkeiten dann nicht ankommen, wenn diese wegen der insbesondere bei Vorliegen einer PTBS bzw. schwergradigen depressiven Episode im Herkunftsland zu erwartenden Re-Traumatisierung auf Grund der Konfrontation mit den Ursachen des Traumas für den Betroffenen nicht erfolgversprechend sind (vgl. Nds. OVG, U.v. 28.6.2011 – 8 LB 221/09 – juris Rn. 29; VG München, B.v. 26.4.2016 – a.a.O., juris Rn. 19).
Der sich auf eine seiner Abschiebung entgegenstehende Erkrankung berufende Ausländer muss diese durch eine qualifizierte, gewissen Mindestanforderungen genügende ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (vgl. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG). Aus dem vorgelegten Attest muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen ärztlichen Befunde bestätigt werden. Zudem sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben.
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze hat der Kläger hier das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinreichend glaubhaft gemacht. Ausweislich der im gerichtlichen Verfahren vorgelegten ergänzenden fachärztlichen Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie,, vom 27. Februar 2018 besteht beim Kläger eine diagnostisch nachgewiesene schwergradige Depression (ICD-10, F32.2G). Die beim Kläger vorliegende schwergradige Depression sei Folge der erlebten Ereignisse in Afghanistan als auch der Erfahrungen auf der Flucht. Beim Kläger bestehe nachgewiesen ein schwergradig depressives Syndrom mit tiefer Bedrücktheit, fast völliger Aufhebung der affektiven Schwingungsfähigkeit, einem reduzierten Antrieb, Grübeln, Schlafstörungen u.a. Kopfschmerz, widerkehrenden wie häufigen und konkreten Suizidgedanken undFantasien. Es bestünden ausgeprägte Zukunftsängste, Real-Ängste vor einer Zukunft in Afghanistan und Schlafstörungen mit Alpträumen. Es lägen häufige konkrete Suizidfantasien undträume vor. Weiter sei ein somatisches Syndrom mit Grübeln und deutlicher Appetitstörung. Die beim Kläger vorliegende schwergradige Depression sei nach Symptomzahl, -gewichtung und –schwere belegt, wobei diverse Kriterien z.B. des Selbstwertgefühles, des Selbstvertrauens, von angemessenen oder unangemessenen Schuldgefühlen, einem „Gefühl der Leere“ oder einem „Gefühl der Gefühllosigkeit“ – sprachlich noch gar nicht abfragbar waren. Die Suizidfantasien des Klägers seien erheblich, konkret und auf eine eindeutige Auslösesituation, Abschiebung und Rückkehr nach Afghanistan, bezogen. Aus Sicht des Facharztes bestehe eine erhebliche tatsächliche Gefährdungslage. Für den Kläger sei eine intensive psychiatrische, im Verlauf auch psychotherapeutische Behandlung erforderlich. Durchgeführt werde derzeit eine antidepressive Therapie mit dem Medikament Mirtazapin 30 mg.
Der Vortrag des Klägers, der die depressive Erkrankung ausgelöst hat, ist in diesem Zusammenhang auch nicht als gänzlich unschlüssig zu bezeichnen. Auf die vom Facharzt depressionsauslösend genannten Ereignisse hat der Kläger bereits bei seiner persönlichen Anhörung hingewiesen. Die fachärztliche Stellungnahme enthält weitere Angaben darüber, seit wann sich der Kläger in ärztlicher Behandlung befunden hat bzw. noch befindet. Insbesondere ist der Beginn der ärztlichen Behandlungen und die erforderlich werdende und zur Anwendung gebrachte Therapie dargelegt. Auch lässt sich dem fachärztlichen Attest entnehmen, dass die vom Kläger geschilderten psychischen Beschwerden durch fachärztlicherseits durchgeführte Erhebungen bestätigt wurden. Das Attest gibt Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf in Form medikamentöser Behandlung und in der Sache gebotener begleitender Therapie. Das Gericht hat vor diesem Hintergrund keinen Anlass, an der Richtigkeit der fachärztlichen Aussagen zu zweifeln und daher auch keine Notwendigkeit gesehen, ein zusätzliches Sachverständigengutachten einzuholen.
Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass die schwergradige depressive Episode des Klägers behandlungsbedürftig ist. Ausweislich der ersten fachärztlichen Stellungnahme vom 6. Februar 2018 befindet sich der Kläger bereits seit dem 14. Februar 2017 in psychiatrischer Behandlung, deren Fortführung beabsichtigt und ärztlich auch indiziert ist.
Im Einzelfall hat das Gericht auch keine Zweifel, dass der Kläger die erforderliche Behandlung der bei ihm vorliegenden schwergradigen Depression in Afghanistan zumindest faktisch nicht mit hinreichender Sicherheit erhalten könnte. Zwar geht das Gericht nicht generell davon aus, dass psychische Erkrankungen in Afghanistan nicht hinreichend behandelt werden können, vielmehr ist jeweils eine Würdigung der Umstände des konkreten Einzelfalls erforderlich. Eine insoweit ausreichende Therapie für den konkreten Behandlungsbedarf des Klägers, nach fachärztlicher Auffassung neben einer medikamentösen Behandlung auch eine psychotherapeutische Maßnahme, steht nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnissen jedoch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit für den Kläger im Zielstaat tatsächlich zur Verfügung.
Ausweislich des Berichtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19. Oktober 2016 (Stand September 2016) findet die Behandlung von psychischen Erkrankungen (insbesondere Kriegstraumata) abgesehen von einzelnen Pilotprojekten nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Gleichzeitig würden viele Afghaninnen und Afghanen unter psychischen Symptomen der Depression, Angststörung oder posttraumatischer Belastungsstörung leiden. Lediglich in Kabul gebe es zwei psychiatrische Einrichtungen. Insbesondere notwendig werdende Folgebehandlungen seien oft schwierig zu leisten. Traditionell mangele es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie würden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen „behandelt“ oder es werde versucht, ihnen in einer „Therapie“ mit Brot, Wasser und Pfeffer den „bösen Geist auszutreiben“ (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes, a.a.O., S. 23, 24). Die multiple Erkrankung des Klägers aufgrund der Erlebnisse in Afghanistan und die Aussagen im Lagebericht des Auswärtigen Amtes zugrunde legend kann für den Kläger deshalb nicht mit hinreichender Sicherheit angenommen werden, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan zeitnah die für ihn erforderliche Psychotherapie erhalten bzw. fortsetzen kann.
Weiter ist zur Überzeugung des Gerichts davon auszugehen, dass sich die psychische Erkrankung des Klägers (schwergradige depressive Episode) ohne Behandlung nach einer Rückkehr nach Afghanistan alsbald und wesentlich verschlimmern würde. Bei einem Abbruch der Behandlung ist nach fachärztlicher Einschätzung auch eine suizidale Handlung im Rahmen einer schweren Störung beim Kläger naheliegend. Gemessen an dieser fachärztlichen Einschätzung, an der das Gericht keine Zweifel hat, ist festzustellen, dass sich die multiple psychische Erkrankung des Klägers bei einer Rückkehr nach Afghanistan verschlimmern würde. Aufgrund der fachärztlich festgestellten latenten Suizidalität ist auch mit einer wesentlichen, das Leben bedrohenden Verschlimmerung zu rechnen bzw. diese nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen.
3. Nach alledem ist auf Grundlage der vorgelegten psychologischen Stellungnahme, die auch die erforderliche Aktualität aufweist, nach Überzeugung des Gerichts davon auszugehen, dass dem Kläger ein Schutzanspruch im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zusteht, nicht nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Nrn. 4, 5 und 6 des Bescheides, die dieser Feststellung entgegenstehen, waren daher antragsgemäß aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung in dem nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahren beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO, wobei das Gericht zugrunde gelegt hat, dass die Klagerücknahme des Klägers die Hälfte des ursprünglichen Streitgegenstandes betrifft, während der Kläger hinsichtlich der weiter aufrechterhaltenen Klage vollständig obsiegt.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

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